Balzerblues mit Vindicatrix und Holly Herndon

Jens Balzer, Redakteur im Feuilleton der "Berliner Zeitung", schreibt für uns einmal im Monat den Balzerblues. Die neue Folge seiner Kolumne für den ROLLING STONE widmet sich verkopfter Computermusik.

Die neue Kolumne „Balzerblues“ sucht im Halbdunkel des Popuntergrunds nach leuchtenden Pfaden, spürt neuen Trends und Entwicklungen nach. Ihr Autor ist Jens Balzer, Redakteur im Feuilleton der „Berliner Zeitung“, einer der besten und umstrittensten Popjournalisten des Landes. Diese Ausgabe Kolumne für den ROLLING STONE widmet sich verkopfter Computermusik. Die Kolumne gibt es natürlich immer zuerst in unserem Printmagazin – und wenige Wochen nach Veröffentlichung auch online zu lesen.

Quetschen! Dehnen! Pressen! Pressen! Und dann wieder quetschen und dehnen! Der britische Baritonsänger David Aird alias Vindicatrix macht dort weiter, wo Scott Walker aufhört: Er singt seine rätselhaft lyrischen Texte ebenso virtuos und dunkelbunt funkelnd; doch ist er dabei sogar noch rücksichtsloser in der Grobheit gegen die eigene Stimme. Er wringt sie und zwingt sie in möglichst ungemütliche Lagen und treibt ihr jede vordergründige Schönheit aus. Kaum, dass in seinen Liedern sich einmal eine Melodielinie ausformen darf; und dennoch ist sein Gesang hoch auratisch und faszinierend.

„Die Bösen Alten Lieder“ hieß sein Debüt aus dem Jahr 2010, darauf interpretierte er beispielsweise die zuvor schon von Franz Schubert vertonte Thomas-Percy-Ballade „Edward, Edward“: „Dein Schwert! Wie ist’s von Blut so rot? Ich hab geschlagen meinen Geier tot!“ Die im folgenden Jahr veröffentlichte 12-Inch-Single „Hume“ enthielt eine 14-minütige Zeitlupenversion von Michael Jacksons „Human Nature“, dargeboten in einem quälend zerdehnten Kunstsängerstil über einem lethargisch dahinklappernden Rhythmus und einem um Erlösung aus ewiger Verdammnis flehenden Chor. Toll!

Noch besser ist nun die neue Doppel-LP „Mengamuk“ (Mordant) geworden; das titelgebende Wort ist der malayische Ausdruck für gewalttätigen Aufruhr. In den neun darauf zu hörenden Stücken errichtet Vindicatrix mit schwellenden Streichern und metallischem Schaben schillernde Klangflächen, über denen seine Stimme in kalkulierter Unschärfe schwebt. Gelegentlich hoppelt auch keck ein kleiner Dubstep-

rhythmus davon. „Truceless Warfare“ entfaltet sich über silbrigen Drones und einem herzschlagartigen Puls; „Remote Viewers“ klingt mit Klackerrhythmus und ornamental darüber gestreuten Stimmschnipseln wie ein zerrupftes Techno-Stück. Faszinierend, wie Vindicatrix seinen Gesang in diese Geräuschbilder flicht und immer wieder – auch das unterscheidet ihn von Scott Walker – darin verschwinden lässt. Er macht seine Stimme nicht nur zum Instrument, sondern zu einer Klangquelle unter vielen in einem erregenden Dissonanzenensemble.

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Auch auf „Movement“ (RVNG), dem Debütalbum von Holly Herndon, ist die Stimme das wichtigste und charismatischste Instrument; man kann sogar sagen: Fast alles, was man hierauf hört, hat die Künstlerin mit elektronischen Mitteln aus ihrem eigenen Gesang, aus gesprochenen Worten und Atemgeräuschen erzeugt. Man hört untertourig industrialartiges Rumpeln und Pumpeln, rhythmisch geschredderte und wieder vernähte Herumgeschreifetzen, aber auch heiter und tanzbar sich emporschwingende Techno-Tracks wie das fabelhafte „Fade“.

Holly Herndon hat gerade in San Francisco ihr Kompositionsstudium beendet, vorher verbrachte sie fünf Jahre in Berlin. „Movement“ ist denn auch gleichermaßen von der konzeptuellen Strenge der akademischen Computermusik geprägt wie von der körpererschütternden Wiederholungsästhetik des Berliner Techno. Unbedingt originell ist hingegen die Weise, in der Herndon dabei sich selber zum Gegenstand macht. Sie moduliert und manipuliert ihre Stimme so, dass sie weder „natürlich“ noch „artifiziell“ klingt – am eindrucksvollsten in dem Stück „Breathe“, in dem sie ihre Atemgeräusche zu einem Cyborgschnarren verfremdet und dieses dann mit romantischem Weichzeichner filtert. Wo Vindicatrix die Grenze zwischen Gesang und Begleitung, zwischen musikalischem Vorder- und Hintergrund verwischt, hebt Holly Herndon gleich den gesamten Unterschied zwischen sich selbst und ihren Maschinen auf. Wenn es Nacht wird, dann träumt sie von elektrischen Schafen.

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Diesmal vorgestellt:

Vindicatrix – „Mengamuk “: ****

Holly Herndon – „Movement “: ****

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