Bruce Springsteen: Die besten Veröffentlichungen aus der „Archive Series“ (6): Freehold, NJ 1996, Saint Rose Of Lima School Gym

Darf man in einer katholischen Schule über Cunnilingus singen? Dort jedenfalls hatte der „Boss“ seinen ersten Steifen auf der Tanzfläche. Kein Wunder also, dass Springsteen mit einer Mischung aus Wehmut und galligen Humor an den Ort seiner Jugend zurückkehrte. Springsteen spielt dort für SEIN! Publikum, das Salz der Erde.

Aktuell 43 Live-Mitschnitte, aufgenommen zwischen 1975 und 2013, bietet Bruce Springsteen auf seiner Website in der „Archive Series“ in verschiedenen Formaten zum Download an. In der Regel erscheint am ersten Freitag jedes Monats eine neu abgemischte Archiv-Show.

Welches Konzert hatte die schönste Setlist? Wo war der Sound am besten? Ein Springsteen-Guide als Serie, zum 70. Geburtstag des Musikers: Aufnahmen, die man kennen muss.

Die Autoren:

Lutz Göllner ist Redakteur im Medienressort der Berliner Stadtmagazine „zitty“ und „tip“. Bei einem USA-Aufenthalt hat er 1974 erstmals Springsteen gehört, fühlte sich als Kind und Jugendlicher immer wie ein Loser, bis er merkte: Er selber ist die Hauptfigur in Springsteens epischen Songtexten – über Loser. Er hält „Darkness On The Edge Of Town“ für die beste LP aller Zeiten.

Erik Heier ist stellvertretender Chefredakteur von „tip“ und „zitty“, erlebte 1988 in Weißensee sein erstes Springsteen-Konzert, musste aber 28 Jahre ausharren, bis er endlich seinen Lieblingssong „Backstreets“ bei seiner elften Show live zu hören bekam. Jetzt wartet er noch auf „Lost in the Flood“.

Bruce Springsteen: Die besten Veröffentlichungen aus der „Archive Series“ (6): Freehold, NJ 1996, Saint Rose Of Lima School Gym

von Lutz Göllner

Bruce Springsteen 1996

„Ich hab‘ meinem Kumpel Steve erzählt, dass ich Freitagabend auftrete. ‚Wo?‘ ‚In meiner katholischen Kirche.‘ Und er sagt ‚Oh, Rache!‘ Ich antwortete ‚Nein. Naja, vielleicht ein kleines bisschen‘.“

Springsteens erste „Solo Acoustic“-Tour war lang – von November 1995 bis Mai 1997 – und düster. „’The Ghost Of Tom Joad‘ schildert die Auswirkungen einer während der Achtziger und Neunziger immer weiter aufgehenden Wohlstandsschere und wie schwer damit das Leben für diejenigen wurde, die mit harter Arbeit und Opferbereitschaft Amerika gestaltet hatten“, schrieb Bruce in seinen Memoiren „Born To Run“. Und so ziemlich in der Mitte dieser Tour, die in Europa begann, durch die USA, Australien und Japan zurück nach Amerika führte, stand eine Heimkehr: ein Auftritt in der Sporthalle/Aula der Saint Rose Of Lima Schule in Freehold, New Jersey. Hier war Springsteen zuletzt im April 1967 mit seiner ersten Band, den Castiles, aufgetreten.

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Noch früher fanden hier die Tanzabende der Catholic Youth Organization statt, wie Springsteen sich erinnert: „Dort, hoch oben auf der schattigen Tribüne, bekam ich meinen ersten Kuss (Maria Espinosa!), dort hatte ich meinen ersten Steifen auf der Tanzfläche (…).“ Kein Wunder also, dass Springsteen mit einer Mischung aus Wehmut und galligen Humor an den Ort seiner Jugend zurückkehrte.

Top of the world, Ma!

Den Anfang macht ein seelenvolles Neuarrangement von „The River“, bei dem die Violinistin der E Street Band, Soozie Tyrell, den Boss mit seiner Gitarre (im Vorfeld der Tour hatte Springsteen seine Zupftechnik perfektioniert) und Mundharmonika begleitet. Es folgt eine Mischung aus „Darkness“- und „Nebraska“-Songs, die in diesen reduzierten Versionen noch eindringlicher wirken. „The Wish“ ist dann die rührende Geschichte von Springsteens Mutter Adele, die ihrem Sohn den dringlichsten Wunsch seines Lebens erfüllte: eine japanische Gitarre zu Weihnachten. Top of the world, Ma!

Einen anderen Wunsch scheint Springsteens Ehefrau Patti Scialfa regelmäßig perfekt nachzukommen. In „Red Headed Woman“ geht es jedenfalls unter anderem darum, einer Frau einen zu blasen. Darf man in einer katholischen Kirche über Cunnilingus singen? „Ich habe das vorher Vater McCarron gefragt“, erzählt Springsteen gut gelaunt, „er antwortete ‚Ich bin mir nicht sicher.“ Ich hab‘ das als ein ‚Ja!‘ genommen.“ Für die Kinder im Publikum erklärt Springsteen dann noch schnell das Wort Cunnilingus: „Das ist Latein für „Räum bitte dein Zimmer auf!“ Ist doch schön, wenn man in der Schule etwas fürs Leben lernt.

Und da bekanntlich die eigenen Witze immer die besten sind, hört man Springsteen während der nächsten Songs, bei denen er von Scialfa und Tyrell begleitet wird, immer wieder kichern und lachen. Mit „Open All Night“ gibt es dann eine Rückkehr zu den düsteren „Solo Acoustic“-Themen, gefolgt von der Delta-Blues-Version von „Born In The U.S.A.“ und den aktuellen, von John Steinbeck inspirierten Geschichten von der staubigen und blutigen Grenze zu Mexico. „Ghost Of Tom Joad“ widmet er seiner Lehrerin Schwester Charles-Marie. Es sind diese Songs, in denen Springsteens Nähe zu Poeten wie Raymond Carver und Cormac McCarthy deutlich wird.

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Natürlich ist „Growin‘ Up“ („… when they said ‚come down‘ I threw up …“) ganz und gar großartig, schließlich wird es hier an dem Ort gesungen, an dem es spielt. Die Hymne „This Hard Land“ („… stay hard, stay hungry, stay alive if you can!“) ist dann der im Publikum sitzenden Marion Vinyard gewidmet, der Witwe des Castiles-Managers Tex. Mit „My Hometown“, wieder von Soozie Tyrell begleitet, klärt Springsteen sein Verhältnis zu Freehold, schickt noch eine wunderbare Version von „Racing In The Streets“ hinterher, ein Song, der auch ohne Danny Federicis Orgel-Coda bestens funktioniert.

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Es ist ein wunderbarer Abend in dieser Sporthalle/Aula (und eines der schönsten Archive-Konzerte überhaupt), vor einem Publikum, das ausdrücklich nur aus Bewohnern von Freehold und einigen wenigen geladenen Gästen besteht, witzig, persönlich, kitschig, wo es kitschig sein muss. Springsteen spielt für SEIN! Publikum, das Salz der Erde. Aber ohne ein ironisches Augenzwinkern kann das nicht enden. Bruce spielt „Freehold“, eine witzig verklärte Erinnerung an die Stadt seiner Jugend, ein Song, so neu, dass er sich zwischendrin im Text verhaspelt („Mann, ich hasse meine eigene Handschrift!“). Hier tauchen anscheinend alle Figuren aus seinen Songs noch einmal auf: der Vater Douglas, Maria, die Schwester Ginny, der alte Kumpel Mike Wilson, der Bürgermeister von Freehold wurde … „Freehold“ ist eine auf neun Minuten verdichtete Version von Springsteens 670 Seiten langen Autobiografie „Born To Run“.

Setlist:

THE RIVER (with Soozie Tyrell) / ADAM RAISED A CAIN / STRAIGHT TIME / HIGHWAY 29 / DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN / JOHNNY 99 / MANSION ON THE HILL (with Patti Scialfa and Soozie Tyrell) / THE WISH / RED HEADED WOMAN / TWO HEARTS (with Patti Scialfa and Soozie Tyrell) / WHEN YOU’RE ALONE (with Patti Scialfa and Soozie Tyrell) / OPEN ALL NIGHT / USED CARS / BORN IN THE U.S.A. / THE GHOST OF TOM JOAD / SINALOA COWBOYS / THE LINE / BALBOA PARK / ACROSS THE BORDER / GROWIN‘ UP / THIS HARD LAND / MY HOMETOWN (with Soozie Tyrell) / RACING IN THE STREET (with Soozie Tyrell) / THE PROMISED LAND / FREEHOLD

 

Video mal wieder nur als Standbild:

Paul Bergen Redferns
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