Wenn Willy wüsste

ALS WILLY BRANDT BUNDESKANZler war/hatte Mutti noch goldenes Haar/waren Cindy und Bert noch ein Paar/als Willy Brandt Bundeskanzler war“ (Funny van Dannen, 1995).

So ähnlich war es wohl. Anders nämlich: Sozialdemokraten („Sozen“) und Journalisten („Journaille“) qualmten sich überall die Hucke voll, ob im Fernsehen, im Zug oder in der Parteizentrale. Die Geste des Jahrzehnts war ein Kniefall, kein Stinkefinger. Die SPD bekam 45,8 %der Stimmen, und musste sich nicht in die Koalition hineinkompromittieren. Der Slogan „Willy wählen“, zusammen mit einem medioker psychedelischen Lettering, hatte der Partei 1972 ein zweites Mal den Sieg beschert, und ganz bestimmt lag es nicht nur an der Alliteration: Mit der bekloppten Aktion „Wir wollen Wurst“ gegen den angesprochenen „Veggie-Day“ der Grünen katapultierte sich die FDP nämlich bei der letzten Wahl trotz Alliteration zu Recht dahin, wo sie hingehört.

Zudem klang der Name „Willy“, den der gebürtige Herbert Frahm sich selbst gegeben hatte, um Längen besser als der Kosename „Angie“, der tatsächlich kaum benutzt wird, genauso wenig wie „Telespargel“ für den Berliner Fernsehturm. Und erst recht besser als „Mutti“, der ebenfalls nur im aktiven Wortschatz von Käseblattjournalisten zu finden ist. (Vgl. das „Mutti“ im Songtext oben, dort noch als Sinnbild für die in den 50er-und 60er-Jahren sozialisierte Hausfrau. Vgl. auch den angeblich in Großbritannien kursierenden Spottnamen „Eiserne Mutti“.) Damals, als Willy Brandt (noch so eben) Bundeskanzler war, wurden Politiker von echten Spitzeln ausspioniert, nicht über angezapfte Handys und abgefangene E-Mails. (Sie traten dann auch in echt zurück.) Und Raider hieß noch nicht Twix, sondern kam erst 1976 auf den Markt. Da war Brandt sein Amt ohnehin schon seit zwei Jahren los.

Ach ja. Würde Brandt noch leben, und am 18. Dezember mit viel Tamtam, öffentlich-rechtlichen Sondersendungen und Getöse seinen Hundertsten feiern, vielleicht hätte er zu den SPD-Knallern der vergangenen Jahre ein paar Streifen basissozialdemokratischen Senf dazuzugeben, und diverse Parteireinfälle (Bundestagswahl, Steuerstreit, Flughafen – als ehemaliger Oberbürgermeister hätte er auch das geklärt, der hieße dann Brigitte-Mira-Flughafen und wäre längst in Betrieb) verhindern können. Er hätte Steinbrück und Steinmeier eingenordet (der eine hat keine Lust mehr auf Politik, der andere hat gerade die vermaledeiten Doktorarbeitsprüfer zu Hause). Und wer weiß, für wen Oskar Lafontaine heute im saarländischen Landtag säße.

Garantiert würden längst Brandt-Bonmot-Sammlungen zum Thema Internet kursieren, das ein Jahr vor seinem Tod im Jahre 1992 aufpoppte: „Das Internetz hat einen doppelten Boden“ etwa, oder „Ich vermisse die Zeit, als man mit links noch eine Anschauung meinte, und nicht Hinweise auf weiteres unnützes Wissen“. Aber auch ein paar Nachteile hätte man in Kauf nehmen müssen. In den letzten zwei Jahrzehnten wäre er alle fünf Jahre abwechselnd von Sandra Maischberger und Guido Knopp interviewt/porträtiert worden. Ganz zu schweigen von den vielen Günter-Grass-Artikeln, die ebenfalls allfünfjährlich erschienen wären.

Es ist eben doch schon sehr lange her, dass Willy Brandt Bundeskanzler war. So lange, dass CD längst wieder Seife ist. Und dass außer dem Frontalunterricht-Bashing, außer dass man mit einer 6 in Sport nicht mehr sitzenbleibt, und die Rechtschreibreform, gepaart mit dem neuen Stoffvermittlungssystem, Kindern seit Jahren die Pisaergebnisse verhagelt, die Bildungsreform steckengeblieben ist. Und sogar der 1969 propagierte SPD-Slogan „Wir haben die richtigen Männer“ kommt zwar nicht mehr auf die Plakate, wird aber weiterhin gelebt (vgl. Frauenquote, vgl. Nebenwiderspruch). Vielleicht wäre das dem bis zum Ende seines Lebens stramm sozialdemokratisch denkenden SPD-Mann, der Mauerbau und Mauerfall, Sommer der Liebe und heißen Herbst, AKW-Demos und Tschernobyl miterlebt hat, tatsächlich mit der Zeit aufgefallen. Denn wie sang Kinky Friedman einst, jedenfalls so ähnlich: „They ain’t making politicians like Willy anymore.“

Im nächsten Heft kommt der Typewriter wieder von Uwe Kopf.

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