Aus unheiterem Himmel

In den vergangenen drei Jahren hat sich Jeff Tweedy sein Leben zurückgeholt. Der Songschreiber überwand Depressionen und Tablettensucht, und aus dem früher oft wechselnden Personal von Wilco wurde endlich eine richtige Band, der mit "Sky Blue Sky" prompt das rundeste Album ihrer turbulenten Karriere gelang.

Auf der heiteren Seite des Lebens hat man Jeff Tweedy bisher selten gesehen. Wenn nun das neue Album von Wilco mit der Zeile „Maybe the sun will shine today“ beginnt, dann wundert das keinen mehr als den Sänger selbst. Er muss sogar lauthals lachen bei der Vorstellung, was er vor ein paar Jahren darüber gedacht hätte. „Bestimmt hätte ich nicht auf sowas gewettet. Andererseits habe ich nie irgendetwas ausgeschlossen.“

Die Karriere des Jeff Tweedy war immer bestimmt von Überraschungen, und oft waren es keine positiven. Anfang der 90er Jahre prägte er mit Uncle Tupelo modernen Country-Rock, dann ging Jay Farrar, Tweedy gründete 1994 Wilco, zerstritt sich nach dem grandiosen Album „SummerTeeth“(1999) auch mit Kompagnon Jay Bennett, machte daraufhin mit wechselndem Personal zwei noch bessere Platten – und arbeitet jetzt seit drei Jahren tatsächlich mit der gleichen Besetzung zusammen. Und das auch noch glücklich! Vielleicht klingt das sechste Studio-Album, „Sky Blue Sky“, deshalb so inspiriert? Bassist John Stirratt, der als einziger seit dem Debüt „A.M.“ dabei ist, nennt es „definitiv die zivilisierteste Platte, die Wilco je gemacht haben“. Sieht aus, als habe Tweedy endlich seine perfekte Besetzung gefunden: Schlagzeuger Glenn Kotche und Keyboarder Mikael Jorgensen sind geblieben, Gitarrist Nels Cline und Multitalent Pat Sansone kurz nach dem letzten Album “ A Ghost Is Born“ dazugekommen.

Der Gedanke an die Aufnahmen als Sextett zaubert Tweedy ein Lächeln auf die Lippen, obwohl er noch unter Jetlag leidet und sich in der kleinen Suite eines Hamburger Hotels eher unwohl zu fühlen scheint. Tatsächlich ist er nur ein bisschen muffig, weil er gern Socken der Firma „Falke“ kaufen würde, der dichte Interview-Plan ihm aber keine Zeit dafür lässt. Ein Dilemma, das die Plattenfirma gern löst, um den Künstler bei Laune zu halten. Und schon ist er am Schwärmen: „Die Aufnahmen haben mir viel Freude bereitet. Die Band ist sehr stabil, als Freunde und als Musiker stehen wir uns jetzt sehr nahe. Und ich bin viel gesünder, das hilft natürlich auch. Wir hatten von Anfang an einen gewissen spirit, der bis zum Schluss nicht aufgebraucht war.“

Noch immer sagt Tweedy mal „ich“ und mal „wir“, wenn er von Wilco spricht. Auch wenn er stolz darauf ist, dass jetzt viel mehr „als Kollektiv“ musiziert wird, bleibt es doch dabei: Er präsentiert der Band seine Lieder, dann werden sie gemeinsam ausgearbeitet, mehr nicht. Und doch ist das sehr viel für Tweedy, der die gute Stimmung in der Band zu schätzen weiß: „Ich bin überrascht, wie gut sich sechs Typen verstehen können! Wie schön man im Studio zusammensitzen kann. Ich kenne Situation, in denen es mit weniger Menschen viel komplizierter war. Schwierigere Kommunikation. Probleme, sich zu konzentrieren. Bei uns sagt jetzt jeder seine Meinung, und man einigt sich irgendwie. Keine Ahnung, wie das funktioniert. Ich hoffe nur, das wird sich nicht ändern. Aber wahrscheinlich wird es das, irgendwie.“

„Irgendwie“ sagt Tweedy auch sehr gern, „wahrscheinlich“ und „vielleicht“, „I guess I think“ und „I tend to believe“. Er legt sich nicht so gern fest – außer in seiner Musik. Es besteht überhaupt eine große Diskrepanz zwischen der feinsinnigen, fantasievollen Musik, die Tweedy erfindet, und seiner wenig eloquenten, eher schroffen Art zu sprechen, die nicht abweisend oder absichtlich patzig wirkt, sondern eher so, als könne er nicht anders, selbst wenn er nicht so müde wäre. Wie präzise dagegen seine Stücke sind, gerade auf „Sky Blue Sky“. Kein Song länger als sechs Minuten, keine Störgeräusche diesmal. Tweedy hat lange an der Abfolge der Lieder gearbeitet und Unpassendes gestrichen: „Man muss skrupulös sein und an den Gesamteindruck denken – egal, wie sehr man einzelne Song mag. Ich mag und respektiere die Kunstform des Albums sehr, mehr als die Songs. Das Album muss man von Anfang bis Ende hören können, und dafür braucht es einen emotionalen Bogen oder eine Geschichte. Einen Sinn. Manche Stücke, so gut sie sein mögen, zerstören diese Einheit.“ Sagt der Mann, der noch auf „A Ghost h Born“ den 12-Minuten-Lärm „Less Than You Think“ integrierte. Tweedy gickelt und nickt: „Wir haben da in der Vergangenheit einige Fehler gemacht, manches hat zu sehr vom ganzen Album abgelenkt. Das kam nur von dem Wunsch, zu viel sagen zu wollen. Diesmal wurde zufällig alles eher prägnant, weniger ausufernd.“

Es war auch nur ein Zufall, dass die Band diesmal selbst produzierte, statt wie gewohnt an den Freund Jim O’Rourke zu übergeben. Der war diesmal „nur“ für die Streicher-Arrangements zuständig – leider, findet Tweedy. „Er lebt jetzt in Tokio, macht viel Filmkram und konnte deshalb nicht so viel für uns tun. Wir haben das allein auch ganz gut hinbekommen, denke ich.“

Im Titelsong singt Tweedy fast abgeklärt „I survived/ That’s good enough for now“ – sein momentanes Motto? „Das deutet auf jeden Fall auf den roten Faden des Albums hin. Ich versuche ja immer, mit meinen Platten irgendwas zu kommunizieren. Diese Zeile stellt aus, was ich sehr stark empfinde: eine gewisse Akzeptanz. Nicht unbedingt Frieden oder Glück oder Entspannung, sondern Akzeptanz. Fähig zu sein, die Dinge so zu sehen, wie sie sind – nicht so, wie wir sie gern hätten.“ Er macht eine lange Pause, seufzt und setzt dann noch mal zu einer Erklärung an: „Leider hat ja fast jeder… nein, jeder schwierige Phasen im Leben. Jeder erfährt Verluste und schlimme Verletzungen und Enttäuschungen und so weiter… Wenn ich von Akzeptanz rede, dann denke ich immer an etwas, das mir in meinem Leben sehr geholfen hat, vielleicht mehr als alles andere – vielleicht nur eine banale kleine Phrase, die aber sehr wahr und hilfreich ist, wenn man sich darauf konzentrieren kann: This too shall pass.“

Als wolle er abwarten, ob das richtig angekommen ist, kneift er kurz die Augen zusammen – und redet plötzlich erstaunlich viel. „Das ist vielleicht nichts Profundes, aber es kann ein großer Trost sein, wenn man wirklich daran glaubt: Alles geht vorbei. Man ist vielleicht gerade nicht glücklich, aber man kann sich damit trösten, dass man noch lebt, dass es irgendwann schon wieder bergauf gehen wird, einfach weil das immer so ist. Und dann wieder bergab, (lacht) Das ist für mich die ultimative Hoffnung. Man kann die Enttäuschungen und das Leid überwinden. Man kann die Kämpfe im Leben transzendieren. Darauf kann man sich konzentrieren. Oder man konzentriert sich darauf, dass das Glück vergänglich ist. Das kommt mir aber nicht so produktiv vor.“ Noch eine lange Pause. „Yeah.“

Das Leben von Jeff Tweedy dreht sich stets um Produktivität, und es ist nicht so sehr das Endergebnis, das Album, das für ihn entscheidend ist, als vielmehr das Schaffen selbst. Deshalb ist es ihm relativ egal, wie seine Songs da draußen ankommen und was andere dazu zu sagen haben. Wichtig ist, dass es weitergeht. „Ich will gar nicht irgendwo angekommen und perfekt sein, sondern immer Weiterreisen. Ich will nur fleißig bleiben und den kreativen Akt vorantreiben – so gut, wie ich eben kann. Für mich ist das Songschreiben eine große Freude, und ich empfinde es als Privileg, dass ich das machen darf.“

Es ist ja ausgiebig dokumentiert worden, dass Tweedy nicht immer so zufrieden war. Als die Veröffentlichung von „A Ghost Is Born“ anstand, lieferte er sich selbst in eine Klinik ein, weil er – beim verzweifelten Versuch, Angststörungen und Depressionen zu bekämpfen – medikamentenabhängig geworden war. Damals dachte er daran, alles hinzuschmeißen: „Als ich vor drei Jahren ins Krankenhaus ging, war ich bereit, den Handel einzugehen: Wenn ich mich dann besser fühlen würde, spiele ich nie wieder Gitarre oder schreibe nie wieder einen Song. Alles wäre mir lieber gewesen, als mich weiter so zu quälen. Aber zum Glück musste ich dieses Geschäft nicht machen.“

Die Ärzte bestätigten ihm, dass die musikalische Seite seines Lebens das kleinste Problem war und ihm die Arbeit tatsächlich Trost spendete, also der Gesundung überhaupt nicht im Weg stand. Heute fällt ihm auch das Songschreiben leichter als früher, er spricht von „mehr Struktur“ und „größerer Sicherheit“, manchmal genießt er das Leben geradezu. Und doch kann er die Angst vor einem Rückfall nicht ganz abschütteln. „Wenn man einmal unter einer Abhängigkeit gelitten hat, oder unter Panikattacken und Depressionen, dann ist es unmöglich, nicht zu befürchten, dass das alles zurückkehrt. Bei mir ist rein biologisch klar, dass manches wieder passieren wird, damit muss ich irgendwie umgehen, für den Rest meines Lebens. Aber die Abhängigkeit muss ich nicht noch mal ertragen – solange ich dann entsprechend reagiere. Ich weiß jetzt ja, dass es schlimmere Dinge gibt als depressiv zu sein. Ich weiß, wie sich der Zustand anfühlt, und so sehr er einem momentan Angst macht: Ich weiß, dass er vorübergeht.“ This too shall pass.

Zurzeit gibt es allerdings wenig Grund zur Besorgnis. „Ich habe mich noch nie so wohl gefühlt, so fähig und so unterstützt, von Band, Freunden, Familie. Meine Frau und meine Kinder genießen unseren Lebensstil. Es ist ja nicht gerade ein rock’n’roll lifestyle, aber sie finden es cool, dass Daddy ins Studio geht und Musik macht, sie kommen vorbei, bringen Pizza und hängen mit uns rum. It’s a charmed existence. Ich bin ein Glückspilz, dass sich mein Leben so entwickelt hat. Und ich habe das Gefühl, dass ich dafür nicht viele Kompromisse eingehen musste.“

Womit er sein Licht – oder seine Sturheit – freilich ein wenig unter den Scheffel stellt. Als ihre damalige Plattenfirma im Jahre 2001 beschloss, „Yankee Hotel Foxtrot“ nicht zu veröffentlichen, wären andere vielleicht zurück ins Studio gegangen. Wilco saßen den Ärger aus, wechselten schließlich das Label – und „Yankee Hotel Foxtrot“ wurde zum bestverkauften Album der Band. Tweedy ist zufrieden mit der Karriere, auch wenn er sich durchaus mehr vorstellen kann: „Wir können uns ein angenehmes Leben leisten, das ist für mich genug Erfolg. Aber ich würde die Herausforderung, mit mehr Geld umzugehen, gern annehmen! Ich hätte auch gern ein noch größeres Publikum, damit könnte ich sicher was anfangen. Genauso käme ich allerdings mit weniger klar.“

Fragen wir zum Schluss noch kurz nach den Einflüssen, die auf „Sky Blue Sky“ angeblich zu hören sind, wenn man all den Rezensenten glaubt. Die Jahre 1969/70 scheinen es Tweedy besonders angetan zu haben. Er lacht auf und sagt:

„Really?“

Ein paar Namen: Grateful Dead? „Ich bezweifle, dass sie etwas mit diesem Album zu tun haben. Ich lehne die Band nicht ab, wie das so viele Leute tun, aber ich bin sicher kein Deadhead. Ich kenne ein paar Alben, das ist alles.“ King Crimson? Van Morrison? „Dasselbe. Kein großer Fan. Ich bewundere ein paar Platten, kenne einige sehr gut und viele andere nicht so.“ John Phillips?

„‚The Wolfking Of LA.‘ ist halt ein Album, das letztes Jahr wiederveröffentlicht wurde, deshalb kommen die Leute jetzt immer darauf. Nein, die Platte kenne ich gar nicht. John und Pat mögen sie, aber ich weiß nichts darüber.“

The Beatles, „Abbey Road“ vielleicht?

„Klar! Alle sechs Typen in Wilco, alle Typen und Mädchen in unserem Alter, die meisten Musiker, wenn nicht alle, zählen die Beatles zu ihrem Vokabular. Das ist, als zitiere man Shakespeare oder die Bibel. Selbstverständlich. Wenn man je die Beatles bezweifeln sollte, dann muss man nur anschauen, wie ein kleines Kind auf ihre Musik reagiert: pure Freude! Das ist universell, die Magie – ich hab’s bei meinen eigenen Kindern erlebt. Der Charme, die Persönlichkeiten, die Melodien – das nimmt einen gefangen. Egal, wie alt man ist.“

Und dann sagt er, gefragt, ob er zur Lennon- oder McCartney-Fraktion gehört: „Ich bin für Ringo, George, Paul und John. Ich bin für die Gruppe.“ Wenn das kein Wink für Wilco ist.

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