Japanischer City Pop der 1980er: Tanzen zu den schönsten Erinnerungen, die wir nie hatten

Durch Viralhits wie „Plastic Love“ wird City Pop in Europa und den USA entdeckt. Über ein Phänomen, das viel über die Sehnsucht nach Nostalgie aussagt – einem Gefühl, dessen Zugang uns im Zeitalter permanenter digitaler Verfügbarkeit von Erinnerungen zunehmend erschwert wird. ROLLING STONE und Subtropical Asia legen in der Berliner Bar „DAS KAPiTAL“ die Musik des japanischen Genres auf, ROLLING-STONE-Autor Max Gösche singt City-Pop-Hits auf Deutsch

Im Zusammenhang mit dem Genre City Pop tauchte Nostalgie bislang eher selten auf, zumindest in Japan nicht – dort ist der seit den frühen 1980er-Jahren geläufige Musikstil noch immer präsent. Nostalgie hebt man sich ja meistens für Erinnerungen auf, die unwiederholbar sind. Die City-Pop-Protagonisten, wie Tatsuro „Tats“ Yamashita, Mariya Takeuchi oder Anri, natürlich auch die Yellow-Magic-Orchestra-Gründer Ryuichi Sakamoto und Haruomi Hosono, werden auf der Insel jedoch wie Nationalheilige verehrt, ihr Werk gilt als noch nicht abgeschlossen.

Die Sehnsucht nach Nostalgie steckt in jedem Menschen. Im Zeitalter permanenter digitaler Verfügbarkeit unserer Kulturerzeugnisse werden der seligen, verklärten Erinnerung jedoch Steine in den Weg gelegt. Wer will, kann sich zwar komplett zurückbeamen in die alte Zeit. Wer sich in die 1970er oder 1980er zurücksehnt, muss nur auf YouTube „ZDF-Nachrichten 1982“ eintippen und sieht ganze Fernsehprogramme.

Musiker bringen Deluxe-Editionen ihrer alten Alben heraus, es ist die inzwischen größte Einnahmequelle mit physischen Tonträgern. Und es gibt kein Jahrzehnt, das mehr Remakes oder „Reboots“ verantwortet als die Achtziger: „Ghostbusters“, „A Nightmare on Elm Street“, „He-Man“, von den omnipräsenten „Star Wars“-Filmen ganz zu schweigen. Aber so wird Nostalgie bei uns eben durch Neudeutung ersetzt.

Mariya Takeuchi: Plastic Love

https://www.youtube.com/watch?v=9Gj47G2e1Jc

Und dann wurde auf einmal dieser eine Song in unsere westlichen Gefilde gespült, „Plastic Love“, und plötzlich war man wieder schlagartig nostalgisch. Mariya Takeuchis 1984er-Single entwickelte sich auf YouTube, vor allem durch Algorithmen-Vorschläge, zum Viral-Hit. Bis zur Entfernung des Videos im Dezember 2018 erzielte der Clip, aufgemacht mit Foto der jungen Sängerin in – natürlich – Schuluniform, millionenfache Aufrufe. Wer war diese junge Frau? „Plastic Love“, komponiert von Takeuchi und ihrem Ehemann Tatsuro Yamashita, war der Pop-Hit, der uns so vertraut vorkommt, obwohl wir ihn noch nie gehört hatten. Neu-Uploads des Stücks gehen bereits wieder in die Millionen-Views-Richtung.

„Plastic Love“ war keine Kopie von Michael Jackson und dessen Produzenten Quincy Jones, aber er klang wie ein perfektes Outtake der „Off The Wall“-Sessions von 1979. Funk-Gitarre, Bläser, zweisprachiger Gesang, dazu die mit City Pop häufig assoziierten Themen: Melancholie und eine Mischung aus Optimismus und Traurigkeit – die Zeit nach dem Herzschmerz, wenn es einem etwas besser geht, aber es noch kein Ziel gibt, keinen neuen Menschen, um den man kämpfen kann.

Kurz, dieses altvertraute Lied mit irritierend komplett neuer Melodie hörte sich so an, als bekäme man eine zweite Chance, in die stürmischste Zeit seines Lebens zurückzukehren.

Toshiki Kadomatsu – If You Wanna Dance Tonight:

https://www.youtube.com/watch?v=Svsyhadodgk

Auf Discogs und Ebay erzielen Vinyl-Alben wie Junko Ohashis „Magical“ (1984) bereits Preise über 250 Euro, haben also Sammlerwert (vielleicht auch wegen des tollen Covers, einer Fotografie der Twin Towers bei strahlend blauem Himmel). Es könnte nur eine Frage der Zeit werden, bis das Genre kein Geheimtipp mehr ist, sondern die Platten als große Schätze erkannt werden. Das Beste, was wir tun können, ist diese Musik als große Kulturleistung Japans anzuerkennen. Auch, wenn die Vorbilder offensichtlich erscheinen, so sind Melodie und Arrangement doch recht originär.

City Pop tut uns sogar den Gefallen, sich zeitlich perfekt in das richtige Jahrzehnt einzugliedern. Seine Hochphase erlebte das Genre zwischen 1980 und 1989, die am häufigsten genannte Begründung für den Erfolg in Japan: der Einbau von Kassettendecks in Autoradios, überhaupt die technische Weiterentwicklung von Stereo-Anlagen. Es wurde cool, mit dem Wagen durch Tokio zu cruisen, und dieses „Big City“-Feeling brauchte einen Soundtrack.

In den 1980er-Jahren war Japan dominierende Wirtschaftsmacht Asiens. Gleichzeitig war die Pop-Musik Nippons, so amerikanisch sie sich auch in Disco, Funk und Soul gab, nie auf Welterfolg ausgerichtet. Wer sich auf YouTube Konzerte der Musiker ansieht, entdeckt eine Parallelwelt von über alle Maßen verehrten Stars, gigantische Bühnenaufbauten und Background-Gruppierungen in Big-Band-Größe. Dies war Ausdruck eines Kultur-Imperiums – das jedoch nur bis zu den eigenen Landesgrenzen reichte.

Von der so genannten „Japan-Krise“ von 1990 jedoch, bei der der Nikkei binnen zwölf Monaten über 40 Prozent verlor, hat sich die Insel bis heute nicht erholt. Das hatte Auswirkungen auf Selbstverständnis und Auftreten der Musiker. Das Glücksversprechen des Pop bestand nun nicht mehr darin, entdeckt und damit vielleicht auch reich zu werden. Yuppies oder schnelle Autos waren, als Songthema jedenfalls, out.

„Der Brian Wilson Japans“

Künstler wie „Plastic Love“-Songwriterin Mariya Takeuchi oder Tatsuro Yamashita verkaufen sich in ihrer Heimat mit aktuellem Pop noch immer gut. Takeuchi sprach mit der „Japan Times“ unlängst über ihr Erstaunen, im Westen vor allem als Viralphänomen wahrgenommen zu werden. Yamashita wiederum veröffentlichte im vergangenen Jahr für Mamoru Hosodas Animationsfilm „Mirai of the Future“ das Titellied (der Film, auf deutsch „Mirai – das Mädchen aus der Zukunft“, wurde unlängst als „Bester Animationsfilm“ oscarnominiert).

Tatsuro Yamashita: The Theme From Big Wave:

https://www.youtube.com/watch?v=1HwDJhiv6FE

Der 65-jährige genießt heute den Ruf als „Brian Wilson Japans“. Da ist durchaus was dran. Vielleicht nicht mit Blick auf das Selbstverständnis des legendären US-Kollegen, dass Musik auch aus einer Vielzahl von als Instrumente eingesetzten Gegenständen bestehen kann – Fahrradklingel und Feuerwehrhupe gehörten zu Wilsons „Pet Sounds“ 1966 dazu. Aber die beiden Komponisten ähneln sich im Anspruch, dass Pop komplex ist, und dass komplexer Pop eine Vielzahl von komplexen Gefühlen abbilden soll. Wilson vereinte beides, Lust und verletzter Stolz, er war der Beach Boy, der am Strand sitzen blieb, während sich die anderen in die Wellen stürzten.

Es ist kein Zufall, dass Yamashitas heimliches Meisterwerk sein Soundtrack zur Dokumentation „The Big Wave“ ist, die amerikanische Surfer beim Wettkampf 1984 zeigt. Neben Coverversionen der Beach Boys (etwa „Girls On The Beach“) gibt es grandiose Eigenkompositionen wie das Titelstück. Dessen amerikanischer Text stammt von Alan O’Day („Undercover Angel“), der das City-Pop-Feeling sehr genau auf den Punkt bringt. „There was this girl, another world / but I hear the thunder calling me“. Zwischen den Welten stehen, hin- und hergerissen sein zwischen Verzückung und Abschied.

Zweiter Frühling dank Vaporwave

In den dunklen Nischen des Internets mutierte City Pop Anfang der Zehner-Jahre noch einmal zu etwas Neuem. Auf Plattformen wie SoundCloud, Bandcamp, Reddit, 4chan und YouTube tauchte eine somnambule, retrofuturistische Musik auf, für die bald der Name Vaporwave die Runde machte. City Pop-Klassiker wurden darin gesampelt oder gleich albenweise heruntergepitcht als neues Werk präsentiert.

Als energetischste Fahrstuhlmusik aller Zeiten erfährt der City Pop im Vaporwave eine ästhetische Brechung. Die pure Freude am Konsumismus bekommt apokalyptische Untertöne. Die Albumcover im Stil von Hiroshi Nagai, die einst den endlosen Sommer von Japans Boom-Economy illustrierten, wirken im neuen Kontext von Vaporwave unheimlich, menschenleer, sinnentleert. Ein von einer künstlichen Intelligenz erdachtes Spätkapitalismus-Hologramm, in dem die Sehnsucht nach echten Gefühlen mitschwingt, einer wahrhaften Nostalgie etwa, die für die in postmodernen Remixen verhedderte Jugend jedoch unerreichbar bleiben muss.

Als Internet-Genre war Vaporwave von Anfang an global ausgerichtet. Dabei wurden auch die japanischen Originale wieder in die YouTube-Feeds der digitalen Hipster gespült. Ob sie die Musik wirklich fühlen, ironisch feiern oder nur als wehmütiges Echo aus einem Paralleluniversum wahrnehmen, spielt keine Rolle. City Pop befriedigt auch hier ein Heimweh nach einem Ort, den es so niemals gab.

Youtube Placeholder

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Veranstaltung:

Plastic Love – A Night of City Pop in Berlin, Volume II presented by DJs Fabian Peltsch (Subtropical Asia), Sassan Niasseri (Rolling Stone) & Special Guest Max Gösche, ROLLING STONE author and singer of the Sophisti-Pop Band Ticket Tomorrow, presenting City Pop Hits in German

21:30 – 22:00

Max Gösche sings City Pop Classics

22:00

Listen & Dance To City Pop Classics And Other Japanese Music From The Era

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