Virginia Giuffre und Jeffrey Epstein: Was „Nobody’s Girl“ verrät

Giuffre fühlte sich allein, als sie sich gegen Epstein stellte. Ihre posthumen Memoiren machen den Schutz von Missbrauchsopfern zu einer gesellschaftlichen Aufgabe.

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Als Virginia Giuffre den berüchtigten Millionär Jeffrey Epstein öffentlich beschuldigte, sie als Teenager sexuell missbraucht und gehandelt zu haben, geriet sie in eine Welt aus Gerichtsverfahren, öffentlicher Beobachtung und psychischem Druck.
Ihre erste Klage reichte sie 2009 unter dem Pseudonym Jane Doe 102 ein – gegen Epstein und dessen enge Vertraute Ghislaine Maxwell. Giuffre war damals 16 Jahre alt. Sie warf den beiden vor, sie über Jahre „sexuell missbraucht, geschlagen, ausgebeutet und misshandelt“ zu haben.

Epstein, einst gefeierter Finanzier mit einflussreichen Kontakten, wurde zum Symbol systematischen Machtmissbrauchs. Für Giuffre bedeutete das internationale Rampenlicht jedoch eine zusätzliche Last. Am 25. April 2025 nahm sie sich im Alter von 41 Jahren in ihrem Haus in Australien das Leben.

Zuvor hatte sie an ihrer Autobiografie „Nobody’s Girl“ gearbeitet – einem Zeugnis über Überleben, Trauma und den Kampf, die eigene Stimme zurückzugewinnen.

Ein Leben zwischen Trauma und Wahrheit

In den Jahren nach ihrer Flucht aus Epsteins Umfeld wurde Giuffre zu einer der lautstärksten Stimmen im Kampf gegen sexuellen Missbrauch und Menschenhandel. Ihre Aussagen trugen wesentlich dazu bei, Epstein 2019 erneut anzuklagen – kurz bevor er tot in seiner Zelle aufgefunden wurde. Zwei Jahre später wurde Ghislaine Maxwell wegen Sexhandels und Verschwörung zu 20 Jahren Haft verurteilt.

Giuffres Buch wurde wenige Monate vor ihrem Tod fertiggestellt. In einer E-Mail an ihre Mitarbeiterin Amy Wallace bat sie darum, es auch im Falle ihres Todes zu veröffentlichen:

„Der Inhalt dieses Buches ist von entscheidender Bedeutung. Es soll Licht auf die systemischen Versäumnisse werfen, die den grenzüberschreitenden Handel mit schutzbedürftigen Personen ermöglichen.“

Die Kindheit: Gewalt als Normalität

Nobody’s Girl zeichnet Giuffres Leben von ihrer Kindheit auf einer Farm in Florida bis zu ihrer Arbeit als Aktivistin nach. Schon früh wurde sie – nach eigenen Angaben – Opfer sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater und einen engen Freund der Familie. Der Vater wies die Vorwürfe zurück.

Die traumatischen Erlebnisse führten zu Schulschwänzen, Drogenmissbrauch und schließlich zu ihrer Einweisung in ein Programm für „schwer erziehbare Jugendliche“ in Palm Beach. Giuffre beschreibt die Einrichtung als Ort psychischer und physischer Gewalt.

Mar-a-Lago: Der Anfang des Abgrunds

Nach ihrer Rückkehr nach Hause begann Giuffre im Jahr 2000 als Umkleidekabinenwärterin im Mar-a-Lago-Resort des späteren US-Präsidenten Donald Trump. Dort lernte sie Ghislaine Maxwell kennen, die ihr eine vermeintliche Karrierechance anbot – eine Anstellung als Masseurin für einen reichen Mann namens Jeffrey Epstein.

Der Termin in Epsteins Villa wurde zum Beginn jahrelangen Missbrauchs. „Das Schlimmste, was Epstein und Maxwell mir angetan haben, war nicht physischer, sondern psychischer Natur“, schreibt Giuffre.

Reisen, Kontrolle und Machtmissbrauch

Giuffre beschreibt, wie Epstein und Maxwell sie auf internationale Reisen mitnahmen, ihr den Reisepass wegnahmen und sie an prominente Männer „ausliehen“. Unter ihnen, so ihre Aussage, Prinz Andrew, der 2022 eine Klage Giuffres beilegte und sich 2025 endgültig aus dem öffentlichen Leben zurückzog.

Das Foto, das den Herzog von York mit Giuffre zeigt, sei laut ihren Angaben am 13. März 2001 entstanden – und wurde zu einem der belastendsten Beweisstücke im Epstein-Komplex.

Einen ihrer dunkelsten Momente beschreibt Giuffre in einer Szene auf Epsteins Privatinsel. Epstein und Maxwell hätten sie gedrängt, ein Kind zu bekommen – womöglich als Leihmutter.

„Ich war bereits gesundheitlich angeschlagen, aber die Vorstellung, ein Kind für diese Menschen zu bekommen, war unerträglich“, schreibt sie. Sie beschreibt diesen Moment als Wendepunkt, an dem sie begriff, dass sie fliehen musste.

Angst, Verfolgung, Schweigen

Auch nach ihrer Flucht fürchtete Giuffre um ihr Leben. Sie berichtet von einem Auto, das nachts vor ihrem Haus in Colorado parkte und mit grellem Licht in die Fenster leuchtete. Aus Angst zog sie mit ihrer Familie nach Australien.
Trotzdem blieb die öffentliche Aufmerksamkeit – und mit ihr das Trauma.

In Nobody’s Girl schildert Giuffre auch Gewalt in ihrer Ehe mit Robert Giuffre, den sie in Thailand kennengelernt hatte. Laut Vorwort ihrer Mitautorin Amy Wallace habe Giuffre wiederholt häusliche Gewalt erlebt – ein Thema, über das sie kurz vor ihrem Tod erstmals öffentlich sprach.

„Ich konnte mich gegen Epstein und Maxwell wehren. Aber ich konnte der häuslichen Gewalt in meiner Ehe erst jetzt entkommen“, sagte sie im April 2025.

Aktivismus und Vermächtnis

Trotz ihres persönlichen Leids gründete Giuffre 2015 die Organisation SOAR – Speak Out, Act, Reclaim, die Überlebenden sexuellen Missbrauchs eine Plattform bietet.

In ihrem letzten Kapitel schrieb sie:

„Ich sehne mich nach einer Welt, in der Täter mehr Scham empfinden als ihre Opfer. Wenn dieses Buch auch nur einer Person hilft, habe ich mein Ziel erreicht.“

CT Jones schreibt für den ROLLING STONE USA. Hier geht es zum US-Profil