Was aus uns geworden ist

Der Comic "The Walking Dead" stellt das Gefüge unserer Gesellschaft in Frage.

„When there’s no more room in hell, the dead will walk the earth.“ Ist das wirklich der Grund dafür, dass die Untoten schon wieder ein unvergleichliches, pardon, Revival erleben? Ist die Hölle schlichtweg ausgebucht? Der vermutlich meistzitierte Satz des modernen Horrorfilms – er stammt aus George Romeros „Dawn Of The Dead“ – gibt keine Auskunft darüber, was die Faszination dieses Genres ausmacht. Auf einer sadistischen Ader des Zuschauers allein mag sie hoffentlich nicht beruhen, wie es der Boom des sogenannten Torture Porn der Marke „Saw“ nahe legt. Das Horror-Genre scheint wie eine Art Konfrontationstherapie zu funktionieren: Wir setzten uns im geschützten Raum der Fiktionalität unseren ureigenen Ängsten aus. Und da der Furchtsamkeit keine Grenzen gesetzt sind, ist selbstredend für jeden etwas dabei.

Wer, wie es wohl zur Entwicklung des Teenagers gehört, das erste Mal gleichermaßen herbeisehnt wie fürchtet, darf in der „Twilight“-Serie von Stephenie Meyer einem keuschen Vampir verfallen. Wer eingedenk der vermeintlich pandemischen Bedrohungen von SARS, Vogel- und Schweinegrippe allerorten die Ansteckung mit einer tödlichen Krankheit wittert, fiebert mit Ephraim Goodweather. Als Chef der New Yorker Seuchenpräventionsteams hat er das plötzliche Massensterben in einem Flugzeug aufzuklären.

Goodweather ist der Protagonist in Guillermo del Toros und Chuck Hogans Roman „Die Saat“, dem Auftakt einer Trilogie, in dem sich die Autoren die grassierende Furcht vor einem Terroranschlag mit biologischen oder chemischen Waffen zunutze machen. Dass es am Ende beziehungsweise an der Oberfläche doch wieder nur um jahrhundertealte Blutsauger geht – sei’s drum.

Das wahrhaftige Sinnbild einer Epidemie wiederum stellt seit 1968 die Figur des Zombies dar. George Romero lieferte mit dem unterschwellig sozialkritischen Low-Budget-Streifen „Night Of The Living Dead“ die Folie für alle folgenden Vertreter eines nicht tot zu kriegenden Subgenres. Anders als in früheren Filmen, die vereinzelt Zombies auf die Leinwand brachten, geht es bei Romero jedoch nicht mehr um einen an obskure Voodoo-Kulte geknüpften, zumeist rassistisch ausformulierten Mythos. Bei ihm tritt vielmehr die entindividualisierte, träge Masse in Form der Zombie-Apokalypse auf, unmenschlich, irrational und beinahe übermächtig. Die explizite Gewalt des Films wiederum muss vor dem Hintergrund des Krieges in Vietnam, der Bilder des realen Grauens täglich über den Fernsehschirm flimmern ließ, metaphorisch verstanden werden. Romero zeichnet damit das blutige Porträt einer dem Untergang geweihten, materialistischen und egoistischen Gesellschaft, die auf unangenehmste Weise dem Verdrängten ihres kollektiven Unterbewusstseins begegnet.

Soweit ist es in Wirklichkeit nie gekommen; es scheint allerdings symptomatisch, dass die Zombie-Invasion seit einigen Jahren – der naheliegende Einschnitt ist wohl 9/11 – wieder eine wichtige Rolle in der Populärkultur spielt. Ob parodistisch wie in „Shaun Of The Dead“, ob raffiniert und literarisch durchdacht wie in Doug Dorsts Debütroman „Alive in Necropolis“ oder nunmehr schnell und gewohnt blutrünstig wie in „28 Days Later“, der lebende Leichnam zeigt überall seine hässliche Fratze. Am konsequentesten knüpft jedoch der Comic-Autor Robert Kirkman mit seiner in den USA seit 2003 erscheinenden Serie „The Walking Dead“ an Romeros Tradition an. Ursprünglich wollte Kirkman nur aufzeigen, wie es nach dem Ende all der Zombiefilme, die er gesehen hatte, eigentlich weitergeht. Schließlich veranlasse uns dieses Genre, „unser gesamtes Gesellschaftsgefüge in Frage zu stellen“, wie er im Vorwort zu Band 1 schreibt. Er wolle in dem Versuch einer möglichst naturgemäßen Abfolge von Ereignissen „herausfinden, wie Menschen mit Extremsituationen umgehen und wie sie sich dadurch verändern“. Zu diesem Zweck verfolgt er das (Über-)Leben des ehemaligen Polizisten Rick Grimes, der nach einer Schussverletzung allein im Krankenhaus erwacht und eine menschenleere Welt vorfindet. Seine Familie ist vor den höllischen Heerscharen hungriger Wiedergänger geflohen, doch Grimes gelingt es, seine schwangere Frau Lori und ihren gemeinsamen Sohn Carl wiederzufinden. Nach diesem klassischen, zwischenzeitlich brutalen Einstiegsszenario konzentriert sich Kirkman indes auf sein ursprüngliches Anliegen. Er zeigt, wie eine Gruppe von Menschen – zurückgeworfen auf das, was wirklich wichtig ist – ums Überleben kämpft und sich schließlich in einem Gefängnis mitsamt einiger ehemaliger Insassen verschanzt. Dabei wirken im klaustrophobischen Ambiente der Haftanstalt, suggestiv eingefangen von Zeichner Charlie Adlard, die zwischenmenschlichen Konflikte zuweilen gefährlicher als die Zombie-Horden vor verschlossenen Sicherheitszäunen. In Deutschland erscheint nun Band 10 von „The Walking Dead“ unter dem Titel „Dämonen“ (Ctoss Cult, 16 Euro): Rick Grimes, traumatisiert von den zurückliegenden Ereignissen, ist mit Carl unterwegs nach Washington D.C., wo sie hoffen, den Grund für die geheimnisvolle Seuche zu finden. Auf ihrer Reise stellt sich einmal mehr die Frage, ob die grausamen Geschehnisse, an denen sich mancher Leser zunächst delektieren mag, die Menschen mittlerweile unmenschlich gemacht haben. „What We Become“ lautet der Originaltitel dieses Bandes – er allein deutet bereits daraufhin, dass es hier um mehr geht als die plumpe Inszenierung der Hölle auf Erden.

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