Zum Teufel mit der Olympischen Idee – Rückwärts von Ebermann & Trampert

Olympia, so klagen die Gebetsmühlen der "kritischen Medien" auch dieses Mal, Olympia sei längst vom Kommerz vereinnahmt und von skrupellosen Funktionären pervertiert worden. Nur: Was wurde denn da pervertiert? Ebermann & Trampert kommen zu der Erkenntnis, daß der vermeintlichen Perversion eine weit größere Perversion vorausging.

Der doppelte PERVERSIONS-BERGER rückwärts Olympia, so klagen die Gebetsmühlen der „kritischen Medien“ auch dieses Mal, Olympia sei längst vom Kommerz vereinnahmt und von skrupellosen Funktionären pervertiert worden. Nur: Was wurde denn da pervertiert? Ebermann & Trampert kommen zu der Erkenntnis, daß der vermeintlichen Perversion eine weit größere Perversion vorausging VORWORT. Die Olympiade der Neuzeit feiert in Atlanta ihren 100. Geburtstag – für uns Anlaß zur Besinnung. Ende des letzten Jahrhunderts hatte Baron de Coubertin die Olympische Idee ausgegraben und 1896 die erste Olympiade der Neuzeit in Athen eröffnet. Vieles hat sich seitdem verändert: Frauen sind zugelassen; Trendsportarten wie Beach-Volley-Ball haben traditionsreiche Sparten wie die Wildwasserkanuten aus dem Programm geworfen; die Konten der meisten Athleten sind üppig gefüllt. Diskus- und Hammerwerfer sehen nicht mehr „ihre besten Würfe in den Bäumen eines kleinen Wäldchens landen“, wie dies noch in einem Protokoll über die Pariser Olympiade anno 1900 berichtet wurde. Was, fragen wir uns angesichts der Veränderungen, ist noch geblieben von der Olympischen Idee? In den Medien finden wir Kommentare, die die kommerzielle Verhunzung der reinen Idee beklagen. Sie sei, so heißt es, an Coca-Cola verkauft worden. Irgendwie schimmert da verlorene Reinheit und Unschuld durch, doch kaum ein Satz widmet sich der Frage, welche ursprüngliche Idee da auf dem Altar des Geschäftes geopfert wird. Richtig: Leni Riefenstahls Olympia-Filme wurden noch nicht von Werbeblöcken unterbrochen -was schon deshalb nicht ging, weil sie vom ersten bis zum letzten Bild Werbefilme waren. Aber für was? Was wäre, wenn die vermeintlich reine Idee von Anfang an das Grauen symbolisierte? Oder anders gefragt: Kann denn das Grauen überhaupt noch verhunzt werden? Die Olympische Idee der Neuzeit. Wie die meisten seiner Standesbrüder auf der Welt, hatte auch der französische Aristokrat Baron de Coubertin die Umwälzungen des Industriezeitalters beunruhigt als Verfall der Sitten wahrgenommen. Er registrierte Ende des 19. Jahrhunderts viele „Ereignisse, durch die“ er sich „erniedrigt fühlte, und sein „nationaler Stolz wurde aufs äußerste verletzt“. Der Zusammenbruch der französischen Monarchie (1870) machte ihm zu schaffen, die Niederlage gegen Preußen (1871) verletzte seinen Patriotismus, und als Mitglied der Oberschicht waren ihm die Proleten und Handwerker, die mit ihrer Pariser Kommune Adel und Bourgeoisie für kurze Zeit zum Teufel gejagt hatten, auf den Magen geschlagen. Das alles, überlegte er, müsse mit einer Degeneration der Menschen zu tun haben. Die natürliche Ordnung schien ihm gefährdet durch Alkoholismus, Tuberkulose, krankhafte Grübelei, Resignation, Verweichlichung von Körper und Charakter, Nervosität und durch eine gekünstelte Mentalität, die zur Passivität verurteile. Mehr noch: Er sah seine von Gott und Natur gewollten Elite durch Frauenrechtlettum und proletarischer Überflutung bedroht. Coubertin suchte nach einem Rettungsanker, und so lag der Gedanke nahe, von England, der damals erfolgreichsten Nation, zu lernen, um das „koloniale Unvermögen“ der Franzosen und all die anderen Übel zu beseitigen. Er erkannte schnell: Das englische Schulwesen legte Wert auf Sport – und England war erfolgreich. Da mußte ein Zusammenhang bestehen. Von Thomas Arnold, dem Rektor des Elite-College von Rugby, übernahm er den Lehrsatz: „Die Muskeln und der Charakter sind für den am notwendigsten, der die Welt erobern will.“ Dazu sog er Darwins Forschungen aus der Tierwelt in sich auf und übertrug sie auf die menschlichen Gesellschaften. So wie kein blindes Schaf auf dieGnade des Wolfes hoffen, kein schwächlicher Hengst die Stuten decken darf, so müßten naturgesetzlich die stärkere Nation die schwächere und das erfolgreiche Individuum das unterlegene unterwerfen. Jede gesellschaftliche Rücksichtnahme auf Verlierer würde eine Verfälschung der naturgewollten Auslese sein. Weil „alles dem Kriegsgesetze gehorcht“, kam Coubertin zur Überzeugung, daß auch der Sport, der die „Liebe zur Strapaze, zum Kampfund Sieg“ stärke, hilfreich sei bei der „Schlacht gegen die Ereignisse, die Mitmenschen (!) und das Leben“. Coubertins selbstzüchtiger Leistungsmensch entsprach der modernen Industriegesellschaft, seine forstellungswelt war das Abziehbild jener rabiaten Auslese, die in der Konkurrenzgesellschaft fiir Erfolg stand. Wie ein Blick in seine Schriften zeigt, war er darüberhinaus von der eugenischen (Ausmerzung „unwerten“ Lebens) als auch von der rassistischen Version der Auslese überzeugt. Als die Dreyfus-Affäre Frankreich erschütterte, bewies er antisemitische Standfestigkeit – „Kann ein Jude treuer Staatsdiener sein?“ – und als überzeugter Kolonialist und Rassist war ihm ohnehin klar, daß „ein Schwarzer weniger wert“ sei „als ein Weißer“; „das Gegenteil zu behaupten,“ sei „eine falsche Einschätzung, die man nur nach einem guten Essen im Salon vertritt.“ In seinem Kopf verdichtete sich alles zu einer Idee: Die Wiederkehr von Olympia würde (ohne Frauen selbstverständlich) die Selbstreinigung vorantreiben und die natürliche Ordnung wiederherstellen. Er war davon überzeugt, daß seine Olympioniken „Vaterland, Rasse und Fahne erhöhen“ würden, weil sie das „Symbol des unbeschränkten Fortbestandes der Rasse und der Hoffnung der Nation“ seien. Die Verklärung des hellenischen Diskurswerfers, die Harfenklänge und andere romantisierende Reminiszenzen an die griechische Antike sollten nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Herrschaftsdenken des 19. Jahrhunderts an der Wiege der neuzeitlichen Olympischen Idee stand. Wie jeder messianische Kämpfer war auch Coubertin nicht frei von der Versuchung, sein persönliches Wirken zu überschätzen. Erst dank seiner sportpädagogischen Einflüsse sei es der französischen Nation möglich geworden, „in weniger als 40 Jahren eines der größten Heldenlieder der Kolonialgeschichte zu schreiben und die Jugend durch die Gefahren eines Pazifismus und einer bis zum äußersten getriebenen Freiheit hindurchzufuhren bis hin zu jener Mobilmachung im Jahre 1914, die immer zu den eindruckvollsten Schauspielen gehören wird… Der Sport steht an der Spitze der Bauherren des Sieges… Dank ihm hat Frankreich, ebenso tapfer, aber unvergleichlich viel stärker ab 1870, der Invasion einer muskelgestählten Welt entgegenstellen können.“ Man beachte, daß der Schöpfer der „Friedensspiele“ nicht im Krieg, wohl aber im Pazifismus der Jugend die große Gefahr sah. Noch bis in unsere Tage erliegen Sportfunktionäre der Wahnvorstellung, olympische Erfolge seien Indizien für wirtschaftliche und nationale Stärke. (Was kaum stimmen kann, weil sonst die Sowjetunion wirtschaftlich blendend dastehen würde, die DDR eher die BRD geschluckt haben müßte und die Ökonomien in Kuba, Äthiopien und Kenia in voller Blüte stehen würden.) Die Sorge von Karl Adam, des legendären Trainers des noch legendäreren Deutschland-Achters, in den Medaillen des Ostblocks würde sich der Untergang des freien Westens ankündigen, ist inzwischen hinfällig. Kriege und wirtschaftliche Konkurrenzen werden halt doch nicht mit Medaillen, sondern mit modernen Waffensystemen und produktiveren Fabriken entschieden. Gemäß heutiger „Standort-Logik“ müßte man gar die Förderung der unökonomischen Sportarten als Subventionsvergeudung geißeln. Aber dieser Blickwinkel würde den Nutzen von Leistungssport für Nation und Wirtschaft dann doch wieder zu gering veranschlagen. Schließlich nutzen effektivste Technik und modernstes Kriegsgerät nichts ohne willige Bediener – der Olympionike ist auserwählt, ihnen Disziplin und Selbstaufgabe vorzuleben. Er ist jenseits des profanen Inhalts seiner Sparte (kann man sich etwas Dürftigeres vorstellen, als jahrein, jahraus daran zu arbeiten, eine Eisenkugel 20 Meter weit zu befördern?) ein Symbol des Sich-Schinden-Könnens, der Opferbereitschaft, Selbstdisziplin und Askese. In diesem Punkt sind sich Karl Adam, dem es darauf ankam, „wie wichtig es erzieherisch ist, daß Wettkämpfer jahrelang systematisch, opferbereit für olympische Kämpfe trainieren müssen“, und Papst Pius XII. einig. Der Oberhirte hatte 1939 verkündet, daß Sport den Körper einer strengen Disziplin unterwerfe, „die ihn beherrscht und ihn in wahrer Dienstbereitschaft hält… Gewöhnung an Anstrengung, Widerstandsfähigkeit gegen Schmerz, strenge Sitten der Mäßigkeit und Enthaltsamkeit, das alles sind unerläßliche Vorbedingungen zur Erringung des Sieges“. Beide lagen wiederum auf einer Wellenlänge mit dem deutschen Olympia-Pionier Carl Diem, der die Vorzüge des olympischen Charakters darin sah, daß dieser besser gelernt habe, „Schmerzen zu ertragen, die Kraft der Sinneslust zu dämpfen, Besonnenheit und Mut zu entwickeln“. Mit dieser Maxime war er immer obenauf. Der Zögling Coubertins warb für die olympische Idee unter Kaiser Wilhelm, war 1925 Generalsekretär des Olympischen Ausschuß Deutschlands, wurde — nachdem er glaubhaft versichert hatte, von der Weimarer Republik nie etwas gehalten zu haben von den Nazis als Generalsekretär des Organisationskommitees bestätigt, leitete das „Internationale Olympische Institut“ in Berlin bis 1944, war nach dem 2. Weltkrieg Generalsekretär des NOK und wurde 1956 vom IOC für sein „olympisches Gesamtwerk“ mit dem selten vergebenen „Olympischen Diplom“ geehrt. Wie Coubertin hatte auch Diem seine Schrullen. Seine Bemühungen, Germanen als einzig wahre Hüter des antiken Erbes herauszuputzen, waren selbst für konservative Bildungsbürger starker Tobak. Seine Behauptung, der Ruf des antiken Publikums „O schöner Sieger, heil“ habe verblüffende Ähnlichkeit mit „unserem Hipp-Hipp-Hurra“, war genauso gewagt wie die These, schon Wotan habe Siegfried nahegelegt, daß das „Eis zum Schlittschuhlaufen da sei“. Die Germanophilie belastete die Freundschaft zu Coubertin ebensowenig wie seine eigenwillige Interpretation des Artikels 3 der olympischen Statuten, der dazu aufrief, „zum Bau einer besseren und friedlicheren Welt beizutragen“. Im 1. Weltkrieg harte der enthusiastische Kriegsfreiwillige Diem darauf bestanden, daß „deutsch sein heißen muß, die Welt für Deutschland zu fordern“, und 1931 trug er in der Heeressportschule vor: „Krieg und Sport gehören zusammen“, denn „der Krieg ist der vornehmste, ursprünglichste Sport und die Quelle aller anderen Sportarten“. Was sollte Coubertin, der den Krieg ebenfalls für eine grandiose Olympiade hielt, auch dagegen einwenden? So gesehen war die Olympiade 1936 nur das Vorspiel zu weit Größerem. Carl Diem persönlich hatte das mehrfach im Olympiastadion aufgeführte Hauptwerk komponiert. Seine gymnastischen Szenen, zunächst Kindheit und Jugend symbolisierend, endeten mit dem Erwachsenwerden, das als tödlicher Kampf inszeniert wurde. Dazu hatteer den Stadionsprecher kommentieren lassen: „Allen Spiels / heil’ger Sinn /Vaterlandes Hochgewinn / Vaterlandes höchst Gebot / in der Not / Opfertod.“ Die Verdächtigungen deutscher Turnerschaften vor dem Machtantritt der NSDAP, die Olympische Idee könnte „rassenlos“, von den Idealen des verschmähten Völkerbundes infiziert oder gar von Humanismus und Universalismus angesteckt sein, hatten sich längst verflüchtigt. Getragen von der Euphorie der nationalsozialistischen Kultveranstaltung verfeinerte Diem die Identität von Sport und Krieg. In seiner Schrift „Sturmlauf durch Frankreich“ jubelte er 1940: „Die fröhliche Begeisterung, die wir in friedlichen Zeiten bei einem kühnen kämpferischen Wettkampf empfanden, ist in die Höhenlage des kriegerischen Ernstes hinaufgestiegen.“ Im März ’45 reiste er durch das schmaler gewordene Land und beschwor den „olympischen Geist des Durchstehens“ für den „siegreichen Endkampf, um das aus seiner Sicht schönste aller Sportfeste ein wenig zu verlängern. In fast jeder Einstimmung auf die nächsten Spiele werden wir mit der absurden Behauptung konfrontiert, die Nazis hätten die olympische Idee mißbraucht Schon die autorisierten Beteiligten überführen die propagandistischen Rettungsübungen der Lüge. Coubertin persönlich bestand darauf, daß seine „eigenen Ideale“ in Berlin „realisiert worden“ seien. Zum Dank für die vortreffliche Umsetzung der olympischen Idee vergab das IOC 1939 – Österreich war gerade „heim ins Reich“ geholt und Prag besetzt worden – die nächsten Winterspiele wieder nach Garmisch. Ab zusätzliche Verbeugung vor der NSDAP schlug das IOC „ihren“ Coubertin gegen Ossietzky, der im KZ saß, für den Friedens-Nobelpreis vor. Noch 1959 feierte der germanophile (spätere IOC-Präsident) Avery Brundage das Berliner Propagandaspektakel als „großen Sieg für die olympische Idee“. Die Gemeinsamkeiten mit der braunen Meute kommen nicht von ungefähr. Das Menschenbild und die Massen-Inszenierung weisen frappierende Übereinstimmungen auf. Die Komposition der großen Aufmärsche, die Erzeugung von Ergriffenheit durch Hymnen und (militärisch anmutende) Appell-Rituale, deren heimliche Gegner stets das Ungeordnete, das Chaos ist, die Stilisierung von Menschen zu Massen-Ornamenten, in denen der Einzelne nur Teil eines Großen und Ganzen ist (und sich auch so fühlen soll, die La-Ola-Welle läßt grüßen), all diese Elemente sind ursprüngliche Anliegen des Begründers der Olympischen Idee. Coubertin verwendete viel Gehirnschmalz darauf, wie das Erhabene und Ewige, die historische Tiefe und Harmonie, das sakrale Olympia sich in Eröffnungsfeiern spiegeln könnte. Die Idee, die profane Wirklichkeit zu erhöhen, symbolisiert die feierliche Erhöhung des schnöden Krieges oder der Schufterei am Arbeitsplatz. Die Nazi-Parole „Du bist nichts, dein Volk ist alles“ war in jedem Arrangement des Jahres ’36 präsent Sie begegnet uns heute in abgemilderter Form wieder in Bertis Motto „Die Mannschaft ist der Star“. Der Appell an die Belanglosigkeit des Einzelnen, die Reduzierung des Individuums auf das jederzeit ersetzbare Nichts für die Erfüllung des großen Zwecks sind eine kalkulierte Erniedrigung, auf deren Boden der Antrieb gedeiht, sich heldenhaft für das „wirklich Große“, die „Sache“, die Nation zu opfern. Ein Blick in die Nazi-Presse des Jahres ’33 erläutert die Botschaft: Da hatte Hindernisläufer Dompert einen „mörderischen Kampf“ geliefert, der ihn nach „übermenschlicher Energieleistung“ im Ziel zusammenbrechen ließ. Da hatte Military-Reiter von Wagenheim sich für seine Mannschaft „aufgeopfert“, ab er trotz gebrochenen Schlüsselbeins in den Sattel stieg. Da lag ein Japaner nach dem Marathonlauf „wie ein Toter im Kreise seiner undurchdringlich schweigenden Kameraden“, war eine Italienerin trotz des Todes ihres Vaters angetreten, weil ihr „die Ehre, für ihr Vaterland zu kämpfen“ wichtiger sei „als persönliche Trauer“. Wer hier einwendet, daß solche Kommentare nun wirklich nichts mit Faschismus zu tun hätten, sondern ganz normale Berichterstattung über Leistungssport seien, dem wollen wir keineswegs widersprechen. Wir haben die Fußball-EM nicht verpaßt! Wir haben miterlebt, daß mehr von „deutschen Tugenden“ als von strittigen Abseitspositionen die Rede war. Man gestand ja permanent den Mangel an Spielwitz und Genie in der deutschen Mannschaft ein und verkündete um so ungenierter die siegreichen deutschen Tugenden: Kampf statt brotloser Spielkunst, jeder Zweikampfwurde gesucht, jeder gegnerische Spielzug zerschlagen. Immer wieder wurden Selbstaufopferung und Schmerz-Unempfindlichkeit gepriesen. Immer wieder hatten wir in Helmers gequältes Gesicht zu schauen und uns anzuhören, wie großartig seine Haltung sei, weil er sich trotz höllischer Schmerzen im kaputten Knie nicht auswechseln ließ. Klinsmann spielte mit einem Muskelfaserriß – beeindruckend. Eilts feierte trotz Bänderrisses fröhlich mit Freund fallt mit einer ernsten Verletzung für sechs Monate aus, ist aber grenzenlos glücklich. Hätten da nicht auch die Väter des Olympismus ihre Freude gehabt? An der beeindruckenden Quälerei schon, wenn auch die vollen Konten der Akteure die Freude der Tugendwächter des Amateur-Ideals getrübt hätten. Der Amateurgedanke galt den Führern des Olympismus bis in die 70er Jahre tatsächlich als tragende Säule ihrer Ideen. Am Anfang hatte Coubertin mehr die Eliten und weniger die Massen im Auge. Sportler aus „besseren“ Kreisen sollten ihre Kräfte vor einer „Elite von Zuschauern“ messen. Da unterstellt werden darf, daß solche Akteure von Haus aus halbwegs betucht waren, dienten die Amateur-Statuten eher dem Ausschluß der unteren Schichten. Einige Sparten nahmen das sehr genau. So durften 1908 weder Arbeiter noch Handwerker an den Ruderwettbewerben teilnehmen. Wer beruflich einer körperlichen Arbeit nachging, so argumentierte man, besäße unlautere Vorteile. Auf diese Weise blieb den nicht gerade austrainierten Olympioniken der Oberschicht die Schmach erspart, gegen Menschen zu verlieren, auf die sie herabsahen. Ein letztes Rudiment der Gleichsetzung von „Amateur“ und „vornehmer Herkunft“ finden wir noch bei der Olympiade 1948. Die schwedische Siegermannschaft in der Dressur wurde nachträglich disqualifiziert, weil man entdeckt hatte, daß ein gewisser Persson nur zum Schein zum Offizier befördert worden war. Tatsächlich war er Feldwebel, und nach den Statuten konnten Soldaten und Unteroffiziere keine Amateure sein. Mit der Entwicklung des Massensports wurde das erzieherische Moment zunehmend in den Mittelpunkt gerückt. Man gab vor, „die Jugend der Welt vor dem Geschäftsgeist“ schützen zu wollen und bekämpfte deshalb die „Überbewertung des Wirtschaftlichen gegenüber dem Geistigen“. Solche Phrasen haben bekanntlich nie das Ziel, die Geschäftemacher zu kritisieren, sie appellieren vielmehr an die Opferbereitschaft der einfachen Leute. (Wenn der Ex-Daimler-Chef Edzard Reuter von sich gibt, er habe es „satt, in einer Raffgesellschaft zu leben“, ruft er nicht zur Konfiszierung seines privaten Vermögens auf.) Als Coubertin im Amateurismus „eine moralische Reinigung und Weihung der sportlichen Praxis“ sah und Diem meinte, wer die Amateurbestimmungen nicht „peinlich sauber und sinngemäßeinhält, ist ein Spielbetrüger von besonders verachtenswerter Art“, hatten beide den entsagenden „Arbeitsmann“ und Soldaten im Auge. Nun steht aber der im Kommerz enthaltene Gedanke an den eigenen Vorteil dem freiwilligen Opfertod des Soldaten ziemlich im Wege. Wer nur funktionieren soll für Gott und Vaterland, dem muß die kümmerliche Selbstaufgabe immerfort als edelste Tugend eingehämmert werden. Noch in der Gegenüberstellung von Soldat (edel, selbstlos, als Kriegsfreiwilliger sogar Idealist) und Söldner (tut’s für Geld, könnte also auch von der Gegenseite gekauft werden) wird die Lüge, daß nicht verbrecherisch sein könne, was man ohne Eigennutz begeht, variiert. Selbstverständlich reiben sich olympische Ideale stets an der Realität Der Amateur-Paragraph schuf schon im Moment seines Entstehens den „Betrüger“. Für viele abgestrafte Athleten kann man dabei nur Mitleid empfinden. So wurde dem armen Indianer Jim Thorpe das Zehnkampf-Gold von 1912 weggenommen, weil er zuvor für ein paar Dollar an einem Baseballspiel teilgenommen hatte. Andere wurden geschaßt, weil sie sich nur das Geld für die Anreise geliehen hatten. Daß der Schwimm-Olympiasieger Johnny Weissmüller, der als Tarzan auf der Leinwand den Urwald zivilisierte, oder Toni Sailer, dem die rasche Abfahrt zu einigen Rollen in Heimatfilmen verhalf, ihre jahrelangen Tortouren versilberten, mag man eher selbstverständlich finden. Was soll man aber von einem Moralkodex halten, der in der Verletzung der Amateurstatuten einen Betrug von „verachtenswerter Art“ versteht, in den aber der Aufruf zum End-Sieg der Nazis umstandslos hineinpaßt? Mit der Bedeutung des Sports für den Ruhm der Nation wurde der staatlich organisierte Professionalismus ein wichtiges Instrument, um den logistischen Aufwand zu gewährleisten – und gleichzeitig den Schein des Amateurs aufrechtzuerhalten. So wie 1936 viele deutsche Athleten Wehrmachtsangehörige oder „Gäste der Wehrmacht“ waren, sind heute über tausend Spitzensportler der weniger lukrativen Sportarten bei der Bundeswehr. Bevor die große Finanzierung durch die Werbung einsetzte, waren auch – den studentischen Burschenschaften nachempfundene – Karriere-Garantien nach der Laufbahn, etwa bei Fechtern und Ruderern, ein plausibler Anreiz für die Plackerei. Die Bedeutung des Sieges für nationales Ansehen und persönliche Karriere hob nicht nur den Amateur auf, sondern setzte auch dem olympischen Eid, der Selbstverpflichtung auf Regelwerk und Fairplay, arg zu. Man kann nur hoffen, daß vieles nicht aufflog. Leider wurde der gefeierte Sieger des Marathonlaufs von St. Louis später überführt, vom 15. bis zum 33. Kilometer im Auto gesessen zu haben. Wer will ihm das nicht gönnen? Die Schlacht um das (regelwidrige) bessere Material wird schon begonnen haben, als die englischen Tauzieher in standsicheren Polizeistiefeln antraten, woraufhin die US-Mannschaft empört das Feld verließ. Später sollten präparierte Degen und erhitzte Kufen für ähnlichen Ärger sorgen. Ganz zu schweigen von den Kampfrichtern mit nationaler Gesinnung, die so manche Treffer übersahen, die ihr boxender Landsmann einstecken mußte, dafür aber den kleinsten Wasserspritzer des feindlichen Turmspringers als völlig mißglückte Eintauchphase mit hartem Punktabzug ahndeten. Trotzdem ist die große Zahl kontrollierenden Personals das sicherste Indiz dafür, daß alles drunter und drüber gehen würdeverließe man sich nur auf den olympischen Eid. Und weil das so ist, werden die ehrlichen Ausnahmen über Jahrzehnte gefeiert. Es hat sie wirklich gegeben, die Frau Altwegg, die 1952 im Eiskunstlaufen siegte und den hochdotierten Vertrag einer Eisrevue ausschlug, um als Lehrerin in einem Pestalozzi-Dorf zu wirken, und auch der französische Fechter, der dem Kampfrichter zurief, er sei gerade getroffen worden, hat tatsächlich gelebt Nun ist das Beklagen „olympischer Meineide“ nicht unser Anliegen. Avery Brundage, der letzte Verfechter des Amateurs, hat den Kampf nicht verloren, weil seine idealisierende Beschreibung nichts mit der Realität zu tun hatte. Für ihn betrieben Amateure „Sport zum Spaß, zur Entspannung, zum Zeitvertreib oder Vergnügen. Dir Gewinn ist die Freude am Erlebnis, ist Wohlbehagen.“ Dieser romantische Rückgriff auf den „Gentleman“-Sportler war längst von der Realität überholt worden. Das vermeintliche Wohlbehagen stellte der amerikanische Ruderer Jim Dietz vom Kopf auf die Füße, als er, im Labor, mit Meßgeräten verdrahtet und verkabelt, sein tägliches Training am maschinellen Boot-Imitat reflektierte: „Ich hasse das Ding. Du durchleidest alle Qualen des Ruderns – ohne die Freude, die Blätter ins Wasser zu tauchen… Deine Schenkel brennen, du kriegst keine Luft mehr – aber du brauchst diese Tortur. Du weißt, ohne sie kannst du nicht gewinnen.“ Besser als dieser industrielle Alltag könnte auch eine ausgefeilte Theorie nicht erklären, daß Sport oder Olympia Produkte ihrer Zeit sind. Gescheitert ist der Amateur-Gedanke aber nicht am Widerspruch zwischen behaupteter Freude und realer Marter. Er war schon durch die uniformierten Berufssportler angeknackt und wurde von .der schlichten Erkenntnis, daß mit Sport viel Geld zu verdienen ist, gänzlich weggeschwemmt. Für eine Marktwirtschaft, die nicht allein vom nationalen Opferwahn gelenkt wird, gilt das Credo: Wer nützlich ist für das Geschäft, darf sich persönlich bereichern. Dieser Gedanke verschafft dem sportiven Millionär einen gesellschaftlichen Schutz, den ihm der Kult des reinen Abrackerns für die Nation verweigerte. Wer also die „Entzauberung“ der einstmals „reinen“ Idee durch Coca-Cola, Visa Card und TV-Rechte beklagt, hat meist den puren Dienst am Vaterland im Sinn. Andersrum wird leider kein Schuh daraus. Der Kommerz verdrängt das Nationale nicht, selbst dann nicht, wenn die Werbeblöcke nur noch Zeit für die Landung eines Stabhochspringers lassen. Auch wenn der echte Patriot für Sekunden unter der Nachricht leidet, daß sein Idol den Wohnsitz nach Monaco verlegt hat oder anderweitig Steuern spart (bei Steffi war’s ja nur der Vater!), es bleibt dabei: Kein Läufer wird mit der Fahne seines Sponsors die Ehrenrunde drehen, und der Medaillenspiegel wird nicht nach Adidas und Nike aufgemacht. Die Tränen der Sieger fließen zum Hochgefühl der Landsleute vorm Fernseher, wenn die Nationalhymne erklingt und nicht wenn sie vertragsgemäß in den Doppel-Whopper beißen. Undjeder Reporter würde auf der Stelle entlassen, sortierte er seine Daumendrückerei nicht entlang der Frage, wer Landsmann ist und wer nicht Diese Grundordnung geht nicht mal verloren, wenn – wie etwa in Wimbledon – alle nationale Symbolik entfernt ist. Nur selten scheint zwischen der Nation (als Wirtschaftsstandort) und der emotionalen Unterstützung eines Landsmannes ein Widerspruch auf: Muß man denn wirklich wegen Schumi für Ferrari sein? (Naja, er wird wohl zu Daimler wechseln, wenn der Wagen soweit ist.) Nation und Kommerz sind eine (neue) Symbiose eingegangen. Von Patrioten und Werbe-Partnern werden gleichermaßen Athleten bejubelt, die sich gequält haben für den Sieg. Die Marathonläuferin Uta Pippig war bereits hinlänglich erfolgreich, doch ausgiebige Berichterstattung im TV winkte erst, als sie in Boston mit einer telegenen Tortur gesiegt hatte. Das Ausleseprinzip, nach dem nur Starke zählen, die selbstsüchtig für Siege arbeiten, ist ihr gemeinsamer Nenner. Beide, nationale Ehre und wirtschaftlicher Leistungsgedanke, versammeln sich deshalb in der vermeintlichen Schande des Verlierers. Für einen Athleten ist nichts schlimmer, als vor dem Mikro die Frage zu beantworten, weshalb er „unter den Erwartungen“ geblieben sei. Wie kann er die im Raum stehende Verdächtigung, er habe in der Vorbereitung den Schlendrian walten lassen, er sei ein Olympia-Tourist, er habe das Fördersystem mißbraucht, enderäften? Das meßbare Ergebnis entlarvt ihn. Die Frage gilt allen in der Gesellschaft, die nicht leistungsgerecht funktionieren. In solchen Momenten mag sich selbst ein hochdotierter Sportler für Sekunden ein wenig so vorkommen wie die Millionen, denen auf Sozial- und Arbeitsämtern suggeriert wird, sich wenigstens schuldig zu fühlen, wenn sie schon der Allgemeinheit zur Last fallen. Leider ziehen die Addeten aus solchen Erlebnissen nur den Schluß, künftig noch härter zu trainieren, um noch besser zu funktionieren. Nur John Carlos und Tommie Smith (Foto oben) hatten mal eine andere Idee, aber dafür wurden sie auch lebenslänglich gesperrt. J2

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