Parole Brandi: Mehr Macht für traurige Clowns
Carpenter oder Country? Unsere Kolumnistin ist in sehr unterschiedlichen Welten unterwegs
Der Sommer neigt sich seinem Ende und unsere Kolumne geht weiter. Nur leider ist mein Gehirn nach insgesamt sechs Mal Corona leicht lädiert und hat gefühlt täglich nur noch knappe 34 Minuten Klarheit, davor und danach ist alles neblig.
In diesem Zustand fragte ich hilfesuchend meine Freundin Marie, sie solle mir mal „Vorschläge für meine Kolumne machen“, und Marie schickte mir, artig wie sie ist, zwei Namen von zwei Popsängerinnen und meinte, schreib doch irgendwas über die oder über die?
Ich schrieb kurzerhand über beide und was nun folgt, ist eine höchst subjektive, kulturwissenschaftlich unzureichende Beschreibung meiner Hör- und Seherlebnisse zweier Musikvideos.
Was die Videos verbindet: Beide Sängerinnen machen Popmusik und beide haben sich offenbar „humorvolles weibliches Empowerment“ auf die Fahne geschrieben. Allerdings gehen die Amerikanerin Sabrina Carpenter und die Irin CMAT sowohl mit Humor als auch mit weiblichem Empowerment ziemlich unterschiedlich um.
Espresso bitte!
Das erste Video – ihr kennt es vielleicht, der Song war letztes Jahr ein Sommerhit – beginnt in Schwarz-Weiß. Dort fährt eine blonde, leichtbekleidete Frau in einem Retro-Badeanzug mit einem Schnellboot übers Wasser. Hinter ihr fläzt sich ein männliches Model, welches bald zu ihr nach vorne ans Steuer geklettert kommt. Die junge Frau nimmt das zum Anlass, ihn umgehend mithilfe eines riskanten Fahrmanövers über Bord zu schmeißen. Im nächsten Bild sehen wir sie eine orangefarben glänzende Kreditkarte aus seiner Brieftasche ziehen. Dann wird das ganze Video so bunt wie ein Solero-Eis. Die junge Frau stapft kokett mit einer Rettungsringattrappe um den Hals an Land und singt:
„I can’t relate to desperation
My give-a-fucks are on vacation
And I got this one boy, and he won’t stop callin‘
When they act this way, I know I got ‚em.“
Sicher und wohlbehalten an Land, kommen auch schon ihre Freundinnen in einer synchronisierten Viererreihe über den Strand getanzt, jede mit sechs Shoppingtüten ausgestattet.
Alle zusammen sitzen dann in Liegestühlen und geben offenbar das Geld des armen Mannes aus, der wahrscheinlich gerade irgendwo erschöpft an Land schwimmt. Lässig wedelt die Sängerin immer wieder mit der Kreditkarte. Neben den Liegestühlen entstehen kleine Haufen aus Beautyprodukten. Brave junge Männer drehen blassgrün gestreifte Sonnenschirme im Takt der Musik oder massieren den fünf Freundinnen den Nacken und feilen ihnen irgendwie die Fußnägel (ab?). Währenddessen trinken die fünf Frauen Espresso aus kleinen, gestreiften Tassen. Die Sängerin Sabrina Carpenter singt dazu, dass sie auf das Nervensystem eines namenlosen „Du“ eine ganz ähnliche Wirkung hat, wie das koffeinhaltige Nationalgetränk Italiens.
„Barbie“ Reloaded
In einem Interview gab die Sängerin Sabrina Carpenter an, dass sie den Song als „Manifestationstaktik“ schrieb, als sie das Gefühl hatte, romantisch nicht wahrgenommen zu werden. Die Zeile „That’s that me espresso“ entstand während eines Aufenthalts in einer Crêperie in Frankreich.
Insgesamt sieht das Video aus wie ein Haufen orangefarbener „Deleted Scenes“ aus „Barbie“. Und die toten Augen, die routinierten Hüftbewegungen der Statist:innen und der ganze pseudo empowerte Habitus demoralisieren mich auch kurzfristig in ähnlichem Ausmaß.
Der Song ist schon catchy, aber als er vorbei ist, finde ich den Weg nicht mehr zurück in meine eigene Haut. Und mein Zimmer riecht ganz kurz ein bisschen nach einer dieser Umkleidekabinen bei H&M.
Dann, nächstes Video.
Country, nicht Courtney
Eine Person spielt das Auftakt-Fill am Schlagzeug (spontan gelesen als „gender: drummer“) und es folgt ein kurzer Zusammenschnitt, der schonmal alles enthält, was uns in diesem Video thematisch erwartet.
Offensichtlich geht es um car drifting mit bunten Oldtimern aus den Neunzigern, um eine junge Band (sehr viele sehr gute Sonnenbrillen) auf einem saftigen Stück Weideland inklusive Vieh, einen dieser Berge aus Autoreifen und ganz klar vor allem um die Sängerin CMAT. Die ist kokett, charmant und in knalligen Outfits (ja, auch Grillz im Maul) für die nächsten viereinhalb Minuten unsere Gastgeberin in dieser nur leicht stilisierten unverkennbar irischen Landschaft.
Bereits nach den ersten vier Zeilen fällt der wohl wichtigste inhaltliche Unterschied ins Auge, der zwischen Sabrina Carpenter und CMAT besteht, denn letztere singt:
„I waited for love
With a cricket bat
I got what I want
And I kicked it flat.“
Der Song ist im Grunde nur ein „einfacher Country-Song“ aber bekanntlich sind ja gerade die am schwersten zu schreiben. So müssen sich die unzähligen Courtney-Barnett-Fans gefühlt haben als diese vor mehr als zehn Jahren mit ihrem Übersong „Avant Gardener“ um die Ecke kam.
Aber CMAT ist würziger, temperamentvoller (was nicht schwer ist, sorry Courtney) – und vor allem lustiger.
Kreditkarte vs. DIY-Charme
Auch bei Sabrina Carpenter würde mensch ja meinen, geht es um eine Art Spiel und letztendlich auch um Witz. Wie sie diesen Typen ins Wasser wirft, weil, wer wirft denn schon in echt einen Typen ins Wasser? Usw. Das alles ist ganz klar witzig gemeint. Aber: Wie lustig ist das eigentlich?
Nicht so lustig wie die kurz etwas unsicher wirkenden Typen, die zu CMATS Song mit pinken Autos qualmend im Kreis fahren. Car Drifting, was popkulturell ja eher härteren Musikstilen wie HipHop, Nu Metal oder Drum & Bass zuzuordnen ist, für das Video zu einem Heartbreak-Countrysong zu benutzen, zeugt von genau der feinen Ironie, die Carpenters Video vermissen lässt.
Wo Sabrina konsumtechnisch auf die Kacke haut und die Gemeinheit ihrer Aktion gegenüber dem armen Mann vom Anfang mit tausendmal gesehener, Monroe-esker Wasserballett-Choreografie unterhaltsam macht, entlarvt CMAT die Protzpose als solche, indem sie machtvolle Codes aus dem Reich des HipHop (auch ihr Mundschmuck ist ein solcher Code) nimmt, um sie in der bäuerlichen irischen Landschaft ein bisschen hausbacken verhungern zu lassen.
Was ebenfalls ins Auge springt, ist wie beide Videos mit dem Thema „Geld“ umgehen. Spielt die Kreditkarte in Carpenter-Video wie schon erwähnt eine zentrale Rolle (sie fungiert als Schlüssel zum Spaß: entgrenztes Shopping, Versklavung der Männer), wirkt bei CMAT alles eher improvisiert. Diese ollen Graffiti an der Wand hinter CMAT. Die Second-Hand-Mode der Bandmitglieder. Und die Kühe, die auf der Weide hinter der Band stehen und grasen.
Lügt Sabrina Carpenter?
Aber bei aller Analyse, CMAT trifft auch sonst einfach einen Nerv in mir. Sie hat etwas von einem traurigen Clown und ich finde, alle denkenden und fühlenden Menschen, die mir einfallen, haben das.
Ich wippe mittlerweile mit dem Kopf zu ihrem croonigen Schmachtgesang, der mich packt und mit dem sie umgeht, wie ich es selbst ganz gut nachempfinden kann, vor allem in der Bridge (dieser Song hat eine richtig klassische Bridge), wo sie eine Vielzahl von Stimm-Layern aufeinanderpackt wie eine Konditorin Biskuit-Schichten auf eine hohe Torte, nur um danach wieder pur und reduziert Songzeilen direkt in meine Körpermitte zu ballern wie:
„All of my jokes
Have turned to prayers
Because they’re scarred just like their mother.“
Damit legt sie auch die Quelle offen, aus der ihr Humor kommt, nämlich die der desperation, welche ja bekanntlich bei Carpenter gerade zusammen mit ihren give-a-fucks „on vacation“, also grad net da ist.
Ich glaube langsam, beide Sängerinnen erleben eigentlich das Gleiche, aber eine von beiden lügt.
Country ist, ähnlich wie Pop, ein musikalisch eher schlichtes Genre und es gekonnt zum Leben zu erwecken, ist in beiden Fällen eine Königsdisziplin, die sowohl Carpenter als auch CMAT Respektive deren Produzent:innen exzellent beherrschen.
Amerika vs. Europa
Und doch stellen diese zwei Musikvideos, die ich ja eher zufällig nebeneinandergestellt habe, sehr schön dar, wie unterschiedlich der amerikanische und der europäische Umgang mit dem Thema „Jede:r kann es schaffen“ immer noch ist: Carpenter schafft „es“ (was eigentlich genau? Die Transformation des Leidens? Das Überkommen jeglicher Verzweiflung?) auf die neoliberale Weise mit einer Kreditkarte und ihren BFF’s. Und CMAT schafft sich stattdessen ihr eigenes, selbstgebasteltes Protz-Universum zwischen Autoreifen und Gülle, wo sie uns ehrlich ihr Herz ausschüttet und sich zwischendurch mit outtake-haften „silly walks“ über das alles, vielleicht das Musikvideo an sich, lustig macht.
Zum Schluss – und vielleicht, weil ansonsten wirklich alles gesagt worden ist – jauchzt CMAT uns ein auch sehr irisches Good-Bye mit einem wiederholten „Kyrie Eleison“. Und jetzt hat sie mich endgültig.
Als nächstes guck ich mir mal das Interview mit ihr und meiner Lieblings-NTS-Radiomoderatorin Flo Dill an. Sie halten es in einem Garten ab, wo sie auch noch in der Erde buddeln und what not.
Aber vorher brauch ich einen Espresso.