Warteschleife

Es gibt CDs, die gibt's gar nicht: Die neue Verzögerungstaktik deutscher Plattenfirmen führt dazu, daß heiß gehandelte Debütalben aus England und USA erst dann bei uns erscheinen, wenn der Hype wieder vorbei ist. Aus guten Gründen.

Man soll nicht wegen jedem Mist gleich pathetisch werden, aber an manchen schlechten Tagen ist Claire die einzige Freundin, die einem bleibt. Claire, diese gute Seele, dieses Nordlicht über dem tosenden Strudel, durch den man sein mieses, kleines Kapitalistenleben steuern muß. Wenn sonst keiner mailt: Claire schreibt garantiert. Wenn nichts in der Post ist außer dem Faltblatt vom China-Mann: Claire hat an dich gedacht und einen ihrer schönen, frisch gefüllten, orangen Umschläge geschickt Claire@caiman.com, die offenbar ganz allein und heldenhaft den deutschen Kundendienst des Versandhauses Caiman America jongliert. Verzeihen Sie die Schleichwerbung, aber die meisten Kunden des sprichwörtlichen Internet-Händlers Amazon kennen Caiman sowieso – einen der dort integrierten sogenannten Marketplace-Stores, der (wörtlich von der hübsch übersetzten deutschen Caiman-Page zitiert) „einen umfangreichen Katalog von Neuheiten und seltsamen Produkten“ anbietet. Seltsame Produkte: CDs, DVDs, Bücher. Von Miami, Florida aus verschickt, für den pauschalen Portopreis von drei Euro pro Artikel. Als das bekannte Portal Allmusic.com letzten Herbst schon auf der Aufmacherseite von der kanadischen Barock-Pop-Band Arcade Fire schwärmte, als selbst eine übellaunig eingetippte Google-Suche dutzendweise begeisterte Online-Besprechungen des Arcade Fire-Albums „Funeral“ zu Tage förderte, da war Caiman America tatsächlich der einzige Laden, der einem irgendwie helfen konnte. In Deutschland war die Platte nicht erhältlich, bei Caiman bekam man sie – direkt aus Miami, Porto dazugerechnet – für zwölf Euro.

Ein halbes Jahr später, Mitte März 2005, gab es Arcade Fire auch im deutschen Elektro-Großhandel. Ein halbes Jahr auf eine tolle Platte warten, von der man nicht mal sicher sein kann, ob sie jemals kommt? Wer ab und zu gern ein bißchen schmissige Musik hört, müßte wissen, daß das völlig unvorstellbar ist. Natürlich haben wir versucht, für diesen Artikel Kontakt mit Claire aufzunehmen, um herauszufinden, wie es ihr so geht und was ihre persönliche Geschichte ist. Sie hat nicht geantwortet. Stattdessen hat sie uns die CD von The Duke Spirit geschickt und 17 Euro vom Konto abgebucht. So ist sie eben.

Die Quintessenz, zusammengefaßt: Die Zeiten, in denen man am Hafen auf die Seemänner warten mußte, die einem aus der salzigen Fischkiste heraus die neuen, heißen Platten aus England und Amerika verkauften, sind definitiv vorbei. So schnell und benutzerfreundlich wie die Informationen und die

illegalen Downloads fließen längst auch die materiellen Warenströme, und umso mehr wundert einen das: Warum scheinen die deutschen Plattenfirmen ausgerechnet bei den aufgeheizten Newcomer-Bands immer länger zu brauchen, um die CDs selbst herauszubringen? Warum lassen sie zu, daß alle wirklich Interessierten, die gern sinnlos Geld für Musik verschwenden, die Platte schon im Internet bestellt haben, wenn sie irgendwann doch noch im Schaufenster um die Ecke liegt, ganz überraschend und ganz arg zu spät?

In den Genres Americana und Indie-Rock fiel das bisher am stärksten auf. Auf Luanda Williams‘ „Car Wheels On A Gravel Road“ mußten die deutschen Freunde schon 1998 drei Monate warten, das Doppelalbum,, Gold“ vom bereits hochgelobten Ryan Adams erschien 2001 zuerst nur in den USA und Großbritannien – ein halbes Jahr später tauchten auch bei uns die bunten Anzeigen auf, in denen die gefühlsmäßig uralte Platte auch noch falsch als Adams‘ Debütalbum angekündigt wurde. Das Solo von Portishead-Sängerin Beth Gibbons (okay, weder Americana noch Indie-Rock) lief als Import hervorragend, während sich die deutsche Veröffentlichung immer weiter verschob und die Nerds vor Wut kochten, weil sie nicht mehr wußten, ob sie „Out Of Season“ nun in die Jahresbestenliste für 2002 oder 2003 nehmen sollten.

Mando Diao aus Schweden, Hot Hot Heat aus Kanada, The Shins aus New Mexico, alles natürlich keine Superstars, am Anfang sogar reine Nischen-Bands, aber man hörte überall von ihnen, bloß nicht bei Saturn. Am extremsten kam es kürzlich bei den Buzz-Monstern des -je nach Zählweise dritten oder vierten – Britpop-Sommers: Das Debüt der Futureheads brauchte für den Weg von England zu uns fast ein komplettes Jahr. Die Kaiser Chiefs, die in vielen Hinsichten aufregendste Gitarrenband der letzten Zeit, spielten im Mai eine zwar kleine, aber ausverkaufte Deutschland-Tour. Ihr Album „Employment“, im UK Mitte März erschienen, ist offiziell für Ende August angekündigt „Wir profitieren davon. Ich mag das. Ich beschwer mich zwar auch darüber, aber natürlich leben wir davon, etwas hipper zu sein als andere Läden“, sagt Volker Quante vom Berliner Plattengeschäft „Mr. Dead & Mrs. Free“. Wer in der Großstadt lebt, braucht das Internet nicht unbedingt – man ist dort aber auch den größten Versuchungen ausgesetzt, was neue Musik betrifft. So besprach eine Autorin des Stadtmagazins „tip“ die Debütplatte der amerikanischen Country-Folk-Sängerin Grey De Lisle ganz euphorisch. Quante: „Es kommt öfters vor, daß Leute bei uns landen, die auf der Suche nach einer bestimmten Platte schon durch die ganze Stadt gerannt sind. Von Grey De Lisle haben wir in relativ kurzer Zeit 100 Stück verkauft.“ 100 selbst importierte Exemplare, weil es die Platte in Deutschland nicht gab. Eine Menge, über die der Produktmanager eines Major-Plattenlabels beim Frühstück mal kurz kichert Allerdings: 100 Stück, allein in einem einzigen kleinen Laden in Berlin, ohne Anzeigen, mit ein bißchen freiwilliger Presse und vielleicht ein paar Einsätzen in den Berliner Radios, die bekanntlich so irre toll sind. Die „Dead & Free“-Leute freuen sich, daß ihnen die doofen Billigmärkte wenigtens hier keine Konkurrenz sind.

Muß man eine Platte wie Grey De Lisle denn überhaupt in Deutschland veröffentlichen, wenn die Nachfrage der wenigen Interessierten durch die Importe so schön bedient wird? Und warum findet man das Kaiser Chiefs-Album trotzdem schon zum normalen 15-Euro-Preis im Fußgängerzonen-Laden, obwohl es doch erst Ende August erscheinen soll?

Es wird also etwas komplizierter, und damit das hier jetzt nicht zu einem typischen, lahmen Branchenblatt-Artikel ausartet, erstmal ein paar interne Geheimbegriffe der Musikindustrie und was sie eigentlich bedeuten.

Erstens: „Platten einfach rausstellen“, wie im Beispielsatz „Wir haben die Platten einfach mal rausgestellt“. Das heißt: Der Vertrieb einer Plattenfirma liefert (wie im Fall der Kaiser Chiefs) CDs an einige Läden, obwohl die Werbung und Medien-Promotion für das Produkt noch nicht stattgefunden hat. Was strenggenommen bedeuten würde, daß niemand mitbekommen hat, daß es diese CD überhaupt gibt. Große Plattenfirmen tun das trotzdem, um – zweitens – „Importe abzufangen“. Sie wissen nämlich, daß die kleine (im Britpop-Bereich auf deutschlandweit 5000 Personen geschätzte) Spezialisten-Kundenschaft schon in der Auslands-Presse oder im Internet von der Platte gelesen hat und die Deutschland-Verspätung nicht abwarten wird. Viele von ihnen haben längst beim Mailorder bestellt, aber an die 2000 Exemplare lassen sich von einfach rausgestellten Platten verkaufen – wohlgemerkt CDs, die die deutsche Plattenfirma selbst importiert hat, an denen sie also weniger verdient „Want Two“ von Rufus Wainwright war am Anfang so ein Fall, weshalb die beigelegte DVD, ein US-Original halt, auf deutschen Playern ohne Tricks nicht lief.

Warum die Firma die Platte nicht gleich selbst preßt, die Werbung und Promotion rechtzeitig macht und die Importe einfach dadurch abfängt, daß sie die CD zeitgleich zum Ausland herausbringt, wenn der Hype noch warm ist? Entscheidende Frage. Die einen sagen: Weil sie mit Recht vorsichtig ist und erst abwarten will, ob – dritter Fachbegriff- „es draußen zuckt“ und das Interesse groß genug ist. „Weil es in den großen Firmen einen riesigen Info-Verlust gibt. Die Produktmanager bekommen Veröffentlichungs-Pläne aus England und Amerika auf den Tisch, da taucht irgendein neuer Name auf, den sie überhaupt nicht zuordnen und einschätzen können“, vermutet ein Insider, der nicht genannt werden will. Weil manche Bands ihre Interviews für die deutsche Presse nicht rechtzeitig geben können – und man deshalb mit der regulären Veröffentlichung lieber warten will, bis die Artikel erschienen sind, sagen Promotion-Leute. Und manche Produktmanager erklären, daß eine fein austarierte Strategie dahinter steckt Das ist die interessanteste Antwort. Moritz Trapp, Produktmanager bei Universal in Berlin, entschuldigt sich vorab für die Schnodderigkeit und sagt dann: „Ihr wißt zuviel! Ihr seid sowas von betriebsblind für den Markt!“ Neulich sei er mit der von ihm betreuten Band Keane bei einer Fernseh-Show gewesen, hinterher habe ihn ein prominenter TV-Mann angesprochen, dessen Namen er leider nicht verraten mag: „Super, die Musik. Hab ich noch nie gehört“ Ein Jahr nach Erscheinen der Keane-Platte, die kurz vor der Gold-Verleihung für 100 000 Verkäufe steht „Daran sieht man doch, wie lange es dauert, bis eine Band sogar bei einem Musik-affinen Publikum ankommt Wir haben so viel für Keane gearbeitet, aus unserer Sicht ist niemand an diesem Thema vorbeigekommen. Stimmt aber nicht!“

Anders gesagt: Wenn selbst eine geschmeidige Gruppe wie Keane so lange braucht, bis sie ins schmale Aufmerksamkeits-Feld der Leute rutscht, die die Platte kaufen sollen – wie lange brauchen dann erst die Kaiser Chiefs? Aus anderen Quellen hört man, daß Universal zuletzt von den Verkäufen einiger vielversprechender Hot-Bands enttäuscht wurde. The Rapture, Razorlight, selbst die Scissor Sisters haben bei uns jeweils deutlich weniger als 10 000 Platten verkauft. Was unter anderem daran lag, daß die Alben zu schnell und ohne ausreichende, Deutschland-spezifische Vorarbeit auf den Markt gebracht wurden, vermutet das Marketing: Hier dauert alles viel länger ab in England, wo jeder BBC hört. Daß man den ersten Hype lieber verpaßt und die Insider die Köpfe schütteln, nehmen die Deutschen in Kauf.

Als leuchtendes Vorbild nennen alle, die man fragt, die Band Franz Ferdinand. So muß das laufen, erste Single, Presse, zweite Single, Radio und Fernsehen, Debütalbum, goldene Schallplatte. Nur: Die Franz Ferdinand-Platte ist, bei der kleinen Firma Domino, in England und Deutschland am selben Tag herausgekommen. „Da fragst du einen Koch, ob er sein Geheimrezept verrät“, sagt der deutsche Ferdinand-Produktmanager Lubos Mozis. „Es hat damit zu tun, daß ich für ein kleines Label arbeite, das sehr flexibel ist Wir waren von Punkt Null an dabei, auch in Deutschland, und hatten schon deshalb einen langen Vorlauf. Die Band hat allen Input selbst geliefert und sich außerdem für den klassischen Weg entschieden, einfach viel zu spielen. Es gibt Situationen, in denen es marketingtechnisch sehr ungünstig wäre, das Erscheinen einer Platte zu verzögern.“

Bei Adam Green, dem anderen überraschenden Indie-Hit, hat es ein bißchen länger gedauert. Nach allein vier kleinen Deutschland-Tourneen im vergangenen Jahr erreichte das zweite Album jetzt schon knapp fünf Monate nach Veröffentlichung (die früher kam als in England und USA!) die Goldene Schallplatte – Künstler, die so pflegeleicht und dazu auch noch beliebt sind, machen es dem Londoner Rough Trade-Label beneidenswert leicht. Rough Trade hat übrigens auch Arcade Fire zu verantworten. Die nur deshalb bei uns so spät veröffentlicht wurden, weil die Band für Großbritannien und Europa erst einen neuen Lizenzvertrag für ihre Platte aushandeln mußte, so ist das im Zwergenreich der Popmusik.

Bald will Rough Trade auch Antony & The Johnsons in Deutschland herausbringen. Steht schon im Laden? Ist ein US-Import. Je länger man darüber nachdenkt, desto egaler wird es einem, was wann wo wie spät erscheint. Alles ist erhältlich.

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