Bruce Springsteen: Die besten Veröffentlichungen aus der „Archive Series“ (10): Schottenstein Center, Columbus, Ohio, 31/7/2005

Ich möchte euch doch nur lächeln sehen: Zehn Jahre nach der „Tom Joad“-Tour ist Springsteen wieder solo mit dem Album „Devils & Dust“ unterwegs. Und spielt mitunter die wildesten Setlists seiner Karriere: mit lange verschütteten Liedern, umarrangierten Klassikern – und einem Arschfick-Song. Ja, alles kann passieren auf dieser Tour: Jubel, Trubel und Tiraden

Aktuell 43 Live-Mitschnitte, aufgenommen zwischen 1975 und 2013, bietet Bruce Springsteen auf seiner Website in der „Archive Series“ in verschiedenen Formaten zum Download an. In der Regel erscheint am ersten Freitag jedes Monats eine neu abgemischte Archiv-Show.

Welches Konzert hatte die schönste Setlist? Wo war der Sound am besten? Ein Springsteen-Guide als Serie, zum 70. Geburtstag des Musikers: Aufnahmen, die man kennen muss.

Die Autoren:

Lutz Göllner ist Redakteur im Medienressort der Berliner Stadtmagazine „zitty“ und „tip“. Bei einem USA-Aufenthalt hat er 1974 erstmals Springsteen gehört, fühlte sich als Kind und Jugendlicher immer wie ein Loser, bis er merkte: Er selber ist die Hauptfigur in Springsteens epischen Songtexten – über Loser. Er hält „Darkness On The Edge Of Town“ für die beste LP aller Zeiten.

Erik Heier ist stellvertretender Chefredakteur von „tip“ und „zitty“, erlebte 1988 in Weißensee sein erstes Springsteen-Konzert, musste aber 28 Jahre ausharren, bis er endlich seinen Lieblingssong „Backstreets“ bei seiner elften Show live zu hören bekam. Jetzt wartet er noch auf „Lost in the Flood“.

Bruce Springsteen: Die besten Veröffentlichungen aus der „Archive Series“ (10): Schottenstein Center, Columbus, Ohio, 31/7/2005

von Erik Heier

Bruce Springsteen 2005

Bruce Springsteens Image eines Crowdpleasers ist ziemlich schwer zu erschüttern. In den Arenen und Stadien knüppelt er mit der E Street Band auf den letzten Touren schon mal Gassenhauer an Gassenhauer raus. Das kracht dann wie Hölle, ist aber oft auch so subtil wie der „Born In The U.S.A.“-Refrain aus fünfzigtausend beständig biergeölten Kehlen. Das bislang letzte Konzert 2016 in Berlin war zum Beispiel mehr oder minder eine dreieinhalbstündige Kettenreaktion des Stadionrocks. „One-two-three-four!“ Ihr wollt es doch auch. Ja sicher.

Und dann gibt es zum Beispiel die „Devils & Dust“-Tour von 2005.

Auf dieser Solotour zeigte Springsteen, dass ihm das Publikum auch ziemlich wumpe sein kann. Und zwar von Anfang an. Grumpy old Bossman. Die Resultate sind überraschend, mitunter verstörend. Und oft genug auch: berauschend. Vor allem aber hat diese Tour die vielleicht ungewöhnlichsten Setlists seiner Karriere. An jedem Abend kann buchstäblich alles passieren. Und oft genug passiert es auch.

Alles, nur keine Hits. In aller Regel kein „Born To Run“. Kein „Thunder Road“. Und, Gott bewahre, kein „Born In The U.S.A.“. Von wegen: Crowdpleaser.

Allein das hier vorliegende Konzert aus Columbus, Ohio, beginnt mit zwei Songs, die jeglichen casual Besucher, der an dem Abend aus Versehen in das Schottenstein Center geraten ist, sofort aus der Kurve hauen müssen. Als Opener („This is obscure!“) singt Springsteen im überaus gewöhnungsbedürftigen Falsett-Stil das bislang noch nie und danach auch nie wieder gespielte „Lift me up“ vom Soundtrack für John Sayles’ Film „Limbo“ (1999). Als nächstes haut er den armen Leuten vor ihm eine stiefelstampfende, bis zur baren Unverständlichkeit Vocoder-stimmverzerrte Delta-Blues-Zumutung des „Nebraska“-Schlusstracks „Reason to believe“ um die Ohren, wie man sie eher einem Tom Waits mit besonders schlechter Laune zuordnen würde.

Mehr zum Thema
Bruce Springsteen: Die besten Veröffentlichungen aus der „Archive Series“ (9): The Roxy 1975

Zehn Jahre zuvor war Springsteen mit einem Haufen Akustikgitarren zum düsteren, gleichfalls ohne die E-Street-Band sanft countryesk arrangierten Storytelling-Album„The Ghost of Tom Joad“ durch die Lande gezogen. In dieser Zeit entstehen auch die meisten Songs, die erst 2005 auf „Devils & Dust“ erscheinen werden. Einige spielen wieder im Westen, handeln von Flüchtlingen, von verlorenen Seelen, von Drogendealern. Andere besingen Mutter-Kind-Verhältnisse. „Reno“ erzählt von einem irgendwie ziemlich traurigen Huren-Besuch, es gibt darin, eine echte Rarität in Springsteen-Songs, eine überaus explizite Arschfick-Referenz, die ihm erstmals auf dem „Devils & Dust“-Cover einen Warnsticker für besorgte Elternbürger einbringt.

Anders als auf„The Ghost of Tom Joad“ sind aber auf „Devils & Dust“ auch zwei, drei arglos luftige Liedchen darauf. Das Titelstück, eine beklemmend großartige, politisch überaus explizite Moritat eines Soldaten im Irakkrieg, ist eines der wenigen wirklich neu geschriebenen Stücke (die E Street Band hat sich auf der vorherigen „The Rising“-Tour mal in einem Soundcheck an einer Frühversion davon versucht).

Mit der Kettensäge durchs Publikum

Es ist klar, mit diesen Songs wird er die E Street Band nicht mit auf Tour nehmen. Springsteen probt zunächst mit einer kleinen Backing Band, Nils Lofgren ist auch dabei, aber dann entscheidet er sich doch für eine Solotour. Anders als 1995 aber verlässt er sich nicht ausschließlich auf seine unterschiedlich gestimmten Gitarren. Wie weiland 1990 bei den Christic Shows und viel später im Walter Kerr Theater am Broadway steht auf der Bühne ein Klavier, auch elektrisch verstärkte Gitarren kommen zum Einsatz. Im Laufe der Tour musiziert sich Springsteen mit erstaunlicher Unbekümmertheit durch eine Vielzahl von teils ungewohnten, teils nachgerade obskuren Musikinstrumenten. Ein E-Piano, das er auf Ebay geschossen hat. Banjo, Ukulele, Zither. Eine Pumpenorgel. Und off-stage fügt Alan Fitzgerald dezent ein bisschen Keyboard-Atmo hinzu.

Bruces Stimmungslage ist auf dieser Tour durchaus volatil. Gleich zu Anfang der Shows droht er schon mal, mit einer Kettensäge durchs Publikum zu pflügen, sollte nicht die für die Songs gebotene Ruhe in der Halle herrschen. Einmal führt seine beachtlich leichte Reizbarkeit in dieser Zeit fast zu einem Eklat, als ein Lautsprecher ausfällt, Springsteen die Beschwerden der Fans falsch deutet und ihnen, „Shut the fuck up!“, das Verlassen der Halle vorschlägt, ehe sich die Sache klärt. Der Gig ging glücklich zu Ende und als „Attack Of The Relatives“-Bootleg in die Annalen ein.

In Columbus ist der Boss dagegen in bester Laune. Er albert sich durch eine Fülle von stellenweise hochkomischen Anekdötchen. Gleich zu Beginn erzählt er von dem „Devils“-Track „Long Time Comin‘“ von einer der ersten Teenager-Partys seiner Kinder, „ein weitere Schritt der elterlichen Entwicklung: von der wohlwollenden Hand Gottes, der allmächtigen, alles wissenden Gestalt – zum tolerablen Idioten mit dem Geld – bis zum fucking Idioten mit dem Geld“. Danach erläutert er vor einer grandiosen, auf dieser Tour häufig gespielten Piano-Version des 1972er Klassiker „For you“ die Ansicht seines Vaters, alle Liebeslieder wären Regierungspropaganda, „und das hat mich 30 Jahre davon abgehalten, Liebeslieder zu schreiben“.

Bruce Springsteen

Vor dem gleichfalls vom neuen Album stammenden „Jesus was an Only Son“ erläutert er anhand einer fangemachten Grafik Abend für Abend unfassbar komisch die Nachbarschaft seiner Kindheit zur Kirche, die mit ihren Hochzeiten und Begräbnissen eigentlich eine ständige „Free Show“ gewesen wäre. Und dass er wegen seiner Scheidung aus der Kirche geflogen sei, was ihm ein schlechtes Geschäftsmodell dünkt, weil Leute wie er andernfalls erst recht jede Menge Cash in den Klingelbeutel tun könnten. Das wäre ja wie: „Du bist geschieden? Du kannst nicht zur Show kommen. Das ist bad business!“

Aber Zeit für den Ernst der Lage der Nation bleibt natürlich auch. Setcloser ist bei der Tour stets „Matamoros Banks“, ein neuer, sehr eindringlicher Song, der die Geschichte eines im Grenzfluss Rio Bravo ertrunkenen Migranten rückwärts erzählt. Bevor Springsteen ihn mit Mundharmonika und akustischer Gitarre intoniert, mahnt er: „Sie kommen, um die dreckigsten und härtesten Jobs zu tun, die wir haben. Wir brauchen dringend eine humanere Einwanderungspolitik.“

Daran hat sich seit 2005 bekanntlich nichts geändert. Im Gegenteil.

Jede „Devils & Dust“-Shows – in der Live-Series sind bislang drei veröffentlicht – bietet neben den gut geölten Tourstandards mindestens drei, vier Raritäten, die man mindestens in der Soloversion noch nie gehört hat. Oder aber die stellenweise jahrelang auf keiner Setlist auftauchen.  Mitunter bringt sich Springsteen gerade bei diesen spärlich geprobten Stücken  an die Grenzen seiner  musikhandwerklichen Versiertheit, was ihn überhaupt nicht daran hindert, diese zu überschreiten und sich hinterher darüber lustig zu machen, wenn er es tatsächlich ohne größere Hänger durch die Stücke schafft (was nicht immer gelingt).

„Valentine’s Day“ als Schocker

In Columbus ist dies zum Beispiel eine E-Piano-Version des 1995 bei der „Greatest Hits“-Session eingespielten, erst drei Jahre später in der Sechs-CD-Outtake-Box „Tracks“ veröffentlichten Liebesliedes „Back in your Arms“. Weitere Seltenheiten sind ein psychodelisch paranoides „State Trooper“ von „Nebraska“ auf der Gretsch-Gitarre, die allererste Soloversion des auch auf „Tracks“ veröffentlichten „Born in the U.S.A.“-Outtakes „Cynthia“, eine wahrhaft majestätische Klavier-Version von „Lost in the Flood“, wie „For you“ vom Debüt „Greetings from Asbury Park N.J.“ (1972) oder auch, kurz vor Ende des Sets, ein schmissiges „Further on (up the Road)“ von „The Rising“ (2012).

Und es gibt in dieser Show gleich drei Stücke vom bis auf ein, zwei Songs live ansonsten nahezu vollständig ignorierten, von Fans regelmäßig hoch in die Springsteen-Bestenlisten votierten 1988er „Tunnel of Love“-Album zu erleben: „One Step up“, „When you’re alone“ und, als echten Schocker, in einer weiteren donnernden Pianoversion, „Valentine’s Day“, das auf dieser Tour überhaupt zum ersten Mal in einem Konzert gespielt wurde und die introvertierte LP-Version geradezu blass erscheinen lässt.

Auch die anderen beiden „Devils & Dust“-Konzerte, die bislang Teil der Archive-Serie sind, bestechen mit außerordentlich seltenen Versionen. In Grand Rapids, gerade mal vier Tage später, eröffnet Springsteen mit „Tunnel Of Love“ auf dem E-Piano von Ebay, spielt darauf auch „Nothing Man“ von „The Rising“, dazu auf dem großen Klavier „The River“, „Drive all Night“ und „Racing in the Street“ und im Zugabenteil die vielleicht beste Soloversion von „It’s hard to be a Saint in the City“ und außerdem den ultra-raren „Tunnel of Love“-Opener „Ain’t got you“ auf der Gretsch-Gitarre. Beim Tourfinale in Trenton übertreibt er es ein bisschen zwar mit dem Bullet-Mic, zieht aber die 70er-Outtakes „Zero and Blind Terry“, „Thundercrack“ und das bislang offiziell nirgendwo veröffentlichte „Song for Orphans“ aus dem Ärmel: „Das ist ein Song für die, die mehr über mich wissen als ich selbst.“

Es wird mehr als zehn Jahre dauern, bis zum einjährigen Broadway-Gastspiel, eher man Springsteen wieder in einem derartigen Solosetting wird erleben können. So sehr bei sich, im Abenteuerurlaub, mit allen Schwankungen. Als wäre die Maske, diese „Brilliant Disguise“ der großen Bühne hier und jetzt nicht erforderlich, nicht dieses Mal. Vielleicht wird man ihn nie wieder so sehen auf einer Tour. Wer weiß das schon.

Und zum Abschluss zelebriert Bruce Springsteen auf dieser eigentümlichen Pumporgel eine der unnaheliegendsten Cover-Versionen überhaupt, „Dream Baby Dream“ von Suicide, in einer auf- und abschwellenden, mantraartigen, manchmal zehn-und-mehrminütigen, durch Mark und Bein pulsierenden Großartigkeit. „Come on and dream baby dream“, beschwört er immer wieder,  und: „I just wanna see you smile“.

Irgendwann steht er von der Orgel auf, die Klänge mäandern wie von Zauberhand von alleine weiter auf und ab, und geht vor zum Bühnenrand, das Mikrofon in der Faust. Ein Prediger, ein Magier, ein Hexer, ein Freund. Und er verwandelt dabei Abend für Abend jede noch so öde Mehrzweckhalle in eine gottverdammte Kathedrale. Es ist eigentlich nicht zu beschreiben, man muss es selbst erlebt haben, buchstäblich am eigenen Leibe. Selbst diese großartig abgemischte Live-Aufnahme kann den Eindruck nicht reproduzieren, den dieses letzte Lied des Abends hervorruft, das seit seinem Debüt Mitte Mai alle Konzerte der „Devils  & Dust“-Shows bis zum Tourfinale Ende November in Trenton beschließen wird. Wer danach geht, geht mit weichen Knien.

Und mit einem ungläubigen Lächeln auf dem Lippen.

Setlist:

LIFT ME UP / REASON TO BELIEVE / DEVILS & DUST / LONESOME DAY / LONG TIME COMIN‘ / BACK IN YOUR ARMS / FOR YOU / STATE TROOPER / CYNTHIA / ONE STEP UP / RENO / WHEN YOU’RE ALONE / VALENTINE’S DAY / LOST IN THE FLOOD / THE RISING / FURTHER ON (UP THE ROAD) / JESUS WAS AN ONLY SON / TWO HEARTS / THE HITTER / MATAMOROS BANKS / RAMROD / BOBBY JEAN / THE PROMISED LAND / DREAM BABY DREAM

Videos der Tour (leider keine aus Columbus vorhanden):

„Dream Baby Dream“ aus Berlin, ICC, 28.6.2005

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

„Long Time Coming“ aus East Rutherford, New Jersey, 19.5.2005 mit Introduction:

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

„Lift me up“, fanmade Video, Studioversion:

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

„Devils & Dust“, live 2006 bei den „Grammys“, Einführung von Tom Hanks:

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

KMazur WireImage for New York Post
Harry Scott Redferns
Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates