WIR WOLLEN NUR SPIELEN

Wo steht das Theater eigentlich heute? Können deutsche Bühnen eine Alternative sein zu Kneipe, Kino, Couch oder Konzert? ROLLING STONE hat in München, Hamburg, Leipzig und Köln nach Antworten gesucht. Vorhang auf!

Kino oder Kammerspiele? Lange keine Frage. Aber nach der 50. Comic-Verfilmung und den anscheinend die Kreativität tötenden Autorenstreiks in Hollywood wünscht man sich schon mal wieder einen neuen Kick, während man im Sessel sitzt und beidhändig im Popcorneimer gegen Unterzuckerung kämpft. Sollte man seine kulturmüden Knochen in der nächsten Spielzeit, die im September beginnt, doch mal wieder ins Theater schleppen?

Wir haben am Ende der vergangenen Theatersaison nachgeschaut, ob das Schauspiel in Deutschland tatsächlich noch lebt und die Hymnen stimmen, die in den Feuilletons gesungen werden, sobald eine Mimin vom Theater zum „Tatort“ am Sonntagabend wechselt, oder ob das nicht doch längst eine Zombie-Veranstaltung geworden ist, was da auf deutschen Bühnen passiert. Wir sind durch Deutschland gereist, haben uns Sandra Hüller im René-Pollesch-Stück „Gasoline Bill“ angeschaut, mit dem Autor der gefeierten Occupy-Utopie „am beispiel der butter“, Ferdinand Schmalz, gesprochen, haben nachgeschaut, wie hell die Mülltonnen in Jette Steckels „Die Ratten“ am Hamburger Thalia Theater brennen und was es auf sich hat mit „Kabale und Liebe“ und „Kippenberger“ im Kölner Schauspielhaus. Das Theater-Ding muss ja zu packen sein, einmal kopfüber rein – also raus – in die Bühnenwelt, die im „Spiegel“ immer ganz hinten und selbst beim öffentlich-rechtlichen Bildungsauftragssender ZDF nur spätabends stattfindet. Über allem steht die Frage, was dran ist am Bühnen-Hype um volle Häuser, große Stücke, neue Ideen, ob umgesetzt wird, was der Hamburger Intendant Tom Stromberg bereits 2000 forderte: „Das Schauspielhaus muss die beste Kneipe der Stadt sein.“

Wer in die populäre Musik eintauchen will, startet etwa mit „Abbey Road“, der Sixtinischen Kapelle des Pop, und landet erst später bei coolem Geheimwissen wie den Monks. Wer 2014 ins Theater einsteigt, geht sicher bei René Pollesch, der jetzt in den Münchner Kammerspielen inszeniert, direkt gegenüber des im Netz euphemistisch „nicht ganz billig“ apostrophierten Ralph-Lauren-Shops in der edlen Maximilianstraße. Dort wird „Gasoline Bill“ gegeben, mit der alles überstrahlenden, mit jedem guten Preis bedachten Sandra Hüller in einer der Hauptrollen. Die Besprechungen waren durchweg positiv.

Drinnen gibt es Kapitalismuskritik, draußen Käseteller und Aperol-Spritz. Die Theatergastronomie besteht aus Schäumchen und Sößchen und Fingerfood. Eigentlich sollte hier das Perlende in 80er-Jahre-Flöten gereicht werden wie in „Kir Royal“. Luxuriös angeschickert im Gemüt sitzt man später im erstaunlich niedrigen Saal, blättert um 19.20 Uhr im Kammerspiel-Programmheft zu „Gasoline Bill“, während die Beastie Boys etwas zu laut andeuten, dass gleich weder Kabale, noch Liebe zu erwarten sind. Diese Programmhefte erklären nie irgendwas. Feuilletonphilosoph Slavoj Žižek wird zitiert. Es gibt ein kurzes Interview mit Autor und Regisseur Pollesch, in dem es um „lässige coole Kapitalistenschweine“ wie Mark Zuckerberg, Bill Gates und Steve Jobs geht. Kostet zwei Euro, ist unterhaltsamer als diese „McDonald’s“-Filmzeitschrift, und wenn man dann weiterblättert, steht auf einer kompletten Seite deutlich in Majuskeln „INTERGALACTIC“, anschließend zwölf Mal, Zeile unter Zeile „another dimension“, „another dimension, another dimension, another dimension“ usw. Daneben eine Fotografie aus dem Stück. Die zeigt Sandra Hüller mit Cowboyhut und blonden Locken.

Die Schauspielerin wirkt schon auf dem Papier wie eine sprungbereite Gegenfigur zu jener manischdepressiven Michaela Klingler aus der katholischen Provinz im Kinofilm „Requiem“ von Hans-Christian Schmid, mit dem sie bekannt wurde. Neun Jahre ist das her, damals war sie Geheimtipp-Mimin und bekam anschließend neben dem Bayerischen Filmpreis auch den Preis der deutschen Filmkritik, den Silbernen Bären auf der Berlinale und den Deutschen Filmpreis.

Drinnen gibt es Kapitalismuskritik, draußen Käseteller und Aperol-Spritz Theatergastronomie besteht aus Schäumchen, Sößchen und Fingerfood

„Die Preise waren für mich immer eine große Überraschung, ernsthaft“, sagt Sandra Hüller nach der Vorstellung. „Das habe ich ja alles nicht kommen sehen. Da habe ich immer einfach meine Arbeit gemacht. Ich wusste wirklich nicht, dass es so etwas gibt. Ich komme aus der totalen Provinz.“ Die totale Provinz heißt Suhl und liegt in Thüringen. Dort wurde mit Corinna Harfouch noch eine andere große Schauspielerin geboren, um später schlimme Haarschnitte in deutschen Filmen tragen zu müssen.

Zu Beginn von „Gasoline Bill“ treten zwei Schauspielerinnen (Katja Bürkle, Sandra Hüller) und zwei Schauspieler (Benny Claessens, Kristof Van Boven) nah an den Bühnenrand. Sie steigen in den Zuschauerraum. Sie zünden sich Kippen an, um dann dazustehen, rauchend, diskutierend -über „diese toxischen Subjekte. Man weiß ganz genau, dass sie es nicht können, und dann lässt man sie trotzdem ran. Sie sind immerhin besoffen. Warum denke ich dann trotzdem, ich müsste ihnen in diesem Moment eine Chance geben? Warum denken sie, sie hätten eine verdient? Ja, vielleicht morgen, wenn sie wieder nüchtern sind und auch nicht sonderlich begabter. Aber warum, ausgerechnet, lass ich sie an meine Wimpern und an meine Haare in diesem desolaten Zustand, in dem sie sind? Erwarte ich mir ein Wunder? Sie! Glauben Sie nicht, dass ich nicht zu schätzen wüsste, was Sie für mich getan haben. Aber ich kann damit nicht umgehen, das ist mir einfach zu toxisch. Es gibt zweierlei Arten toxischer Subjekte. Und diese hier, die völlig unfähig waren, mich anzuziehen und die Vorstellung in Gang zu bringen, es aber trotzdem taten, war die eine Sorte.“ Monstertextfläche.

„Gasoline Bill“ erzählt in einer Dauerdiskussion ohne Vorhang auf, Vorhang zu, in einer einzigen durchlaufenden Szene, wie wir damit aufhören könnten, alles verstehen zu wollen. „Gasoline Bill“ erzählt, wie wir uns jedes Gegenüber unnötig klein machen, indem wir immer etwas von uns darin sehen und was das überhaupt mit dem Jetzt zu tun hat. Auf der Bühne mit den schillernden Disco-Lametta-Fäden und dem teilweise tobenden Cast ist dieses Parolen-Gewitter mindestens bewusstseinserweiternd.

„Gasoline Bill“ ist ein basslastig-lautes Stück gegen das ständige „OK“ im wohltemperiert langweiligen Ton, das Leute auf Partys statt des früher üblichen Nickens einwerfen. „Ohh Key“ sprechen sie es dann aus, als sei jede Aussage ein Barcode, der über den Scanner im Discountmarkt gezogen wird.

Es gibt in „Gasoline Bill“ keine konstanten Figuren. Es gibt keine Hollywood-Handlung. Es gibt ganz viel Gerede und die Vorgabe von René Pollesch, „dass die Schauspieler sich den Text nicht aneignen müssen. Sie müssen nicht irgendwann so tun, als wären es ihre Texte, sondern ich muss Texte schreiben, die für sie zu gebrauchen sind.“ Es ist also Theater ohne Vorhang und ohne Zwang, weil Diskussionen nicht auswendig gelernt, sondern tatsächlich diskutiert werden sollen. Klingt irre wirr, bis man darüber nachdenkt, dass jede politische Talkshow so funktioniert: Der Urtext eines jeden Politikers ist immer schon da, und wenn die Kamera läuft, werden die Diskussionen auch nur simuliert. Es wird sowohl diskutiert als auch inszeniert. Längst Feststehendes wird als monologisierende Textfläche in die Kamera, zu den Zuschauern gepostet – und geposed.

„Gasoline Bill“ ist schlau. Es kommt mit einer bef reienden Tanzeinlage zu Daft Punk, die gerade en vogue zu sein scheinen, wenn modernes Theater gemacht wird. Das französische Disco-Duo wird später noch hier und da auftauchen. „Gasoline Bill“ nimmt die Jetztzeit volley, ist unfassbar rasant, ohne dieses Pissen, Brüllen, Kotzen, das man gemeinhin mit zeitgenössischem Theater verbindet und das doch sowieso nicht in die Alltagsrealität eines Menschen mit Sinn, Studium, Hamster, Beruf gehört.

Es wird in den kommenden Wochen häufiger vorkommen – in Leipzig, Köln, Hamburg -dass auf einmal in 3D, in der sogenannten Realität, im Theater, das man ja riechen, auch schmecken, wie in Echt wahrnehmen kann, dass dort auf spektakuläre und spekulative Weise die Wirklichkeit verrückt, erweitert, umgestoßen wird, dass einem der Mund offen stehen bleibt. Und „Gasoline Bill“ ist anderthalb Stunden lang wirklich gute Unterhaltung für alle -bis auf jene drei, die den Saal verlassen.

„Ach, vielleicht hat denen auch einfach der Rauch nicht gefallen“, sagt Sandra Hüller später. „Man weiß ja nie, warum Leute gehen. Vielleicht müssen sie tierisch aufs Klo oder sie haben einen Anruf vom Babysitter gekriegt oder so. Da gibt es tausend Gründe. Man denkt immer erst, es hat mit einem selbst zu tun oder mit dem, was man da macht. Aber letztlich weiß man’s nicht.“ Manchmal ist es ganz leicht, wenn schlau und schön zusammenkommen und Theater nicht versucht, Antworten zu geben, sondern erst mal das Gegebene infrage stellt.

Womit wir schon in Leipzig wären. Denn in „am beispiel der butter“, dem Debütstück von Ferdinand Schmalz, zeigt sich im Kleinen, was am großen Ganzen nicht stimmt. Im kuscheligen Theaterraum „Diskothek“ unterm Dach spielen wenige Figuren auf kleinem Raum schematisches Dorf leben nach. Sie sind abhängig von der Molkerei im Ort. Morgens lassen die Jenny „von der Reste“ und der Hans von der Staatsgewalt den Tag gewohnt geruhsam beginnen und kippen „Frühstück für Champions“, also Schnaps. Alles hat seine Ordnung, bis der Molkereiangestellte Adi seinen Mitarbeiterjoghurt nicht mehr selber isst, sondern ihn auf der Fahrt zur Arbeit an andere Passagiere verfüttert. Das kapitalistische Gefüge ist gestört und wird später krachend auseinander brechen.

Das Stück ist klein. Das Stück ist kurz. Das Stück ist sexy. Es kommen Zombies vor. Es regnet Milch. In einer der Hauptrollen spielt – hellwach – Runa Pernoda Schaefer die Geliebte und Revolutionsschwester des Adi. Alles ohne affektierte Gesten, die von gestern sind, sondern eher mit pointierter Naivität, die uns alle befällt, wenn wir an die Krise denken, an Arbeitslosigkeit und Überwachung – und dann vibrieren die unter menschenverachtenden Bedingungen zusammengeschraubten Smartphones im Zuschauersaal und die Kurzmitteilung „EILMELDUNG: Krise!“ blinkt auf.

Reden wir erst vom Fressen, dann von der Moral. „In deutschen Stadttheatern gibt es richtig schlechte Kantinen, wo man nur Buletten und Lichttechnikermarmelade, also Mett bekommt“, sagt Ferdinand Schmalz später, nachdem es Standing Ovations gegeben hat. Er freut sich, jetzt in Leipzig zu sein, wo zwar niemand weiß, dass „Reste“ das österreichische Wort für „Kneipe“ ist, wo aber in dem Gasthaus „Pilot“ direkt neben dem Theater anständig gegessen werden kann, wie daheim.

Man sitzt beisammen, trinkt, redet, an diesem lauen Frühlingsabend, so wie ohnehin mit wenigen Menschen so gut getrunken und bis in die Nacht hinein debattiert werden kann wie mit den Leuten vom Theater. Dazu diese Bewunderung für Schauspielerinnen, die sich verstellen und dazu alles auswendig lernen können, was in exakt dieser Kombination bereits den größten Schauspieler der Goethezeit, August Wilhelm Iffl and, über alle Maßen begeisterte. Er nannte sie „höhere Wesen“.

Mit dabei sind an diesem Abend die Leipziger Autorin Heike Geißler, Regieassistenten, Theaterarbeiter und der voluminöse Ferdinand mit seinem Buddha-Bauch. Man spricht über Occupy und Molkereien, über die Notwendigkeit des Chillens im kapitalistischen Aufruhr, zieht zwei Cafés weiter, steht dann wieder draußen, und überall wird geraucht, Künstler rauchen weiterhin, Künstler rauchen üblicherweise sehr gern. Nur Ferdinand Schmalz raucht nicht.

„Ich bin oft heim in die Steiermark gefahren und hab‘ Leute getroffen, die am selben Punkt waren, die das Gleiche wie ich gedacht haben -nur in ihrer eigenen Welt“, sagt der Autor über die Idee zu seinem Stück. „Da gab es jemanden, der in einer Molkerei arbeitet, der hat eine Idee von neuer Politik, von neuen Formen politischen Denkens. Doch statt einer offiziellen, wissenschaftlichen oder philosophischen Sprache, muss er das alles über die Butter, die Molkerei ausdrücken.“ So wurde aus Ferdinand Schmalz‘ Begeisterung für Tahrir, Occupy und Protest-Zeltbauten eine irrsinnig leichte Fabel über die Butter, in der nie direkt „stürmt die Paläste“ gerufen, sondern unterschwellig und mit Humor signalisiert wird, dass es Alternativen gibt.

Dafür ist das Theater da, denn Theater sind Orte, an denen es anders sein darf als in der Nachrichten-App oder in der sogenannten Realität. Was wäre sonst auch der Sinn dieser Institution im Jahr 2014? Wir haben Schulen, die unterrichten und Autobahnen, auf denen wir von München nach Leipzig gelangen, und wir haben Theater errichtet, um Neues zu denken. Könnte man jedenfalls mal klug behaupten.

„Die Tabus sind im Grunde alle gebrochen. Jetzt geht es darum, mit der Freiheit klarzukommen“

Manche sagen auch, das Theater sei ein großes Loch, in dem all die Subventionen verschwinden, was aber nicht wirklich stimmt, zumal gerade erst errechnet wurde, dass Theater mehr Geld in eine Stadt ziehen, als sie für ihren Unterhalt aus öffentlicher Hand bekommen. Der kulturpolitische Reporter Peter Grabowski hat das in seinem Blog so erklärt: „Die Empfänger (von Subventionen) gehören dem Staat nicht. Sie bekommen Hilfen aus öffentlichen Haushalten, weil damit ein politisches Ziel verfolgt wird: Die Energiewende zum Beispiel oder die Erhaltung des Bergbaus.“ Stadttheater, Landesmuseen und Staatsbibliotheken hingegen hätten schon rechtlich „den gleichen Status wie Polizei, Schulen oder Kindertagesstätten: Sie nehmen Aufgaben im Rahmen der Landesverfassung wahr. Doch käme wohl niemand auf die Idee zu behaupten, Kommissariate oder Grundschulen würden ,subventioniert‘. Sie werden ,öffentlich finanziert‘ – und das gilt auch für städtische Theater, Museen und Büchereien.“ Das ist ihr offizieller Status.

Dazu kommt der kulturelle Sinn. „Erst mal muss überhaupt wieder ein Interesse an der Welt geweckt werden, es muss sich wieder mehr politisiert werden, öfter mal hinter die Kulissen blicken“, sagt Runa Pernoda Schaefer, die stramm mithält beim Kampfplaudern und Biertrinken und Um-die-Wette-Rauchen. „Wenn man dann herausfindet, dass man die ganze Zeit auf einer kleinen Polly-Pocket-Insel gehalten wurde, werden sich die Konsequenzen daraus von ganz alleine ergeben. Es müssen nur genügend Leute aufwachen. Es ist schließlich unsere Welt und unser Leben!“

Es geht nicht direkt um Revolution, sondern erst einmal um den Löffel Mitarbeiterjoghurt, den man bereit ist zu teilen. Als Referat oder Fernsehfilm werden solche Ideen schnell matt. Im Theater, auf eine gute Stunde kondensiert, mit echten Menschen, die zum Greifen nah vor einem stehen und alles geben, ist es, als riefe etwas die ganze Zeit: „So come on, let me entertain you!“

Aber man muss auch den Mut haben, Entertainment-und Alternativ-Raum zu nutzen. „Die Künstler werden braver, angepasster“, sagt Tage später der 43-jährige Theaterund Filmschauspieler Marek Harloff („Der Totmacher“,“Der Schattenmann“), der sich seit über 20 Jahren im Business hält. „Bei vielen geht es nicht mehr darum, eine Vision umzusetzen. Oder sie haben gleich keine Vision mehr. Ab da geht es nur noch darum zu gefallen – dem Publikum, den Redakteuren, der Intendanz.“ Ihm fehlen Künstler wie der Maler Martin Kippenberger, der den Exzess offensiv lebte, der provozierte bis aufs Blut, der dafür immer wieder wortwörtlich die Fresse poliert bekam.

Harloff spielt am Schauspiel Köln in Friedrich Schillers „Kabale und Liebe“, dem ersten deutsche Sozialstück. Hier findet Provokation auf plakative Weise statt – über 30 Vorstellungen lang, bei vollem Haus, mindestens 600 Zuschauer je Abend, Kartenpreis im Schnitt zirka 15 Euro, macht 270.000 Tacken plus Getränke, Snacks, Programmheftverkauf. Tariflich garantiert sind für Anfänger auf der Bühne 1.650 Euro brutto. Schauspielschüler bekommen 30 Euro je Abend. In der Kölner Inszenierung geht es um Ausbeutung, die Deutsche Bank, Bayer, den Majdan in Kiew. Gespielt wird in einem Amazon-Zentrallager.

„Das ist das Absurdum des Theaters“, sagt Marek Harloff. „Die Hospitanten oder Assistenten werden ausgenutzt in Stücken, die gleichzeitig von Revolution erzählen und die Ausbeutung anprangern.“ Oder wie es Peter Grabowski pointiert zusammenfasst: „Intendanten an staatlichen Bühnen kriegen oft Hunderttausende Euro, nur als Festgehalt. Dazu kommen noch Honorare für Inszenierungen andernorts, Bearbeitungen oder Gastauftritte. Und die gleichen Typen lassen auf ihren Bühnen dann Schauspieler, die im Vergleich zu ihnen quasi ein Almosen erhalten, mit größtmöglichem Furor die ach so bösen Manager anfeinden. Und zwar – Gipfel der Unverfrorenheit – weil die tatsächlich ein Vielfaches dessen einstreichen, was ein einfacher Arbeiter monatlich in der Tüte hat Also bei solch blinden Stellen im Selbstverständnis wird’s dann in meinen Augen einfach nur noch grotesk!“

Wie prekär die Lage am Theater ist, hat jüngst die hoch verschuldete Stadt Wuppertal erfahren, wo erst das schicke Schauspielhaus, später dann Stellen im Ensemble gestrichen wurden. „Am selben Tag, an dem ich 2013 beim NRW-Theatertreffen den Preis als beste Nachwuchsdarstellerin bekam wurde auf der Wuppertaler Bühne die letzte Vorstellung gespielt“, sagt die 28-jährige Mimin Hanna Werth. „Am Morgen nach der Preisverleihung hatte ich mein Gespräch bei der zukünftigen Intendantin, das absurderweise damit begann, dass sie mir in einem Atemzug zum Preis gratulierte und im nächsten Halbsatz meine Nicht-Verlängerung aussprach.“

Mehrere Monate hinweg hatte Hanna Werth keine Ahnung, wie es weitergehen würde. „Das ist eine Belastungsprobe für eine Beziehung und das komplette Umfeld, wenn du das Gefühl hast, dass die Zeit davonläuft, weil die Bewerbungen zwar raus sind, aber die Einladungen zu Vorsprechen auf sich warten lassen.“ Am Ende ist alles gut gegangen. Für die kommenden zwei Jahre. Hanna Werth steht nun am Düsseldorfer Schauspielhaus auf der Bühne. Anschlussengagements gibt es ebenfalls.

Die entschuldete Stadt Düsseldorf ist gegen Wuppertal blühende Landschaft. Gleiches gilt für Hamburg, wo mit Jette Steckel eine der erfolgreichsten Regisseurinnen Deutschlands am Thalia Theater arbeitet. Ab Herbst gibt es von ihr Shakespeares „Romeo und Julia“, ein Klassiker wie „Die Ratten“ von Gerhart Hauptmann, mit dem sie 2013/14 den Laden schmiss, indem sie das Stück von 1911 mit Maxim Gorkis „Nachtasyl“, Einar Schleefs „Die Schauspieler“ und ihrer Lieblingsbühnenband The Not w ist verband.

Man kann sagen: „Kabale und Liebe“ in Köln ist Remix, „Die Ratten“ in Hamburg Mash-up. Mülltonnen brennen. Bass kommt aus den Boxen. „Ich persönlich liebe es laut“, sagt Jette Steckel. „Ich mag es, wenn Bässe mir in den Bauch fahren.“ Dann ist ein Theaterabend weit entfernt von der x-ten „Die Physiker“-Dürrenmatt-Aufführung mit Zeigefingern, den erhobenen. Zu Jette Steckel kann man gehen, weil sie einem nicht die Kunst herzeigen, sondern ihr Publikum mitreißen will. Die Zeiten, in denen deutsche Regisseure ihren Bühnenakteuren befahlen, sie sollten sich auskotzen, pissen, ficken, kacken, brüllen – und alles natürlich nackt -, scheinen endgültig vorbei zu sein.

„Weil es kein Tabu mehr ist, das zu tun“, erklärt Steckel diese Entwicklung. „Wen interessiert es, das zu sehen? Es kann höchstens noch für eine Figur interessant sein, nicht mehr als grenzüberschreitender Gestus. Die Tabus sind im Grunde alle gebrochen. Jetzt geht es darum, mit der Freiheit klarzukommen.“

Vergisst man, dass aktuelle First-Class-Inszenierungen wie Daft-Punk-Auftritte klingen, entstehen aus dieser Freiheit tatsächlich eine Vielzahl spannender Konzepte und alternativer Wirklichkeiten. An einem guten Abend kommt man aus dem Staunen gar nicht mehr raus. Denn Theater ist 2014 tatsächlich Überwältigungskultur, wenn angstlos agierende Akteure wie Ferdinand Schmalz, Sandra Hüller, Marek Harloff oder Jette Steckel ihre Finger im Spiel haben.

Was der übersubventionierte deutsche Film teuer, totredigiert und in Ehrfurcht erstarrt vor den vielen meisterlichen amerikanischen HBO-Serien in den meisten Fällen nicht hinbekommt, packt das Theater trotz Behördenstrukturen, Super-Krise und ausgebeuteten Mitarbeitern: im Jetzt zu sein, Pop zu sein, politisch und manchmal auch „die beste Kneipe der Stadt“ zu sein.

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