Andy Bell im Interview: „Jede Generation hat ihre eigenen Kämpfe“
Zwischen Dancefloor, Pop-Royalismus und Zahnarztbesuch: Andy Bell im Gespräch über sein neues Soloalbum „Ten Crowns“.
Mit „Ten Crowns“ veröffentlicht Andy Bell am 2. Mai 2025 sein drittes Soloalbum – ein zehn Tracks starkes Werk zwischen Dancefloor, Gospel und elektronischem Pop. Aufgenommen in Nashville und entstanden in Zusammenarbeit mit dem Grammy-prämierten Produzenten Dave Audé, setzt sich Bell auf „Ten Crowns“ einerseits mit persönlichen Themen auseinander, wird aber auch politisch. Im Interview mit ROLLING STONE spricht Andy Bell über die Entstehung des Albums, über Homophobie und Fortschritt – und über die Zukunft seiner Hauptband Erasure.
Andy Bell, der Song „Don’t You Know“ war der Ausgangspunkt für Ihr neues Album. Können Sie uns etwas über die Entstehung erzählen?
Ich habe mit dem DJ Dave Audé gearbeitet – wahrscheinlich dem produktivsten Remixer in den USA, mit über 100 Nummer-eins-Hits in den Billboard-Dance-Charts. Zwei davon waren mit mir: „The Aftermath“ und „True Original“. Das war vor etwa 15 Jahren. Wir begannen damals gemeinsam zu schreiben. Ich hatte von meinem neuen Partner Steven, einem Clubbesitzer, gehört, dass Dave Audé Erasure-Fan ist. Sein Lieblingsalbum ist „Wild!“, und sein Lieblingssong ist „Blue Savannah“. Meiner auch.
Ich habe ihn in L.A. besucht, und wir haben einfach angefangen zu schreiben. „Don’t You Know“ war einer der ersten Songs, die dabei entstanden sind – so ein Song, der einfach aus dem Nichts auftaucht. Ich hatte ein Handmikro, ein Shure, mit Kabel. Wir hatten ein paar grobe Lyrics auf Papier, er spielte Musik – und plötzlich war die Melodie da. Ich habe zwei komplette Takes gesungen. Der Gesang, den man auf dem Album hört, ist eine Mischung aus diesen beiden Takes.

Wir haben über diesen Zeitraum von zwölf Jahren immer wieder weitergeschrieben. Die zweite Hälfte des Albums entstand in Nashville, weil Dave mit seiner Familie dorthin gezogen ist – er dachte, es wäre dort schöner. Das Album bekam dadurch so einen Gospel-Dance-Touch. Wir hatten einfach Spaß, haben uns immer mal wieder getroffen, auch mal eine Session in Holland gemacht. Wir waren ein bisschen überall. Es gibt sogar noch mehr Songs – aber es gibt ja auch Erasure, was schön ist. Ich finde, es ist gut, mit anderen Leuten zu schreiben.
Sie haben Nashville erwähnt – eine Stadt mit großer Musiktradition. Wie war das für Sie, und hat es Sie beeinflusst?
Es ist ein seltsamer Ort. Wir waren mit Erasure die erste elektronische Band, die in Nashville gespielt hat – im Grand Ole Opry, dieser richtigen Country-Kirche. Wir haben mit Country-Instrumenten gespielt, das war für unser Album „Union Street“, wo wir Erasure-Hits im Country-Stil neu aufgenommen haben. Ich kannte die Stadt also ein bisschen. Sie wächst sehr schnell – ein bisschen wie ein Mini-Las Vegas ohne Glücksspiel.
Aber ich war dankbar, dass ich Orte wie Sun Recordings besuchen konnte – da, wo Elvis, Buddy Holly und auch viele Countrystars aufgenommen haben. Meine Eltern waren große Country-Fans. Für mich war das also eine Art Pilgerreise. Und weil ich in England auf eine Kathedralschule gegangen bin, mussten wir einmal pro Trimester Hymnen in der großen Kathedrale singen. Es ist nicht Gospel im engeren Sinn, aber es ist so eine andere Art von spiritueller Musik, die ich manchmal in meine Songs einfließen lasse. Außerdem hat in Nashville eine Drag-Band angefangen, denn es gibt auch eine queere Szene dort. Ich hatte das Gefühl, dass es meine Verantwortung ist, meine Stimme durch die Songs einzubringen.
Andy Bell: „Mit anderen zu schreiben ist wie, ein Arzt zu sein“
Wie unterscheidet sich die Zusammenarbeit mit Audé von der mit Vince Clarke bei Erasure?
Wenn ich ein sogenanntes Soloalbum mache, ist es nie wirklich solo – es steckt immer ein großes Team dahinter. Mit Vince schreibe ich jetzt fast seit 40 Jahren – nächstes Jahr ist unser Jubiläum. Wir haben 19 Alben gemacht, plus EPs und B-Seiten – also sehr viele Songs.
Mit anderen zu schreiben ist wie, ein Arzt zu sein. Menschen kommen in Ihr Büro, und man schaut, wie die Persönlichkeiten zusammenpassen. Es ist wie ein Gespräch. Man muss sich wohlfühlen, weil man in gewisser Weise die Seele offenlegt. Für mich ist Songwriting genau das: die Seele zeigen. Und ich habe das Gefühl, ich habe es noch nicht ganz geschafft – das ist mein Ziel. Die besten Songwriterinnen für mich sind Sinead O’Connor, Elizabeth Fraser, Kirsty MacColl, Kate Bush – sie sind komplett offen, wenn sie singen. Und man möchte in einer Situation sein, in der man das mit jemand anderem auch kann.
Wie entsteht diese Verbindung? Ist es wichtig, die Person vorher zu kennen?
Manchmal kann das auch mit einem völlig Fremden passieren. Früher war das für mich so in Bars. Es ist dasselbe Gefühl. Aber meistens passt es – ich glaube, man trifft sich aus einem bestimmten Grund. Man spürt eine Affinität oder bewundert etwas an der anderen Person. Und meistens funktioniert es. Es gab nicht viele Situationen, in denen es gar nicht geklappt hat.
Mit welcher Haltung gehen Sie in solche Sessions? Gehen Sie offen rein oder mit einem Plan?
Man sollte fast wie ein leeres Blatt Papier reingehen – ohne vorgefasste Ideen. Außer man hat schon eine musikalische Idee. Als ich Vince zum ersten Mal traf, das war 1985 bei einem Vorsingen, war ich völlig unbekannt. Aber ich hatte das Gefühl, er wäre der perfekte Partner für mich. Ich wollte ihm einen Brief schreiben, ob er einen Sänger braucht. Gleichzeitig antwortete ich auf eine Anzeige in einer Musikzeitung – und die war von ihm! Ich dachte: Das kann kein Zufall sein.
Ich sagte mir selbst: Gehen Sie ins Studio, haben Sie einfach Spaß. Es spielt keine Rolle, was dabei rauskommt. Aber als wir dann gemeinsam arbeiteten, war ich so schüchtern – ich starrte ihn die ganze Zeit nur an und sagte nichts. Er muss mich für einen ziemlich seltsamen Typen gehalten haben.
Als Texter: Wann wissen Sie, worum es auf einem Album inhaltlich geht?
Man fühlt die Worte. Ich glaube an automatisches Schreiben: Einfach den Kopf frei machen, runterschreiben, was kommt – auch wenn es keinen Sinn ergibt. Dann hat man eine Sammlung von Zeilen, die man zum Beat oder zur Musik in der passenden Kadenz ordnen kann. Man kann die Zeilen auch zerschneiden und neu zusammensetzen – wie David Bowie das gemacht hat. Und manchmal weiß ich erst, was ein Song bedeutet, wenn er fertig ist. Dann bekommt er eine eigene Bedeutung, weil andere ihre Gefühle hineinlegen. Der Song ist wie eine Blume, die sich entfaltet.
Sie singen auf dem Album auch über verschiedene Kämpfe – unter anderem den gegen Homophobie. Wie sehen sie hier den Status Quo der Welt, speziell mit der derzeitigen politischen Situation in den USA?
Das war schon immer da. Wir sind in den 60ern geboren – das war eine Zeit des Bürgerrechtskampfs. Eigentlich sollte Gleichheit selbstverständlich sein, aber es war ein riesiger Kraftakt. Auch für Frauen. Es ging darum, einfach man selbst zu sein. Ich mache das seit langer Zeit – und man spürt immer diese unterschwellige Animosität, ob in der Industrie, den Medien, überall.

Aber es ist besser geworden – durch Bildung. Und ich glaube an Evolution. Junge Menschen kommen heute oft schon mit einem Gerechtigkeitssinn auf die Welt. Sie sind fluid, machen keine Unterschiede. Politische Kräfte versuchen dann, das zurückzudrehen – weil diese Menschen frei denken und alte Ideen infrage stellen. Jede Generation hat ihre eigenen Kämpfe. Das ist Teil der Natur – aber für mich ist das manchmal sehr schwer.
Auf dem Album singt auch Debbie Harry. Wie kam es dazu?
Ich liebe Debbie seit 1976. Als Teenager war ich totaler Fan. Wenn mir jemand damals gesagt hätte, dass ich mal mit ihr auf einem Song bin, hätte ich es nicht geglaubt.
Wir haben uns 1990 bei den Aufnahmen zu „Red Hot + Blue“ getroffen – einem Tribute an Cole Porter für eine AIDS-Stiftung. Das war in New York. Plötzlich stand Debbie Harry im Studio. Ich dachte, ich sehe eine Vision. Man kannte diese Menschen ja nur aus Zeitschriften oder Videos. Wir gingen was trinken, hielten dann immer mal wieder Kontakt – aber immer über die offiziellen Wege, über das Management.
Wir haben uns ein paar Mal gesehen, ich war auf ihren Konzerten, sie auf unseren. Sie schickte mal ein Telegramm: „In dieser Stadt ist nur Platz für eine Blondine.“ Dann haben wir mit Cyndi Lauper „True Colors“ gemacht. Jedes Mal waren sie sehr herzlich. Chris Stein sagte einfach: „Hi Andy, komm rein.“ Ich fühle mich fast wie ein Teil ihrer Familie – auch wenn ich natürlich nicht zur Band gehöre. Als wir sie gefragt haben, ob sie bei einem Song mitsingen möchte, sagte sie: Ja. Fantastisch.
Was bedeutet Ihnen der Titel „10 Crowns“? Er klingt ja ziemlich feierlich!
Er ist ein bisschen feierlich, ja – aber für mich auch wie ein Schachspiel, das noch nicht begonnen hat. Ich liebe Tarotkarten – die „Zehn der Münzen“ ist eine der besten. Gleichzeitig hatte ich mir zehn Zahnkronen machen lassen. Und „Crowns“ war auch altes englisches Geld. Es hat also mehrere Bedeutungen.
„Breaking Through the Interstellar“ klingt fast wie Science-Fiction.
Wenn man Synthesizer liebt, liebt man oft auch Sci-Fi. Diese Klänge begleiten viele Serien, Cartoons, Filme. Ich liebe den Sound von Mellotron und Co. – sie bringen einen in andere Welten. Ich spiele keine Games, aber in meinem Kopf reise ich in diese Welten. Das ist eine Reise durchs All – aber im eigenen Kopf. Und der erste Song ist das Ticket dafür.
Sind Sie Synthesizer-Sammler?
Ich habe nicht einen einzigen. Ehrlich gesagt wüsste ich nicht mal, wie man einen anschließt. Ich kann gerade mal meinen Plattenspieler bedienen – und selbst den würde ich wahrscheinlich noch kaputt machen. Ich brauche jemanden, der mit mir arbeitet. Aber ich liebe es, meine Stimme mit diesen Klängen zu kombinieren.
Sie haben gesagt, bei „Don’t You Know“ haben Sie nur zwei Takes gebraucht. Arbeiten Sie generell lieber so?
Ja. Früher habe ich einen Song hundertmal eingesungen – das ist dann ein Riesenschnitt-Marathon. Heute weiß ich schnell, ob es passt. Wenn nicht, lasse ich es liegen. Man merkt beim Singen, ob der Ausdruck stimmt. Ich liebe auch die Spielereien im Studio – für mich ist das wie plastische Chirurgie für die Stimme.
Wie ist das für Sie – wenn Sie Ihre Stimme hören und beurteilen müssen?
Schwierig. Als ich mit Gareth Jones gearbeitet habe, haben wir viele Mikrofone ausprobiert – auch Drum-Mics für ganz nahen Gesang. Man kann sich da verlieren. Junge Produzenten nehmen oft nur ein paar Wörter auf und basteln dann alles zusammen. Das mag ich nicht. Ich will lieber eine ganze Performance aufnehmen.
Können Sie das Album jetzt noch hören – oder sind Sie innerlich schon weiter?
Ich höre es viel – wie früher mit meinen Lieblingsplatten. Ich höre es im Flugzeug, über den Wolken – das fühlt sich nach Freiheit an. Aber wenn es dann rauskommt, bin ich innerlich schon durch damit.
Jetzt erscheint Ihr neues Soloalbum – aber natürlich gibt es auch noch Erasure. Wie geht es da weiter?
Vince hat im Moment eine schwere Zeit in seinem Leben und ist ziemlich weit weggezogen – ganz an die Westküste der USA. Ich habe ihn in seinem neuen Zuhause besucht, und er scheint dort sehr glücklich zu sein. Und wie gesagt: Nächstes Jahr ist unser 40. Jubiläum. Wir schreiben eigentlich die ganze Zeit zusammen. Er und ich treffen uns gerne und schreiben dann – es ist wie in einer Beziehung. Wir gehen essen, machen andere Dinge und fangen dann an zu schreiben. Es dauert immer ein bisschen, bis wir warm werden. Wir haben ein paar Ideen gesammelt – ich würde nicht sagen, dass es schon Songs sind, aber es sind Skizzen, die wir festgehalten haben.
Ob das schon für nächstes Jahr reicht, weiß ich nicht. Aber wir machen gerade ein paar kleine Sachen – das sind Überraschungen.
Wie gehen Sie mit Rückblicken um?
Yeah, ich mag’s nicht, ich hab aber auch nichts dagegen, zurückzublicken. Aber ich schaue nie zurück mit dem Gedanken: Oh, das waren die guten Zeiten, und es war fantastisch, und waren wir nicht großartig und all das – so denke ich nie. Ich denke nur daran, wie es mir geht, wie es uns allen geht – jetzt. Das ist alles, woran ich denke. Vielleicht mit einer vagen Idee, was zu Weihnachten passiert oder nächstes Jahr oder so. Ja, es geht eigentlich immer nur darum, weil wir so beschäftigt sind, glaube ich. Man will einfach nur die Sachen rechtzeitig erledigen.