Dr. Feelgood

„Down By The Jetty“ – Thames Delta Blues

Parlophone (VÖ: 25.7.)

Die vier ersten Alben der legendären Pubrocker erscheinen in einer 50th-Anniversary-Remaster-Serie, zum Glück nicht klanglich aufgehübscht.

ROLLING STONE Badge
Empfehlungen der Redaktion

Canvey Island liegt in Essex, genauer: im Mündungsdelta der Themse rund 30 Meilen östlich von London, und offerierte einst Seeluft für Generationen urlaubshungriger Engländer. Im Laufe des 20. Jahrhunderts begann sich das mählich zu ändern, als die Ölindustrie sich der Insel bemächtigte mit Raffinerien und rauchenden Schloten. Wer in den Siebzigern dort lebte, kannte beides, die verblichenen Reste ehemaliger touristischer Attraktionen sowie Industriebrachen, von Ölkonzernen hinterlassen. „Es roch nicht nach Zukunft“, erinnerte sich Wilko Johnson, „und es sah auch nicht danach aus.“

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Dennoch gründeten Gitarrist Johnson, Sänger Lee Brilleaux, Bassist John B. Sparks und Drummer John Martin dort 1971 eine Band, die sie Dr. Feelgood nannten, nach dem obskuren Bluespianisten und -sänger Willie Perryman, der unter diesem Namen firmierte, der im Slang schwarzer US-Musiker auch für Heroin stand. Oder für einen Quacksalber, der die gewünschten Drogen verschrieb. Das Quartett verstand seine Musik als Rhythm & Blues, hart und schnörkellos gespielt, energiegeladen, durchaus in der Tradition britischer R&B-Gruppen zehn Jahre zuvor, hitzig, kantig, ruppig, die Antithese zum zeitgleich reüssierenden Glamrock, nicht nur musikalisch.

„Ist bloß ein Marketing-Ding, wir lernten damit zu leben.“

Das äußere Erscheinungsbild hätte gegensätzlicher nicht sein können. Die Glamrocker liebten das Flamboyante und Schrille, Federboas und Plateaustiefel. Kurzum kunterbunte Klamotten, in denen Dr. Feelgood nicht tot gesehen werden wollten. Für sie und ihresgleichen brauchte es nur einen Begriff, der ihre Herkunft sowie ihre Attitüde auf einen Nenner brachte: Pubrock schlich sich in die Nomenklatur der Musikpresse und setzte sich schließlich durch. Wilko damals achselzuckend: „Ist bloß ein Marketing-Ding, wir lernten damit zu leben.“

Neben diversen Singles veröffentlichte die Band bis 1977 vier LPs, die nun neu aufgelegt werden, remastered, aber erfreulich nahe am Mastering der Originalpressungen, der Mono-Mix allenfalls ein wenig runder, indes ohne schnöde Anbiederei an moderne Hörgewohnheiten. „Down By The Jetty“ (★★★★) erschien im Januar 1975 mit zumeist eigenen Songs, verfasst von Wilko Johnson, darunter die Debüt-45 „Roxette“, sowie Coverversionen bekannter Tunes von John Lee Hooker, Willie Dixon und Larry Williams. Lee Brilleaux spielt Slide Guitar und seine Mundharmonika trägt entscheidend zum Soundcharakter bei, Wilko Johnsons Gitarren-Attacken sowieso. Mit „Malpractice“ (★★★★), bereits im Oktober desselben Jahres nachgelegt, gelang der Band erstmals eine Charts-Notierung. Am Klanggefüge hatte sich im Vergleich zu „Jetty“ nichts geändert, obwohl die Stereo-Aufnahmen nicht mehr in den Rockfield-Studios entstanden, sondern in den Olympic und Pye Studios.

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Auch die Materialmischung aus Johnson-Originalen und Cover-Verbeugungen (Bo Diddley! Muddy Waters!) blieb beinahe identisch. Allein „Riot In Cell Block No. 9“, ein Robins-Hit von 1954 aus der Feder von Leiber/Stoller, fällt ein wenig aus dem Rahmen. Das Live-Album „Stupidity“ (★★★ ) brachte 1976 dann den kommerziellen Durchbruch und erklomm den Spitzenplatz der UK-Charts, als Resultat extensiver Tour-Aktivitäten. Seite 1 wurde in der Sheffield City Hall mitgeschnitten, Seite 2 im Southend-Kursaal, will sagen: Dr. Feelgood waren den Pubs inzwischen entwachsen. Für „Sneakin’ Suspicion“ (★★★ ) schließlich ging es zurück in die Rockfield-Studios, wo es während der Sessions jedoch zu Zerwürfnissen zwischen Lee Brilleaux und Wilko Johnson kam, worauf dieser erzürnt hinschmiss und die Band verließ.

Diese Review erschien zuerst im Rolling Stone Magazin 8/2025.