DAS DING MIT DER LIEBE

Was bisher geschah: In Sven Regeners Debüt „Herr Lehmann“ ist der brotlose Künstler Karl „Charlie“ Schmidt Frank Lehmanns bester Freund. Am Tag des Mauerfalls hat er einen Nervenzusammenbruch und wird in die Klapsmühle in Hamburg-Ochsenzoll eingewiesen. Sechs Jahre später wohnt er in der Hamburger Sucht-Selbsthilfe-Wohngemeinschaft Clean Cut 1 und arbeitet als Hausmeistergehilfe im Kinderkurheim Elbauen. Dort legt man ihm nahe, mal seinen Resturlaub aus dem Vorjahr zu nehmen und für ein paar Wochen in die Heilstätten St. Magnus in der Lüneburger Heide einzuchecken, doch Karl flieht stattdessen nach Berlin -seine alten Freunde Raimund und Ferdi, die mittlerweile ein Techno-Label betreiben, brauchen seine Hilfe.

Der Zug hielt in Nauen, und als er da wieder abfuhr, roch es schon irgendwie nach Berlin. Ich wurde unruhig, an Nauen konnte ich mich nicht erinnern, ich kannte das gar nicht, wusste gar nicht, wo das lag, aber es roch nach Berlin, als wir da rausfuhren, wobei riechen das falsche Wort ist, es war etwas Elektrisches, wahrscheinlich bloß Einbildung, eine Unruhe, die mich erfasste, jetzt geht’s los, dachte ich, jetzt geht’s los, aber viel ging da erstmal nicht, da kamen erst noch kleine Häuschen und kleine Straßen und dazwischen Felder und Gewerbe, das sah alles noch ziemlich nach Othmarschen aus, wenn auch in einer DDR-Version, also etwas abgeschabter, aber dann hörte das mit den Feldern und Wäldern ganz auf und wir fuhren nach Berlin rein, irgendwie Spandau oder sowas, und dann durch Charlottenburg und zwischen Kudamm und Kantstraße, und als wir uns dem Bahnhof Zoo näherten, kriegte ich Angst und überlegte, einfach sitzenzubleiben und gleich weiter bis Hauptbahnhof zu fahren, was immer das sein sollte, Hauptbahnhof, seit wann hatten die hier einen Hauptbahnhof, richtig schlau wurde man da nicht aus dem IC-Fahrplanblättchen, in dem ich die ganze Zeit zwischen Wittenberge und Nauen sinnlos herumgeblättert hatte, ein Umstand, dem ich wohl auch die Ahnung der Nähe Nauens zu Berlin zu verdanken hatte, wie mir jetzt auffiel, an dieser Ahnung war ja wohl nichts Mystisches und nichts Elektrisches gewesen, wenn man sich erstmal klarmachte, dass im Faltblatt „Ihr Fahrplaner“, das ich die ganze Zeit zwischen Wittenberge und Nauen völlig enthirnt von hinten nach vorne und von vorne nach hinten durchgeschmökert hatte, der Abstand zwischen Nauen und Berlin-Zoologischer Garten mit 34 km angegeben war, das war ja wohl das verdiente Ende jeder esoterischen elektrischen Vorahnungsbehauptung, aber Hauptbahnhof kam mir genauso esoterisch vor, deshalb fragte ich einen Schaffner, was es damit auf sich hatte, und der sagte nur „Ostbahnhof“ und ging weiter, das sagte mir natürlich auch nichts, aber der Zug hielt laut „Ihr Fahrplaner“ auch im Bahnhof Friedrichstraße, das fand ich gut, Bahnhof Friedrichstraße war ja nicht nur 1a-DDR-Scheiß, Bahnhof Friedrichstraße war schon der Bahnhof gewesen, auf dem die Oma und die Kusine auf Emil gewartet hatten, während Emil am Zoo ausgestiegen war, weil sie ihm sein Geld geklaut hatten, daran erinnerte ich mich noch, das ganze Emil-und-die-Detektive-Ding hatte mir als Kind immer gut gefallen, armer Emil, komplett beklaut, aber das konnte mir nicht passieren, mein Geld war noch da und meine Tasche auch und der Bahnhof Zoo konnte mich mal, ich hatte keine Lust auf den Bahnhof Zoo und das ganze Prä-und Post-Kudamm-Elend, und langsam fragte ich mich auch, wieso ich nicht früher auf die Idee gekommen war, mich mal ein bisschen damit zu beschäftigen, wo ich jetzt eigentlich hinmusste, ein bisschen geistige Leere zwischen Wittenberge und Nauen, nun gut, aber jetzt wurde es Zeit, den Informationsturbo einzulegen, also schlug ich die Adresse, die Ferdi mir am Telefon gegeben hatte, in meinem Stadtplan nach, ich kannte die Straße nicht, Sophienstraße, die lag im Osten, in der Nähe vom Marx-Engels-Platz, wie aus meinem alten Stadtplan hervorging, den ich die ganzen Jahre nicht weggeworfen hatte, und bei dem der Westen noch rot und der Osten blaugrau und dazwischen die Linie war, die die Mauer markierte.

Von der aber nicht mehr viel da war. Wir gurkten, nachdem wir den Bahnhof Zoo verlassen hatten, der nicht nur wegen Emil, Oma und Kusine, sondern auch wegen der Lage des Marx-Engels-Platzes die falsche Wahl gewesen wäre, langsam durch den Tiergarten und weiter in den Osten hinein und die Mauer war weg und das ganze Westgesummse dann auch bald und das kam mir gerade recht, ich hatte ja nicht umsonst Angst gehabt, gleich am Bahnhof Zoo in ein Déjà-vu-Ding reinzugeraten, man kann ja nicht fünf Jahre lang in Hamburg Klapsmühle und Reha und Drogen-WG gemacht haben und dann am Bahnhof Zoo aufschlagen, als wenn nichts gewesen wäre, dachte ich, und dann hielten wir auch schon im Bahnhof Friedrichstraße und ich stieg aus und kaufte mir im nächsten Zeitungsgeschäft einen neuen Stadtplan, aus dem auch gleich mal hervorging, dass der Marx-Engels-Platz jetzt Hackescher Markt hieß.

Bis zum Hackeschen Markt war es nur eine Station mit der S-Bahn und die Sophienstraße war nicht schwer zu finden. Sie sah verdächtig nach Hamburg-Altona aus, die Sophienstraße, kleine alte Häuschen mit zwei, drei Stockwerken, handtuchbreite Bürgersteige, Teestubengastroscheiß, das war fast schon Ottensen, nun gut, ich wollte in das Berlin, das ich nicht kannte, hier war es, und in einem von den Ottensenhäusern war BummBumm Records untergebracht, da hätte genausogut Clean Cut 1 dranstehen können, so altonamäßig sah das aus.

Ich rauchte erst mal eine, bevor ich klingelte.

Charlie!“ Das Büro von BummBumm Records erstreckte sich über eine ganze Etage des Hauses, und ganz vorne saß gleich Ferdi an einem großen Schreibtisch, und er sprang auf und lief um den Schreibtisch herum und breitete die Arme aus und drückte mich, als ich hereinkam, was mich ein bisschen überraschte, ich konnte mich gar nicht daran erinnern, dass wir so gute Freunde gewesen waren, irgendwie Freunde ja, und das über zehn Jahre lang, bevor ich damals in die Klapse kam, und ja, wir hatten auch mal zusammen in einer Band gespielt, Glitterschnitter, eine jener Avantgardebands, wie sie in den frühen Achtzigern jeder mal gehabt hatte, Raimund Schlagzeuger, Ferdi Bassist und ich hatte Trennschleifer und Bohrmaschine bedient, das war bei Ausstellungseröffnungen und Avantgardefestivals ganz gut angekommen, aber von irgendwelchen Knuddeleien war mir nichts mehr in Erinnerung, vielleicht ist es das Alter, das ihn weich und sentimental macht, dachte ich, als er mit ausgebreiteten Armen auf mich zustürmte, er war ja nicht mehr der Jüngste, er war zwölf oder fünfzehn oder so Jahre älter als ich, demnach ging er jetzt stramm auf die fünfzig zu, vielleicht auch schon drüber, eigentlich unfassbar und man sah ihm das auch nicht an und vielleicht sollte man auch nicht immer alles hinterfragen, dachte ich, als er mich erst an sich drückte und dann von sich weghielt und sagte: „Du siehst aber gut aus, Charlie!“

„Nicht lügen, Ferdi, ich bin ziemlich fett geworden!“

„Ja, wahrscheinlich. Stell ab, setz dich.“ Er ließ sich wieder hinter seinem Schreibtisch nieder. Ich stellte meine Tasche ab und setzte mich auf die andere Seite, genau wie bei Dr. Selge.

„Wo ist Raimund, ist der auch da?“

„Nein, der doch nicht“, sagte Ferdi. Er trommelte mit den Fingern auf den Tisch. „Mann, Charlie, bist du also doch noch gekommen!“

„Wieso, hab ich doch gesagt: Montag Mittag.“

„Wir haben halb zwei, Charlie! Ich sitze hier seit zwölf wie auf Kohlen, wir brauchen dich doch!“

„Konnte ja nicht ahnen, dass der Zug von Hamburg immer noch so lange braucht“, sagte ich.

„Wann warst du denn das letzte Mal in Berlin?“

„Bevor ich in die Klapse kam, Ferdi.“

„Da stand ja noch die Mauer.“

„Ja, aber die fiel an dem Tag gerade.“

„Mann, Charlie “ Ferdi dachte kurz nach.

„Und bist du wieder okay?“

„Ja, einigermaßen.“

„Na dann “ Er holte ein Päckchen Tabak aus der Brusttasche seines Hemds, faltete es auf und entnahm ihm mit spitzen Fingern einen Joint. „Hast du was dagegen, wenn ich den rauche?“

„Wär mir lieber, wenn nicht, Ferdi.“ Er steckte den Joint wieder in das Tabakpäckchen und drehte sich stattdessen eine Zigarette.

„Aber Zigarette ist okay, ja?“

„Auf jeden Fall“, sagte ich.“Tabak ist das Heroin vom Trockendock!“

„Ha, der ist gut! Den merk ich mir! Und du warst nach dem Mauerfall nie wieder in Berlin? Wie gefällt dir denn der Osten jetzt so?“

„Alles super, Ferdi. Erinnert mich irgendwie an Altona. Oder Bielefeld. So kleine Häuser und so.“

„Hier ist viel passiert, Mann, guck dir nur mal unser Büro an.“

„Ja, das ist toll.“ Ich drehte mich auf meinem Stuhl herum und sah ein bisschen in die Tiefe des Raums. Überall waren Regale mit Platten und CDs und Kartons und Akten und was weiß ich, und Poster und Wimpel und Goldene Schallplatten und Fotos und Postkarten hingen an den Wänden und ich zählte sechs Schreibtische, bis ich das Interesse verlor. Auf allen lag viel Zeug herum, so als ob hier wirklich gearbeitet wurde. Das war nicht das BummBumm Records, an das ich mich erinnerte. Das hatte im Bürokabuff vom BummBumm Club in eine Bananenkiste gepasst. Weiter hinten saßen auch noch zwei Leute herum, junge Männer, Anfang zwanzig, wie es schien. Sie schauten zu mir herüber, also winkte ich.

„Das sind Holger und Basti“, sagte Ferdi. „Kommt mal her und sagt Charlie Guten Tag!“, rief er nach hinten.

Holger und Basti kamen herüber und sagten Hallo. Sie sahen ganz nett aus und sehr jung und auch ein bisschen übernächtigt.

„Holger und Basti sind Praktikanten hier. Außerdem machen sie Musik, dann heißen sie Hosti Bros, wir haben vier Maxis mit ihnen gemacht“, Ferdis Stimme wurde laut und gespielt streng, „und drei sind gefloppt, das waren die einzigen Maxis in den letzten zwei Jahren, die weniger als 1000 Stück verkauft haben! Aber jetzt gerade ist die neue draußen, da sieht’s ganz gut aus!“

Holger und Basti nickten und grinsten.

„Ansonsten“, fuhr Ferdi fort, „sind sie hier Praktikanten, damit sie das zur Not alles mit Arbeit wiedergutmachen können und irgendwovon müssen sie ja auch leben, fürs Auflegen kriegen sie ja kaum was. Jedenfalls nicht bei uns im Club!“

Holger und Basti nickten.

„Aber das wird schon noch.“

„Ganz sicher“, sagte ich.

„Nun aber arbeiten!“, sagte Ferdi.

Holger und Basti gingen wieder an ihre Schreibtische.

„Das Haus hier gehört uns auch. Haben wir gekauft, wir mussten ja irgendwo hin mit dem ganzen Geld!“

„Stark, Ferdi!“

„Warum gehen wir nicht raus ins Lala und dann essen wir was und ich erzähle dir alles.“

„Auf jeden Fall, Ferdi.“

Das Lala war irgendwas Asiatisches mit Suppen und so weiter, es war proppenvoll und die Leute aßen, als ob sie gleich wieder zur Arbeit müssten. Ferdi bestellte für uns beide eine Suppe, eine scharfe mit Nudeln drin, von der er meinte, dass sie besonders gut sei. Die wollte er dann unbedingt draußen essen. Es war zwar schönes Wetter, aber nicht besonders warm, es war ja noch April, und sie mussten uns draußen extra einen Tisch herrichten, aber Ferdi bestand darauf.

„Ich will sie ja nicht in Verlegenheit bringen, weil ich den Sticki bei ihnen drinnen rauche, das sollten sie eigentlich zu schätzen wissen“, sagte er, als wir endlich saßen und er sich den kleinen Joint anzündete. Dann sah er mich prüfend an. „Und du darfst gar nichts mehr, oder was?“

„Nein. Nur Zigaretten und Kaffee.“

„Wie ein Alki bist du mir nie vorgekommen, Charlie. Oder wie ein Junkie.“

„Wer weiß“, sagte ich. „Ich geh da lieber kein Risiko ein. Einmal durchdrehen reicht.“

„Wie war das denn so?“

„Kann ich dir nicht beschreiben, Ferdi.“

„Nur ein bisschen!“

„Stell dir vor, du bist in der Geisterbahn und das hört nie auf.“

„Aha !“

In diesem Moment kam ein Mann mit der Suppe an den Tisch. Und es fing an zu regnen.

„Ich glaube, wir gehen mal lieber rein“, sagte Ferdi zum dem Mann mit den Suppen. „Wenn ich aufgeraucht habe. Die Suppe kann schon mal vorgehen.“

Der Mann nickte und ging mit der Suppe wieder rein. Ferdi zog noch ein paar Mal an seinem Sticki und dann gingen wir hinterher und setzten uns an unsere Suppenschalen.

Und dann begann Ferdi zu erzählen.

Du kannst dir das nicht vorstellen“, sagte Ferdi und hob dazu den Löffel. „Plötzlich riss der Himmel auf und es regnete Geld.“

„Muss toll sein“, sagte ich. Die Suppe war schwierig zu essen, die Nudeln lang und dick und die Löffel aus Porzellan, sie rutschten dauernd ab.

„Toll? Auf jeden Fall. Aber auch beängstigend, Charlie. Du musst für die Nudeln die Stäbchen nehmen. Jedenfalls hatten wir Beta Boy, eben konnte noch keiner was damit anfangen, vor allem die Journalisten nicht, Acid House, Detroit, keiner blickte durch, alle schrieben Techno mit drei k und was weiß ich was, und dann hatten wir Beta Boy und plötzlich ging das durch die Decke, wann war das ?“

„Das war, nachdem ich in die Klapse kam“, sagte ich.

„Der Mauerfall kam ja noch dazu, das war ja überhaupt der Hammer, plötzlich machen die da neben uns eine ganz neue Stadt auf und überall die leeren Gebäude, du glaubst ja nicht, was wir da mit Partys verdient haben, da sind wir einfach rein, später haben wir die für praktisch nichts gemietet, den neuen BummBumm haben wir auf zehn Jahre gepachtet, das ist wie geschenkt, Charlie, weißt du noch, der alte BummBumm, wie wir da mit der Miete zu kämpfen hatten?“

„Nein.“

„War aber so. Jedenfalls Beta Boy, also Hartmut, das Betalein, weißt du noch, der kleine Spacken, der immer genervt hat „

„Ja, der hat wirklich beschissene Musik gemacht.“

„Ja. Jedenfalls war das das Ende von Faceless Techno und dem ganzen Quatsch. Beta Boy war der erste richtige Hit. Und der war bei uns!“ „Du meinst, Alpha Beta Gamma?“

„Ja, das war der Hit, Alpha Beta Gamma, alter Schwede, ich hab da lange drüber nachgedacht, und weißt du, warum das der erste Techno-Hit war?“

„Nein, warum?“

„Keine Ahnung. Das weiß keiner. Vielleicht wegen dem Einzähler.“

„Welcher Einzähler?“

„Plötzlich dieser Hit, und dann wussten alle Bescheid, du weißt doch, was ich meine, überall die Artikel über Techno, das neue Ding, aber auch Trance, House, Acid, Deep House, Detroit, jeden Tag gab’s drei neue Richtungen und Bezeichnungen und kein Arsch blickte durch und jeder hatte Angst, zu irgendwas irgendwas zu sagen und alles immer so faceless Techno und es gibt keine Stars und so „

„Du schweifst ab, Ferdi. Jetzt will ich wissen, was mit Beta Boy los war.“

„Wieso Beta Boy?“

„Warum Beta Boy der erste Hit war!“

„Ach so, das weiß ich doch nicht, ich weiß nur, wir kamen mit Beta Boy um die Ecke, das war kurz nachdem du weg warst, und keiner blickte durch, was ist denn nun dieses neue Ding, Techno, darf ich da Techno zu sagen oder bin ich dann uncool, weil es eigentlich House ist oder was, und dann Trance, ist das auch Techno, das trau ich mich gar nicht im Radio zu spielen, ich schreib das mal lieber mit drei k, Tekkkno, weil mir irgendeiner gesagt hat, dass man… „

„Beta Boy!“, sagte ich, „Beta Boy, Ferdi!“

„Ach so, jedenfalls kommt dann Beta Boy bei uns mit Alpha Beta Gamma raus und gleich am Anfang, bevor es losgeht, ruft er doch auf dem Track Alpha Beta Gamma Techno! und dann geht’s los mit Bummbumm, verstehst du, Charlie? Wir sollten uns mal zwei Espressos bestellen, finde ich.“

Ferdi blickte sich suchend um und hob dabei zwei gespreizte Finger wie der abdankende Richard Nixon.

„Wieso bestellst du zwei Espressos, wenn du noch nicht einmal die Suppe aufgegessen hast?“

„Die dauern hier immer so lange, das ist jeden Tag dasselbe“, sagte Ferdi mit vollem Mund. „Und dann kommt ausgerechnet Beta Boy und ruft Alpha Beta Gamma Techno! und ausgerechnet das wird dann der erste Radio-Technohit und der erste richtige Technohit überhaupt, tu dir das mal rein,

Alpha Beta Gamma Techno , ich meine, so ein Stumpfsinn und das war unser erster Hit, das ist doch super!“

Ferdi legte den Löffel weg und ich auch und in diesem Moment kam auch der Mann mit den Espressos.

„Siehst du, super Timing“, sagte Ferdi. „Dabei hatten wir Beta Boy bloß rausgebracht, damit Betalein endlich Ruhe gibt, weil der immer so genervt hat. Und seine Schwester hatte was mit Raimund! Das kam noch erschwerend dazu, Raimund war ganz wild auf die, und die hat ihm gesagt, er muss das rausbringen, dann hat Raimund mich genervt und dann haben wir das gemacht. Der Vertrag war unterirdisch, ist ja klar, für sowas kriegt ja keiner einen guten Vertrag und dann geht das Ding durch die Decke und Hallelujah, der Himmel geht auf und seitdem kommt das Geld runter, aber sowas von!“

Ferdi drehte sich eine Zigarette und ich drehte mir auch eine, es war ein bisschen wie mit Werner und dem Plenum und mir waren die fertigen Zigaretten ausgegangen.

„Wo war ich stehengeblieben?“, sagte Ferdi, als er mir Feuer gab.

„Himmel geht auf, Geld kommt runter.“ „Ach so, ja klar, aber ja nicht nur wegen Betalein, das war ja bloß der Kickoff, Charlie, der ist dann auch gleich zu Magnetic gegangen, der Arsch, aber danach ging alles durch die Decke, jede zweite Maxi ging gold, ach, was sage ich, jede Maxi ging gold, AFX, MFX, Gringo, Maja, sogar Raimund, sogar Raimunds Maxis gingen gold, da haben wir jedesmal eine Viertelmillion Maxis verkauft, dann kam Belinda mit diesem Schlagerding, das sie da verwurstet hatte, das war noch größer, Dreifachplatin, Charlie, dann Schöpfi mit Hallo Hillu und dann der ganze Gummistiefel-Techno, die Trance-Bretter, das war ja das Gute bei BummBumm, dass wir alles rausbringen konnten, wir hatten ja keinen inhaltlichen Ehrgeiz, wir wollten ja bloß Spaß, und Worldwide hat alles für uns vertrieben und wir haben Maxi um Maxi an die Wand geschippt und natürlich auch gleich CD-Maxis, als das dann aufkam, CD-Maxis haben ja nur die Idioten nicht gemacht, und dann auch Alben, wenn’s gut lief, und mein Gott, Charlie, wir schippten das Zeug an die Wand und fast alles blieb hängen, normalerweise schippst du zehn Dinger an die Wand und eins bleibt hängen, aber nicht bei uns, da waren wir alle ganz oben, die Frankfurter, die Kölner, die Münchner, überall lief das wie geschmiert, dann die Parade, die Springtime, die ganzen Mega-Raves und alles volle Dröhnung Presse und Medien und Fernsehen, überall wurde BummBumm-Musik gespielt und vorher zum Draufkommen gehört und nachher zum Chillen und was weiß ich, überall unz, unz, unz, wie kam ich jetzt drauf?“

„Du wolltest irgendwie erzählen, was nach Beta Boy passiert ist.“

„Warum?“

„Weiß nicht, Ferdi, vielleicht um mal drüber zu reden.“

„Ja klar, du warst ja nicht dabei! Du musst das doch wissen! Und das ist immer noch so, ich rede hier in der Vergangenheit, aber das hält ja noch an, das Geld kommt von allen Seiten und Berlin ist der Mittelpunkt der Welt, verstehst du, von überall kommen die Leute nach Berlin!“

„Was ist mit Frankfurt?“, sagte ich, ich war ja nicht ganz von gestern. „Und Köln? Und München?“

„Ja klar, aber im Ausland, in der Welt, da kennen die vor allem Berlin, für die ist München Oktoberfest, aber Berlin ist Techno, die kommen von überall, was meinst du, mit wem wir im Bumm-Bumm Club jetzt die Geschäfte machen? Was da an Rave-Touristen unterwegs ist? Die kommen von überall, Berlin Techno Hauptstadt Rave Parade, was weiß ich, ha!“ Er hob die Hände zum Himmel. „Aber das hat auch Schattenseiten, Charlie! Das ist auf die Dauer nicht gesund. Ich meine, jetzt ist wahrscheinlich der Höhepunkt erreicht, das ist wie bei Canetti, ,Masse und Macht‘, das Techno-Ding ist das Paradebeispiel für eine offene Masse, die wächst nur, solange sie wächst, wenn sie nicht mehr wächst, zerfällt sie, nur dass sie wächst, macht ihre Attraktivität aus, ich meine als Masse jetzt, verstehst du? Canetti, Charlie, Canetti, hast du doch auch gelesen!“

„Nein. Ich weiß nicht mal, wer das ist. Sowas liest doch nur du, Ferdi.“ Ferdi war immer schon der Intellektuelle unter meinen Bekannten gewesen, oder wie eine Freundin von mir mal gesagt hatte:“Ferdi ist obenrum, Raimund ist untenrum!“

„Quatsch, das hat doch jeder gelesen. Was ich meine, ist: Es gibt Leute, die denken von hier bis zum nächsten Arsch, wie Magnetic und die ganzen Gurken, und es gibt Leute, die denken ein bisschen weiter und sorgen dafür, dass auch morgen noch Früchte vom Baum fallen, so sieht’s aus!“ Ferdi winkte wieder einen Kellner ran. „Ich will noch was essen, habt ihr noch was Süßes, dieses Zeug mit Mandeln, habt ihr das noch.“

Der Mann nickte. „Bring ich. Einmal? Zweimal?“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich nehme noch einen Kaffee, aber einen verlängerten.“

Er ging wieder weg.

„Du solltest das aber mal probieren, das ist super“, sagte Ferdi.“Wo war ich nochmal stehengeblieben?“

„Früchte vom Baum.“

„Gut. Also pass auf: Das Problem ist doch, dass die Sache nur wachsen kann, wenn alle mitmachen können. Und so war es auch, weil wir alle bedient haben, die Journalisten, die Studenten, die Prolls, die Freaks, da war immer für jeden was dabei und alle konnten sich, wenn sie denn wollten, durch die ganzen Unter-und Subgruppen beim Dance, also konnten sich -, aber andererseits, Charlie, pass jetzt auf, das ist ein schwieriges Thema, ich komme langsam ins Schleudern, also jedenfalls haben wir im Augenblick das Problem, dass die Sache an einen Punkt kommt, an dem , jetzt habe ich den Faden verloren, also die Sache war ja eigentlich sowas wie ein evolutionärer Glücksfall: Da kommt plötzlich eine Spezies daher und entwickelt sich so, dass

sie super überleben kann, da steckt ja kein Plan dahinter, das ist eben ein Glücksfall, bei anderen Sachen, was weiß ich, da läuft das dann eben nicht so gut, nun bring mich nicht durcheinander, Charlie, ich will doch eigentlich nur sagen, wir sind an einem Punkt, da wird das so groß, dass das zu kalt wird, verstehst du? Bis jetzt hielt sich alles die Waage, die Gummistiefelprolls, die Schüler, die Studenten, die halbnackten Mädchen, die Freaks, die Medien, das hat alles zusammen funktioniert, aber wenn das noch weiter wächst, dann kommt das an einen Punkt, wo der innere Zusammenhalt kaputtgeht, wo das Wachstum in der Mitte dazu führt, dass es an den Rändern zerfällt und dann wächst es eben nicht mehr, sondern stagniert, weil die Prolls der Sache ja nichts geben, sondern nur nehmen, außer Geld natürlich, das geben sie, aber inhaltlich wird die Sache doch an den Rändern am Laufen gehalten, verstehst du?“

„Nein.“

Jemand brachte Ferdi sein süßes Zeug mit den Mandeln und er löffelte es in sich hinein. „Erst einen Sticki und dann dieses Zeug hier, das ist besser als Mittagsschlaf, das macht frisch, ich sag’s dir, Charlie! Wo war ich stehengeblieben?“

„Die Prolls können nichts geben außer Geld und wenn es an den Rändern nicht wächst „

„Genau, das war’s. Also: Die Sache wird dann kalt. Dann ist das Herz, die Seele weg, verstehst du? Weil die Leute, die den Kern der Sache bilden, an den Rand gedrängt werden, und dann gibt es in der Mitte nichts, was das Ding zusammenhält, und dann fällt das auseinander. Dann ist das irgendwann nur noch irgend so ’n Aufreiß-und Fickding für Spanner und Neuköllner Jogginganzugfreaks, kapierst du das?“

„Geht so. Was willst du denn damit eigentlich sagen, Ferdi?“

„Guck nur uns an: Mit uns hat doch die ganze Sache angefangen.“

„Naja“, gab ich zu bedenken, „da waren aber noch ein paar andere.“

„Wir hatten Beta Boy und Nadja und AFX und Schöpfi und, und “ Ferdi wedelte mit den Händen in der Luft.

„Irgendwie sprichst du da ziemlich viel in der Vergangenheit, Ferdi. Du warst doch eigentlich immer so ein Hier-und-jetzt-Typ!“

„Die sind doch alle schon am Ende. Außer Schöpfi. Beta Boy, der Arsch, der undankbare, geht erst zu Magnetic, dann verklagt er uns Jahre später und dann fliegt er bei Magnetic auch noch raus und jetzt hat er sein eigenes Label und einen Deal mit High-Tech-Lo-Tech, ich meine, was soll das denn werden? Das will doch keiner mehr! Und Nadja und AFX sind doch Schnee von gestern, und MFX und Maja haben wir als totes Fleisch an Fleischhouse weiterverdealt, da kriegen wir jetzt einen Override von nichts und Stiefel und Frankie Highnoise und wie sie alle hießen, die sind irgendwann direkt zu World Wide gegangen, die Arschmaden, das sind doch alles Leichen auf Urlaub, die sind doch alle schon kaputt, außer Schöpfi, weil Schöpfi klug ist und immer schön bei uns geblieben ist und jetzt deshalb ja Kratzbombe, das neue Label, da haben wir nur neue Leute drauf, da muss man erstmal ein bisschen dran arbeiten, die ganze alte Hitgeneration ist doch praktisch totgefickt, das weißt du doch auch, ich meine, ehrlich mal, wer interessiert sich noch für House Helmi und die ganzen Knalltüten? Die sind doch alle durch ihre Hits verbrannt.“

„Euer Label läuft nicht mehr so gut oder was?“

„Quatsch, der Gummistiefelkram läuft doch weiter, hab ich dir unseren Kühlschrank gezeigt? Der ist bis obenhin voll mit Champagner. Jeden Montag, wenn die Charts kommen, wird der leergesoffen und am Dienstag schicken wir die Praktikanten los, neuen kaufen, so sieht’s aus, Charlie, voll das dekadente Ding, ich hab da schon lange keinen Bock mehr drauf, das nervt doch alles nur noch. Ich meine, Geld, Geld, Geld „, Ferdi hob die Hände, „das regnet doch rein. Wir wissen ja kaum, wohin damit. Wir haben sogar immer unsere Steuern bezahlt! Aber von den alten Leuten, Charlie, ist doch eigentlich nur noch Raimund dabei, da arbeite ich gerade dran, dass allen mal klar wird, dass DJ Schulti der eigentliche Techno-Pionier überhaupt ist, ich meine, der hat ja bei Glitterschnitter schon Techno gespielt, so sieht’s doch aus.“

„Raimund? Hieß der nicht DJ Mundi?“

„Schon lange nicht mehr. Schulti mit Sahne. Drei Goldene. Und schon als Schlagzeuger bei Glitterschnitter, weißt du doch noch, immer Bumm-BummBummBumm, Raimund war immer Dance und wird immer Dance sein, da lass ich nichts auf ihn kommen, lass uns mal Raimund finden, der ist sicher noch im BummBumm und chillt da mit den Mädchen rum. Dann erklär ich dir auch, warum ich mir das mit Magical Mystery ausgedacht habe, es geht um das Herz der Sache, Charlie, wir müssen das Herz der Sache wiederfinden! Magical Mystery. Das Ding mit der Liebe.“

„Das Ding mit der Liebe?“

„Ja! Liebe, Charlie! Sag ich doch die ganze Zeit, ich sag doch die ganze Zeit nichts anderes: Es geht um das Ding mit der Liebe!“

Der Text ist der Beginn von „Mitte“, dem zweiten Teil von Sven Regeners viertem Roman „Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt“(Galiani, 22,99 Euro), der am 10. September erscheint.

Schwarzweißes PAPIERMit Frank Lehmann hat Sven Regener der Literatur den phlegmatischsten Helden seit Iwan Alexandrowitsch Gontscharows „Oblomow“ gegeben. Ein kurzer Blick auf Regeners Romantrilogie, in der auch „Magical Mystery“-Protagonist Karl Schmidt eine tragende Rolle spieltHerr Lehmann2001Gemütlich an die Mauer gekuschelt erscheint das Kreuzberg 36 in Regeners Debütroman. Und sein Protagonist, der knapp 30-jährige Frank Lehmann, hat sich häuslich eingerichtet in dieser spießigen sogenannten alternativen Szene, mit genügend Sicherheitsabstand zum Rest der Welt. Er arbeitet als Zapfer in einer Kneipe namens Einfall, schwadroniert, kümmert sich um seinen mental wackligen, besten Freund Karl und verliebt sich in die schöne Köchin Katrin. Am Ende fällt die Mauer, und der gute alte Westen ist Geschichte.Neue Vahr Süd2004In „Herr Lehmann“ gab Regener seinem Protagonisten ein Gesicht, hier gibt er ihm Tiefe. Neun Jahre vor dem Mauerfall hat Frank Lehmann seine Lehre beendet und in dem ihm eigenen Phlegma vergessen, den Wehrdienst zu verweigern. Aus dem Elternhaus im Bremer Neubauviertel, das dem Roman seinen Titel gibt, zieht er in eine WG. Während seine Mitbewohner in K-Gruppen die Weltrevolution planen, muss der junge Lehmann strammstehen -und wird zum großen Dialektiker.Der kleine Bruder2008Wie Frank Lehmann seinen natürlichen Lebensraum fand, erzählt dieser letzte Band der Trilogie. Seine Bremer WG wurde vom Gesundheitsamt geschlossen, der Wehrdienst ist, nun ja, beendet, und der junge Mann aus Neue Vahr Süd macht sich auf den Weg nach Berlin, um seinen großen Bruder Manni in Kreuzberg zu besuchen. Der ist aber zwischen all den Künstlern, Trinkern und Hausbesetzern nicht zu finden. Aus dem Paralleluniversum SO 36 gibt es für Frank aber kein Entkommen mehr.

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates