Wild auf Indianerhaut

Juni 1995 Nicht immer hatte der lebenslange Vorsitzende der Flexibel-Betriebe so glückliche Zeiten wie heute. Anlässlich seines Album „Kosmos“ musste sich Udo als ein Gestriger verteidigen, der weibliche Brüste als „Gazellen“ bezeichnet.

Hey, Du kannst ja mit dem Hut wackeln!

Ja, lange geübt, ich bin auch ziemlich stolz drauf. Du bist einer der wenigen, denen es auffällt.

Funktioniert das durch Rotation der Haarwurzeln?

Nein, das ist eine Automatik. Durch Strahlung, durch Vibration, durch Hitzewallung. Mal kieken, vielleicht können wir im Laufe der Vorstellung bis zum Ohrenwackeln vordringen.

Was findest du besonders klasse an deinem neuen Album „Kosmos“?

Ich finde alle meine Platten klasse. Zumindest wenn sie gerade ready waren; unsteil, aber gut. Das ist wie ein Foto-Album mit Schnappschüssen für einen bestimmten Zeitraum. Natürlich könnte man manchmal nachträglich die Dumpffrequenz entdümpfeln.

Musikalisch ist es mehr denn je durcheinander: aktuelle Beats, antiquierte Streicher. Crossover oder Orientierungslosigkeit?

Na ja, Gesetzesbrecher war ich immer schon gern, ich bin ein Meister des Stilbruchs. Trotzdem glaube ich, dass auch durch die Mitjonglage der Stöer Bros. ein Werk aus einem Guss entstanden ist, eine ziemlich homogene Angelegenheit, basierend auf verschiedensten Elementen und Grooves und, und, und. Ich finde die Begegnung von unterschiedlichsten Elementen, Atmosphären wichtig. Mixturen, Collagen, Gemache.

Auf der neuen Platte wird viel mit Background-Gesang gearbeitet. Reicht die eigene Stimme nicht mehr aus?

Doch, nur haben die zufälligerweise etwas andere Stimmen, und ich finde, das mischt sich ganz gut, das veredelt einander.

Magst du nicht auch deine alten Lieder lieber, bei denen die Stimme noch in höhere Regionen aufstieg?

Das war in meiner Kastratenphase, ich habe das später irgendwie alles zurückbauen lassen und seitdem habe ich wieder diesen tiefen Wohlklang, diesen Lindenbergschen Bass-Bariton.

„Gott ist auf XTC“, singst du. Worauf ist Udo?

Na, das weiß ja jeder, dass ich das alkoholische Getränk bevorzuge, zuweilen.

Begünstigen gewisse Rauschzustände den kreativen Output?

Der sinnvolle Umgang mit Drogen erscheint mir wichtig. Also die vernunftbetonte Dosierung.

Früher war der Hut ein Statement. Heute ein Haarersatz?

Mein Hut, der steht mir gut. Der symbolisiert ja auch meine Nichtbereitschaft, ihn zu ziehen vor den meisten Menschen.

Setz ihn doch mal ab!

Nee, so weit sind wir jetzt noch nicht.

Und die Sonnenbrille bei Nacht – Star-Allüre oder Schutz?

Ich habe sehr empfindliche Augen. Und außerdem bewahre ich mir so meine Intimsphäre. Ich habe viel Freude daran, mit mir selber zusammenzusein, ohne Hut und Brille fühle ich mich zu öffentlich. Ich fühle mich sowieso ständig observiert, alles tuschelt, da ist es naheliegend, sich etwas zu schützen.

Deine neueren Werke sind introvertierter: Es geht um deinen eigenen Kosmos, weg von allgemeinen Aussagen.

Im Moment ist es wegen der Unübersichtlichkeit der politischen Lage einfach sehr schwierig, den kollektivistischen Schub wieder in Gang zu kriegen. Viele der Kollegen, die sich früher an Dingen wie „Künstler in Aktion“ beteiligt haben, sind inzwischen auf Isolier-Inseln tätig. Das schnelle Telefon, lass mal was machen, das gibt’s nicht mehr.

Du machst zuweilen einen etwas abgehalfterten Eindruck. Bist du gewisser Thematiken überdrüssig? Die Welt wird ja doch immer noch schlimmer.

Ich werde nicht resignieren, das ist ja völlig klar, aber es ist nicht immer ganz leicht, optimistisch zu bleiben. Man wird ständig konfrontiert mit einer apolitischen Haltung gerade auch bei jüngeren Leuten, das ist natürlich eher enttäuschend als ermutigend. Aber es ist auch nicht gerade ein Drama, weil ich glaube, dass es eine vorübergehende Angelegenheit ist. Trotzdem scheint sich der Popsong als Transportmittel für die frohe Botschaft aus dem Underground etwas abgenutzt zu haben.

Ist das Alter eine Last oder eine Art Medaille für dich?

Gibt es eine Alternative? Viele Jüngere sind ganz wild auf Indianerhaut. Jünger zu sein ist kein Verdienst, sondern Zufall.

Gehen denn die wilden Zeiten niemals zu Ende?

Leben als ewige Wanderung, als ewiger Aufbruch, als Abenteuer – daran hat sich für mich nichts geändert. Wenn einer eine Reise tut, nicht? Alles, was hinzukommt, sind Veredelungsmaßnahmen. Und meine Jugend bleibt ja bestehen, die amputiere ich ja nicht weg. Bei mir ist das so wie Ebbe und Flut, der Lindische Ozean.

Trotzdem thematisierst du permanent die Sehnsucht nach Jugend.

Viele Leute tun so, als wären sie nie jung gewesen. Das finde ich so abtörnend, die verraten alles, was sie sich früher mal vorgenommen haben. Das, wofür sie mal in Flammen gestanden haben, ist jetzt völlig erloschen, aber bei mir ist das noch voll da.

Und indem du Leute wie Lukas Hubert oder die Prinzen förderst, erweist du der Jugend die Ehre, in der Hoffnung, dass ein wenig von ihrer Frische auf dich abfällt?

Ich feature bevorzugt jüngere Leute, weil es von den Älteren ja wirklich jede Menge gibt. Die, die in Deutschland Erfolg haben, sind ja wirklich alle vom Rentnerverband. Westernhagen, Grönemeyer, Niedecken, Maffay, Kunze.

Und die zahlreichen alten Macher waren es ja auch, die im letzten Jahr anlässlich deines Bühnenjubiläums via Hommage-CD den Hut vor Dir zogen. Das roch ein wenig nach Beerdigung, oder?

Das war es für mich überhaupt gar nicht. Eher so eine Art Zwischenbilanz auf halbem Wege. Eine Beerdigung ist dann angesagt, wenn jemand aufhört.

Was wäre denn für dich ein triftiger Grund, mit der Musik aufzuhören?

Wenn ich keine Lust mehr habe. Aber dieses zickige Unverständnis, dass Popkultur ausschließlich Jugendkultur ist, das ist Blödsinn.

Also wird man nie zu alt, um Brüste als „Gazellen“ zu bezeichnen?

Bist Du etwa 49? Meinst du, mit 49 kann man sich nicht mehr vorstellen, wie Brüste gazellenhaft durch wunderschöne Landschaften hüpfen?

Hm, ungewöhnlich!

Bei mir ist vieles ungewöhnlich. Ich will auch mit 69 noch singen, wie schön so Brüste sind.

Benjamin von Stuckrad-Barre wurde 1995 Redakteur beim ROLLING STONE und blieb dem Blatt auch nach seinem Erfolg mit dem Roman „Soloalbum“ (1998) als Autor verbunden.

Die Story zur Story

Benjamin von Stuckrad-Barre ging damals oft durch den Hamburger Hauptbahnhof – genau wie Udo Lindenberg, der dort häufig an einem Sushi-Stand einen schnellen Imbiss zu sich nahm. Man kannte sich vom Sehen, und Udo kratzte sich manchmal am Hut: „Kombiniere, kombiniere …“ Schließlich fand das hier nachgedruckte offizielle Interview statt. Zehn Jahre später wurden die beiden Freunde; Lindenberg nennt den Autor heute „Geheimrat“.

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