Verlorene Gnade

Unter den amerikanischen Großschriftstellern ist er der fleißigste, und seine Beschreibungen sind so realistisch, dass man nicht einmal „metaphysisch“ davorsetzen möchte. Stewart O’Nan, früher Ingenieur der Luftfahrt, ist ein Spezialist für Arnericana und fürs Detail; er schreibt knappe Dialoge und lange innere Monologe. Seine Romane sind deshalb trotz unterschiedlicher Sujets stets Elegien über das Verschwinden einer Welt (und in ihr der Menschen).

Flotter Übergang: In „Alle, alle lieben dich“ (Rowohlt, 19.90 Euro) verschwindet die 19-jährige Kim im letzten Sommer vor dem College. Ob jemand vom Verlag O’Nan den deutschen Titel vermittelt hat, der wenig gemein hat mit „Songs For The Missing“? Die gemeinten Songs sind nämlich die falschen, so bei einer Trauerfeier für die Verschwundene der alte Schmachtfetzen „Somewhere Over The Rainbow“; auch die Band The Killers kommt beiläufig vor. Nachdem O’Nan akribisch Kims wahrscheinlich letzten Tag beim Dienst an der Tankstelle beleuchtet, verfolgt er die Suche nach ihr; die Verwirrung der Eltern, die zwiespältigen Gefühle der jüngeren Schwester Lindsay, das Elend von Kims Freund Ed, den sie betrogen hatte, und das Weiterleben der Clique. Der Roman spielt in der Provinz von Ohio, aus der die Jugendlichen entkommen wollen an ein möglichst renommiertes College -und wer nicht entkommt, der bleibt an der Frittenbude hängen. Kims Familie nutzt das Fernsehen und das Internet, um Spuren zu finden, die Polizei ermittelt pflichtschuldig, aber schludrig, und am Ende ist es der Spleen einer komischen alten Frau, der ihnen Gewissheit bringt. Da geht es nur noch um das Begräbnis. O’Nan verlässt Lindsay am Flughafen als ein Gesicht in der Menge, das weiterleben wird.

Es gibt hier keine bizarre Gewalt wie in skandinavischen Thrillern, keine verquasten Konstruktionen wie im britischen Kriminalroman. Noch beim Anblick des Autos, in dem Kim verschwunden war, verdrängt die Mutter den Gedanken an das Unabweisbare: den gewaltsamen Tod ihrer Tochter. Und bei jedem Barbeque erinnert der leere Platz daran, dass diese Menschen das Elementarste verloren haben: die Gnade eines Alltags.

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