Abschied von gestern

August 1995 Mit einer Version von Neil Diamonds „Girl, You’ll Be A Woman Soon“ für den „Pulp Fiction“-Soundtrack erreichten Urge Overkill den Gipfel ihrer Popularität. Danach hatten sie genug von den Retro-Spielchen.

Urge Overkill sind zu dritt. Das haben sie mit entscheidenden Bands nicht nur ihrer Generation gemein. Bei Nirvana und Babes In Toyland etwa hat die Trio-Besetzung alles geprägt: den Sound, die Attitüde, den Umgang mit dem Erfolg. Wenn man zu dritt ist, kann sich keiner in der Gruppe verstecken. Jeder ist gezwungen, jederzeit alles in die Waagschale zu werfen. Trios sind sensible Konstruktionen, sie haben keine Symmetrie und manchmal geraten sie aus dem Gleichgewicht. Bei Urge Overkill ist das Duo die ursprünglichere Form: Nash Kato (Bass) und Eddie „King“ Roeser (Gitarre) sind die beiden Sänger. Sie kennen sich schon ewig und brachten 1986 auf einem kleinen Chicagoer Label die Hardcore-EP „Strange, I …“ heraus. Dieses Stück Vinyl war der Grundbaustein von Urge Overkill – „eine richtige Band geworden sind wir erst später, stimmt’s, Nash …?“

Immer, wenn es beim Interview um entscheidende Dinge geht, blicken Eddi und Nash einander kurz an. Der Schlagzeuger Blackie Onassis kam 1989 zur Band. Anscheinend hat er seitdem die Rolle des Zynikers übernommen: Seine knappen, aber stets eindrucksvollen Statements sind von Bitterkeit durchtränkt. Er sitzt vornübergebeugt, unter seinen schwarzen, dichten Haaren kann er ein ziemlich ernstes Gesicht ziehen.

Eddie dagegen ist ein nervöses Hemd und redet wie ein Buch. Seine strähnigen blonden Haare kleben manchmal wie ein nasser Duschvorhang vor seinem Gesicht. Er wirkt wie jemand, der für alles zu wenig Zeit hat – und dass hinter jedem Satz ein Punkt kommt, hat er irgendwie nicht richtig verinnerlicht. Der Coolste von allen ist Nash. Irrsinnig schlaksig hängt er quer im Raum. Er sagt wenig, sieht die Welt aus der Distanz und strahlt eine angenehme Gelassenheit aus. Der Zyniker, der Maniker, der Coole: Aus diesen Elementen ist also die Musik von Urge Overkill zusammengesetzt.

Schon diese Riffs! Wenn die Gitarre losschrappt und Blackie O. dazu mit den Drumsticks den Takt zum Mitklatschen schlägt, dann ist das der superschnelle Mega-Zug in eine andere Zeit: The Sweet, Cheap Trick, Parkas, Mofas, Luftgitarre … also immer noch die berühmt-berüchtigten Seventies. Die letzten Beiträge zum Thema kamen von Mike Watt und Neil Young. Auf der letzten Platte, „Saturation“ von 1993, sah es so aus, als hätten Urge Overkill diese sehr verschachtelten Referenzen bis an die äußerste Grenze getrieben. „Exit The Dragon“ aber ist die Krönung aller 70er-Jahre-Lexikon-Musik. Alles wurde im streng historischen Stil aufgenommen: Hochgestimmte Snare-Drum, kein Digital-Verfahren, vieles ist live eingespielt. Ist das noch das ironische Camp-Spiel? Oder schon wieder Ernst? „,Exit The Dragon‘ ist eine ziemlich dunkle Platte“, meint Eddie. „Es ist die Platte danach. Mit, Saturation‘ hatten wir einen Punkt erreicht, wo wir alles machen konnten: Spielerisch mit Musikstilen, Image und Bedeutungen umgehen. Wir haben ein bisschen am Erfolg gerochen und eine Menge Leute getroffen, die Erfolg haben. Jetzt hatten wir das Gefühl, uns wieder erden zu müssen.“

Erst beim zweiten Hören kommt so richtig heraus, was hier eigentlich passiert: Unter der hyperaktiven Oberfläche haben Urge Overkill eine sehr präzise Platte über ihre eigene Lage gemacht. All die Seventies-Klischees werden einerseits deutlich als Klischees ausgestellt, anderseits aber als Projektionsfläche benutzt für klare Aussagen. Was wie Retro klingt, ist umso zeitgemäßer. Es wird nur besser wahrgenommen, weil die üblichen „modernen“ Stilelemente fehlen und die Texte in einer ganz ungewohnten musikalischen Umgebung herumstehen – die postmoderne Variante des Verfremdungseffekts.

Jedes Stück auf „Exit The Dragon“ kreist irgendwie um das Thema der verlorenen Illusionen: „I don’t smile anymore, I don’t cry anymore …“, heißt es in „View Of The Rain“. „Take me back again“, singt Ed im Song „Take Me“, der vordergründig von einem kleinen Liebesproblem handelt. Wenn Worte wie „riot“ oder „revolution“ auftauchen, folgt ganz schnell ein „… is dead“. Und „The Mistake“ ist eine offene Abrechnung mit dem Thema Ruhm, eine Bilanz, die an John Lennons Post-Beatles-Litanei „God“ erinnert. Blackie sagt: „,Saturation‘ war eine Platte übers Fliegen, dies hier ist eine Platte übers Laufen.“ Das Problem wird bloß sein, dass der wahre kommerzielle Höhenflug erst kommt … Schließlich hat die Musikwelt in diesem Jahr auf kaum eine Platte so heißhungrig gewartet wie auf diese.

Die Urge-Overkill-Uniform gibt es heute nicht mehr. Vor fünf Jahren erschien mit „Americruiser“ eine der poppigsten Hardcore-Platten überhaupt. Die Band nahm auf der Basis von drei Leuten, drei Instrumenten und drei Akkorden das gesamte Phänomen Pop in den Blick. Sie ließen alle möglichen Arten von Musik in ihre überdrehten Stücke hineintaumeln, sie brachten Psychedelia und Glamour mit ein. „Punk als Attitüde bekam für uns eine ganz neue Bedeutung“, sagt Nash. „Wir hatten auf einmal das Gefühl, dass es für uns keine Regeln mehr gibt.“ Wie käme man sonst auf den Gedanken, als Core-Band Hot Chocolate zu covern?

Irgendwann bekam der 70s-Mainstream die Oberhand in der Vielfalt der Einflüsse. Und dann diese Kostüme! „Es war ein glitzerndes und gewagtes Spiel für uns“, meint Eddie. „Wir meinten es immer ernst mit unserer Musik, aber das Bild von uns als Band sollte schillernd und verwirrend sein.“ Besonders im Gedächtnis geblieben sind die goldenen Samtanzüge. Sie ließen um den Bauchnabel herum einen runden Ausschnitt frei, und sahen ein bisschen aus wie abgelehnte Entwürfe zur „Star Trek“-Garderobe. Dazu trugen Urge Overkill schwere Medaillen mit dem UO-Logo. „Für uns war der verspielte, futuristische Aspekt immer wichtiger als der Bezug zu den Siebzigern“, sagt Nash. „Aber verdammt noch mal, diese Medaillen haben dich beim Spielen völlig fertiggemacht. Man konnte sich ja nicht einmal vorbeugen.“

Obwohl damals die eigentliche „Karriere“ der Band begann, tat sich vor allen Dingen die Mainstream-Presse schwer mit den Camp-Spielchen. Dass es hier nicht um ein plattes Eins-zu eins-Retro-Konzept im Sinne Lenny Kravitz‘ ging, ahnte man schon irgendwie. Die Eigenauskunft „Wir sind Now-tro, nicht Retro“, verwirrte die Kundschaft noch mehr. „Jetzt, wo es langsam jeder kapiert hat, haben wir keine Lust mehr dazu“, grinst Eddie. „Neulich kam ein Fotograf und wollte Bilder machen. Er fragte, wo unsere Kostüme seien. Wir meinten nur: Vergiss die Kostüme, schieß los!“

Gerade weil der ganz große, „Nevermind“-mäßige Erfolg bisher ausblieb, kann man an Urge Overkill die Rock-Entwicklung der 90er-Jahre wie auf einer Skala ablesen. Vom Underground zum Hype – dann der Versuch, den Wagen wieder herumzusteuern. „Kurt Cobains Tragik war, dass er nicht zu einem gewissen Grad mitgespielt hat“, meint Eddie. „Er hatte vor der Öffentlichkeit keinen Schutzpanzer – wie wir etwa mit unseren Verwirrspielen. Er dachte, er müsste ehrlich sein zu seinen Fans. Aber gibt man nicht schon genug von seiner Seele her, wenn man gute Songs schreibt?“

Urge Overkill waren mit Nirvana auf Tournee, sie haben gesehen, wie die Smashing Pumpkins groß wurden, die wie sie aus Chicago stammen. Außerdem waren sie mit einer Neil-Diamond-Cover-Version im Soundtrack von „Pulp Fiction“ vertreten, sicher der Film des Jahrzehnts. „Wir waren überall“, zählt Blackie auf: „In den Charts, auf MTV, auf CD-ROM. Das genügte schon. Ich weiß nicht, ob wir diese Platte hier hätten machen können, wenn, Saturation‘ so viel verkauft hätte wie, Nevermind‘.“

Paradox: Wenn der große Erfolg jetzt noch kommen sollte, können sie vielleicht gerade deswegen damit klarkommen, weil sie ihn nicht mehr wollen. Urge Overkill sind aus Chicago. Eine mittelgroße Band (was Verkäufe anlangt) aus einer mittelgroßen Stadt (was Einwohner angeht). „Immer noch ein super Ort zum Abhängen“, findet Nash. Eddie nickt. Sogar Blackie nickt. Dann nickt noch mal Nash, um seine eigene Auffassung zu bekräftigen. „Nur haben wir uns am Anfang sicher noch mehr damit identifiziert. Jetzt ist Chicago so etwas wie Seattle geworden: Über der Stadt liegt das riesige Vergrößerungsglas der Musik-Industrie. Nachdem die Pumpkins, Liz Phair und wir groß geworden sind, brauchst du heute nur auf die Schnelle eine Band zu gründen und kannst sofort bei einem Major unterschreiben. Ist nicht gerade gut für die Entwicklung …“

Identifikation, Entwicklung … Was sind Urge Overkill nur für verdammt seriöse und gewissenhafte Musiker geworden! Haben sie den Drachen Hype endgültig besiegt – oder ist diese neue Authentizität auch so etwas wie ein Spiel? Ganz kann man solche Fragen bei Urge Overkill nicht klären. Die Reise ist noch nicht zu Ende.

Der Autor Ralf Schlüter schrieb von 1994 bis 1998 für den deutschen Rolling Stone und hatte ein Faible für Singer/Songwriter, Steely Dan, Literatur und bildende Kunst. Ende der 90er-Jahre wurde er Redakteur bei der Design-Zeitschrift „Form“, seit 2000 arbeitet er für das Kunstmagazin „art“ und ist dort heute stellvertretender Chefredakteur.

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