Frank Ocean – DER NEUE PRINZ DES POP

Frank Ocean erwartete mich in einem grauen Kapuzenpullover, Jeans, Basketball-Vans mit roten Schnürsenkeln und Baseballkappe vor dem Apartmentblock, in dem er wohnt. Er brachte mich zu der Garage, in der er drei Stellplätze für drei verschiedene BMW gemietet hat. Er ist kürzlich seinen Führerschein losgeworden, und darüber hinaus wurde er vor ein paar Wochen auch noch wegen Marihuana-Besitzes angezeigt. „Sie dürfen fahren“, sagte er, aber das kostete ihn sichtliche Überwindung.

Bei unserem ersten Interview am selben Tag hatte Ocean die ersten fünf Minuten nur auf sein Telefon gestarrt. Er würdigte mich keines Blickes, während ich Smalltalk mit seinen Managern machte und wartete. Schließlich sagte er: „Ich werd Ihnen sagen, was ich über Musik und Journalismus denke: Das Wichtigste ist doch, ‚Play‘ zu drücken. Ich traue Journalisten einfach nicht über den Weg – und ich glaube auch nicht, dass das eine gute Idee wäre.“ Aber er versprach wenigstens, mich meinen Job machen zu lassen. Und so saßen wir nun in seinem blauem BMW M3. Es gelang mir, den Gang einzulegen und aus der Garage zu fahren, aber als wir auf die Vine Street einbogen, rauschte ich zu schnell über ein Schlagloch. Der Bug des Wagens schrammte über den Asphalt, und Ocean verzog bei dem unheilvollen Knirschen gequält das Gesicht. Im Geiste buchte ich schon den nächsten Nachtflug nach Hause. Doch die etwas steife Distanziertheit unseres Mittagessens war inzwischen einer versöhnlicheren, entspannteren Stimmung gewichen. „Macht nichts, Bro“, sagte Ocean lächelnd, und weiter ging’s.

Vielleicht nahm er die Sache deshalb so gelassen, weil wir auf dem Weg zu einer Werkstatt in North Hollywood waren, wo er sich einen 1990er BMW E30 nach eigenen Vorgaben restaurieren lässt. Er taucht dort gern unangemeldet auf, um nachzusehen, ob auch wirklich an seinem Wagen gearbeitet wird. Kaum dass wir am Ziel waren, sprang Ocean aus dem Auto und stürzte in die Werkstatt. Der Wagen stand tatsächlich auf einer Hebebühne. Ocean ging darum herum und gab kund, was ihm alles daran nicht gefiel. Er ist erst 25, aber er redet wie jemand, der erwartet, dass man ihm zuhört. Christian und Kelly Clancy, seine Manager, hatten mir – sozusagen als Vorwarnung – am Abend zuvor gesagt, dass Frank Ocean alles allein entscheidet, was ihn selbst betrifft.

Die beiden leisten ihm Hilfestellung – aber er tut nur das, was er will.

Er zeigte auf die metallisch glänzenden Auspuffrohre, die gerade ans Heck des Wagens geschweißt werden sollten, und sagte: „Nein. Ich will schwarze, keine glänzenden.“ Höflich, aber bestimmt. Ein Techniker montierte sie wieder ab. Unter der Motorhaube bemerkte Ocean ein schwarzes Metallteil mit einem Signet. „Wieso steht da was drauf?“, fragte er. „Muss das sein?“ Der Werkstattleiter sagte, er könnte ihm zwar ein schlichtes schwarzes Teil besorgen, aber wenn der Motor komplett zusammengebaut sei, wäre es ohnehin nicht mehr zu sehen. „Es spielt keine Rolle, ob man es sehen kann oder nicht“, erwiderte Ocean.

Das war unverkennbar der Mann hinter „Channel Orange“, einer der ausgeklügeltsten Platten des vergangenen Jahres. „Ich halte mich nicht für besonders sympathisch. Ich weiß, dass man sich leicht unbeliebt macht, wenn man seine Vorstellungen durchsetzen will“, sagt Ocean. Der BMW, den er restaurieren lässt, wird das Lenkrad auf der rechten Seite haben, weil er es so will, und der Motor und die Karosserie des Wagens sollen so leise und leicht sein wie möglich. „Man wird mich gar nicht hören“, sagte er. „Ich will neben Ihnen halten können, ohne dass Sie es merken. Und sobald die Ampel grün wird, bin ich schon wieder weg.“

Bevor im Juli 2012 „Channel Orange“ herauskam, führte Ocean eine ähnlich unauffällige Existenz in der Welt des HipHop und R&B. Manche hatten sein Mixtape „Nostalgia, Ultra“ gehört, das er 2011 als Gratis-Download online gestellt hatte, oder sie kannten ihn als Teil von Odd Future, einer losen und etwas anarchischen Gruppe von L. A.-Rappern, zu der er 2010 gestoßen war. Andere hatten von ihm gehört, weil er Vocals zu zwei Tracks von „Watch The Throne“ beigesteuert hatte, dem mit Spannung erwarteten gemeinsamen Projekt von Jay-Z und Kanye West und einer der bestverkauften Platten des Jahres 2011. Die erste Stimme, die man auf „Watch The Throne“ hört, gehört Ocean -ein immenser Vertrauensvorschuss vonseiten der Künstler, deren Namen auf dem Cover stehen.

In den frühen Morgenstunden des 4. Juli 2012, mehrere Tage, bevor „Channel Orange“ herauskam, postete Ocean auf Tumblr Folgendes:“Vor vier Sommern habe ich jemanden kennengelernt. Ich war 19. Er auch …

Als mir klar wurde, dass ich verliebt war, war es schon richtig schlimm. Es gab keine Hoffnung. Es gab keinen Ausweg, kein Verhandeln mit dem Gefühl, keine Wahl. Es war meine erste Liebe. Sie hat mein Leben verändert“, schrieb er. „Es war, als würde ich aus einem Flugzeug gestoßen.“

Die Medien sahen dieses Posting als klares Bekenntnis zur Homosexualität, auch wenn Ocean sich sträubt, sich als schwul oder bi zu bezeichnen. Viele HipHop-Größen wie Russell Simmons und Jay-Z stärkten ihm den Rücken. Andere, wie 50 Cent, vermuteten noch etwas anderes hinter dem Geständnis: „Man kann es mutig nennen oder auch Marketing“, sagte er MTV, „schließlich war es eine wohldurchdachte Aktion.“

Ob beabsichtigt oder nicht, löste die Debatte um seine Sexualität großes Interesse an seiner Platte aus. Eine Woche vor der CD-Veröffentlichung stellte Def Jam das Album bei iTunes ein. Es verkaufte sich in der ersten Woche 131.000-mal und stieg auf Platz zwei in den Billboard-Charts ein.

Und nun, da Oceans Musik für sich selbst sprach, trat das Interesse an seiner Sexualität bald in den Hintergrund. Ocean wurde unter anderem mit Stevie Wonder, Marvin Gaye, Prince, J. D. Salinger und Joan Didion verglichen. Und im Februar dieses Jahres bekam er den Grammy für das „Best Urban Contemporary Album“.

„Channel Orange“ ist keine leichtverdauliche Platte. Man muss sich darauf einlassen. Aber wenn man sich einmal durch das ganze Album gehört hat, beginnt man die innere Logik – die eingeschobenen Sound-Schnipsel, die Reihenfolge der Songs, das unvermittelte Umschalten zwischen Großmäuligkeit und Verletzlichkeit – zu verstehen.“The best song wasn’t the single“, singt Ocean am Anfang von „Sweet Life“, und beim zweiten oder dritten Hören singt man voller Überzeugung mit.

Die meisten Künstler haben keine befriedigende Antwort auf die Frage parat, wie und warum sie tun, was sie tun, und das ist vielleicht auch besser so. Manchmal bedeuten uns Songs, deren Text wir nicht ganz begreifen, mehr als andere. Das weiß auch Ocean. „Deshalb ist das Image so wichtig“, sagt er. „Deshalb muss man sich in Interviews kurz fassen. Ich könnte versuchen, sympathisch rüberzukommen, damit Sie etwas Nettes über mich schreiben, oder ich kann einfach meine Musik für sich sprechen lassen.“ Er fasst sich meistens kurz. Seine Seiten bei Twitter, Instagram und Tumblr pflegt und aktualisiert er regelmäßig und routiniert, aber ohne Geschwätzigkeit. „Ihr müsst euch mit dem begnügen, was ich euch gebe, ansonsten haltet euch raus aus meinem Leben“, sagte er.

Als Ocean sechs war, verließ sein Vater ohne Erklärung die Familie. Ocean meint dazu nur, sein Dad sei ein erfolgloser Musiker gewesen, der „nicht alle Tassen im Schrank hatte“ und seltsame Frisuren trug. Auf „There Will Be Tears“, einem der autobiografischsten Songs auf „Nostalgia, Ultra“, schildert Ocean, wie er seine Tränen über seinen Vater vor seinen Freunden verbergen musste. Ein paar Wochen vor meinem Besuch twitterte Ocean, sein Vater habe ihn auf eine Million Dollar verklagt. Doch er löschte den Tweet sogleich wieder und wollte ihn im Interview nicht kommentieren.

Er zog mit seiner Mutter von Long Beach, Kalifornien, nach New Orleans, wo er bis kurz vor seinem 18. Geburtstag lebte. Sein Großvater mütterlicherseits, Lionel, war eine Zeitlang ein Ersatzvater für ihn und der Grund, weshalb der kleine Christopher Breaux – so hieß Ocean, bevor er 2010 seinen Namen änderte – Lonny genannt wurde. Als Kind war er ein Einzelgänger, der am liebsten auf Nachbardächer kletterte, Musik über Kopfhörer hörte und las. Für Mannschaftssportarten hatte er nichts übrig: „Wenn ich bei etwas nicht der Beste sein konnte, machte es mir keinen Spaß.“

Seine Großmutter gehörte der Pfingstgemeinde an, und seine Mutter und ihre Geschwister wurden als Kinder deswegen gehänselt. Ocean trat irgendwann aus der Kirche seiner Mutter aus, ging eine Zeitlang zur katholischen Messe und besuchte dann eine kleine lutherische Schule. Aber: „Ich bin aus jeder Schule rausgeflogen.“

Anfangs trieb ihn nicht etwa der Drang nach künstlerischer Selbstverwirklichung zur Musik, sondern „der Reiz der Freiheit und der Mobilität, die Geld einem verschafft.“ er machte seinen Highschool-Abschluss, schrieb sich dann im Herbst 2005 für ein Englischstudium an der University of New Orleans ein. Doch am liebsten komponierte er Songfragmente auf einem alten Triton-Keyboard. Als ein Freund in Los Angeles ihm die Möglichkeit zu Plattenaufnahmen bot, schmiss Ocean sein Studium, packte seine Habseligkeiten ins Auto und fuhr los.

So läuft das jeden Tag bei uns“, sagte Chris Clancy mit einer Mischung aus Stolz und Resignation. Wir saßen im Esszimmer von Clancys Haus in Miracle Mile, Los Angeles, wo gerade zwei Mitglieder von Odd Future eingetroffen waren. Beide hatten uns vom Vorgarten aus mit ein paar obszönen Gesten bedacht, waren dann ins Haus gestürmt und wollten nun wissen, was es zum Essen gab. Chris, ein ernster, nachdenklicher Typ, ist seit zehn Jahren bei Interscope Records und hat schon mit Eminem gearbeitet; Kelly, die Ocean zusammen mit ihrem Mann managt, ist eine Art Ersatzmutter für die Jungs. „Die Jungs gingen hier schon immer ein und aus“, erzählte Kelly. 2010 freundete Ocean sich mit Tyler Okonma an, dem Kopf von Odd Future, besser bekannt unter dem Namen Tyler, The Creator, und bald nahm die Gang Ocean mit zu den Clancys. Die familiäre Atmosphäre gefiel ihm. „Frank redete nicht viel“, sagte Kelly. „Er war ein stiller Typ. Er rief nicht mal vorher an. Er kam einfach vorbei und saß bloß herum.“ Als Ocean 2006 nach L. A. kam, ging ihm das Geld aus, bevor er seine Platte auch nur annähernd fertig hatte. Also jobbte er unter anderem als „Sandwich-Künstler“ bei Subway, bei Fatburger, Kinko’s, AT&T und als Sachbearbeiter bei einer großen Versicherung. Schließlich fand er heraus, dass man Geld damit verdienen kann, Songs für andere Leute zu schreiben, und setzte sich mit Produzenten und Musikern in Verbindung, die Tracks für Major-Label-Acts lieferten. Die Produzenten sorgten für die Backingtracks, und Ocean schrieb Texte und Melodien für Künstler wie Justin Bieber („Bigger“), Brandy („1st and Love“) und John Legend („Quickly“).

Schon damals ließ er sich nicht gerne reinreden. „Ich hatte ein Problem damit, auf andere zu hören“, sagte er. „Mir passte nicht, dass A&R-Leute mir sagen wollten, wie ein Song klingen sollte oder was zu dem Künstler passte.“ Bald ließen ihn Produzenten, denen seine Musik gefiel, gratis ihre Studios nutzen. Ende 2008 verdiente er genug Geld, um sich ganz der Musik widmen zu können. Er zog von seinem Apartment in eine schönere Wohnung in Beverly Hills. Christopher (Tricky) Stewart, der Produzent von Hits wie Rihannas „Umbrella“ und Beyoncés „Single Ladies“, wurde auf ihn aufmerksam und sorgte dafür, dass Ocean Ende 2009 als Solokünstler bei Def Jam unterschrieb.

Doch der Deal lief nicht so, wie Ocean sich das vorgestellt hatte. „Ich glaube, das Problem war, dass es ihnen nur darum ging, mich an sie zu binden.“ Da er von Def Jam keinen Vorschuss für die Plattenaufnahmen bekam, beschloss er nach monatelangem Hin und Her, die Platte auf eigene Faust zu machen. Er bat Freunde um Beats und Backing-Tracks und suchte im Internet nach Instrumentals von bekannten Songs, um sie für seine Zwecke umzufunktionieren. (Damals konnte er noch nicht besonders gut Klavier spielen und schrieb daher seine Songs nicht am Keyboard. Heute hat er jeden Morgen außer sonntags Klavier- und Musiktheorie-Unterricht.)

Unter dem Namen Lonny Breaux hatte Ocean meist auf einfache Reime und formelhafte Songstrukturen gesetzt, denn das ist der Stoff, aus dem Hits bestehen. Es gibt im Internet eine „Lonny Breaux Collection“ mit Songs, die er vor „Nostalgia“ mit und für andere geschrieben hat. Er war außer sich, als sie an die Öffentlichkeit gelangten, und behauptet, viele davon seien gar nicht von ihm. Doch im Großen und Ganzen liefern diese Stücke einen guten Überblick über seine Arbeit vor seiner Solokarriere. Als er unter dem Namen Frank Ocean für „Nostalgia, Ultra“ endlich Songs für sich selbst schreiben konnte, wurde alles anders. In dem zweiten Song auf dem Mixtape, „Novacane“, lästert er über den aktuellen Mainstream-Pop und kündigt gleichzeitig einen neuen Songwriting-Stil an. Das Stück beginnt mit einem düsteren Drumloop, und dann singt Ocean: „I think I started something/I got what I wanted/Didn’t I?/ Can’t feel nothin‘, superhuman /Even when I’m fucking, Viagra popping/Every single record auto-tuning/Zero emotion, muted emotion/Pitch-corrected, computed emotion “ Der Rest des Tracks handelt von einer Beziehung Oceans -oder des Erzählers -mit einer Frau, die er auf dem Rockfestival Coachella kennenlernt. Sie kiffen zusammen, schlafen miteinander und trennen sich dann wieder. Danach lässt sich Ocean von einer Sexgeschichte zur nächsten treiben, aber das, was er mit dieser einen Frau empfunden hat, findet er nirgendwo wieder. Anfangs hilft ihm der Sex, für eine Weile aus seinem Leben auszubrechen, aber später ist er nur noch abgestumpft, lustlos und apathisch. Doch das Gefühl der Abgestumpftheit bekommt im Laufe des Songs eine andere Bedeutung, und man ahnt, welch brillanter Kopf hinter dieser komplexen Geschichte steckt, die sich in täuschend einfachen Worten entwickelt. Unvorhersehbare Reime, Metaphern, Doppeldeutigkeiten und die Trauer um verlorene Liebe sind charakteristisch für Oceans Texte.

Zwei Wochen nach der Veröffentlichung von „Nostalgia“ riefen plötzlich Leute wie Sean Puff Daddy Combs bei den Clancys an und wollten wissen, wer dieser Typ sei. Auf Twitter schrieb Ocean sich ein paar Dinge von der Seele: „Heute Morgen beim Aufwachen dachte ich, all meine Follower sollten wissen, dass meine Plattenfirma total gepennt hat ich habe die Platte allein gemacht, nicht ISLAND DEF JAM. Deshalb fehlt auf dem Cover, das ICH SELBST ENT-WORFEN HABE, auch das Logo des Labels. Ich bin vermutlich selber schuld, dass ich meinem bescheuerten Anwalt geglaubt und meine Karriere so einem Versager-Label anvertraut habe. Scheiß auf Def Jam und jede andere Plattenfirma, die talentierte Jungs voller Träume unter Vertrag nimmt und sie dann im Stich lässt …

Zurück zu meinem Tag. Ich hab Lust auf Haferflocken und Toast.“

Zehn Tage später ging Ocean mit Beyoncé ins Studio, um einen Track für ihr Album „4“ aufzunehmen. Und Oceans Leute riefen Def-Jam-Chef Barry Weiss an, um mehr Geld für seine nächste Platte, „Channel Orange“, zu verlangen. „Ich glaube, damals hatte ich noch keinen Ton davon gehört“, erzählt Weiss. „Aber wir glaubten so sehr an diesen Jungen, dass wir ihm das Geld gaben.“ Ocean sprach von einer Million Dollar, Weiss hingegen von einem Fünftel der Summe.

Kurz bevor „Channel Orange“ herauskam, schrieb Ocean auf Tumblr: „Orange erinnert mich an den Sommer, in dem ich mich das erste Mal verliebt habe “ Eine knappe Woche später offenbarte er in dem vieldiskutierten offenen Brief, wie wichtig diese erste Liebe für ihn gewesen war: „Ich wollte Welten erschaffen, die rosiger waren als die meine. Ich versuchte, überbordende Emotionen zu kanalisieren.“ Channel. Orange.

Ocean bat den Produzenten James Ryan Ho alias Malay um Unterstützung, und dieser wurde sein wichtigster musikalischer Partner. Während Malay die Instrumentaltracks schuf, tippte Ocean Texte auf seinem Laptop, summte Melodien und probierte Kombinationen aus. Zur Inspiration ließen sie manchmal alte Filme ohne Ton laufen, und später hängte Ocean Pink-Floyd- und Bruce-Lee-Poster auf. Er hat einen sehr eklektizistischen Geschmack, seine Einflüsse reichen von Wes-Anderson-Filmen über Radiohead bis zu Celine Dion. Nach ein paar Monaten im Studio hatte Ocean von allen Songs der Platte Rohversionen im Kasten, darunter auch die kurzen Soundcollagen, die so viel zur Atmosphäre von „Channel Orange“ beitragen. Zu Hause schrieb er dann mit rotem Filzstift die Titel der Stücke auf eine abwischbare Tafel und begann mit der Reihenfolge herumzuspielen. „Das waren zwar nur Skizzen“, sagt Ocean, „aber im Kopf konnte ich schon die endgültigen Versionen hören.“

Im Juni 2011 engagierte Ocean den Produzenten Om‘ Mas Keith, um aus seinen Entwürfen fertige Albumtracks zu zimmern. Als Erstes kümmerten sie sich um die Vocals, dann ging es zurück ins Studio, um die Backingtracks zu bearbeiten. Für „Crack Rock“ und „Monks“ wurde ein Live-Schlagzeug eingespielt. „Sweet Life“ verwandelte sich von einem digitalen Pharrell-Williams-Track in einen lärmenden Live-Jam. An originellen Ideen mangelte es ihnen nicht: Für das Streicherarrangement auf „Bad Religion“ standen ihnen nur wenige Musiker zur Verfügung. Also stellte Toningenieur Jeff Ellis im Studio 1 der EastWest-Studios, in dem Frank Sinatra „My Way“ aufgenommen hat, viel mehr Stühle auf, als Musiker da waren, und verwendete für die Aufnahmen zwei alte Stereo-Bändchenmikrofone. Die Musiker setzten sich bei jedem Take auf einen anderen Stuhl, und später, als alle Takes zusammengemischt wurden, klang es, als würde ein ganzes Streichorchester spielen.

Tontechniker Ellis hörte die fertige Platte zum ersten Mal bei einer „Listening Party“, die Def Jam kurz vor der Veröffentlichung von „Channel Orange“ veranstaltete. „Man macht sich oft genug etwas vor, wenn man während der Aufnahmen glaubt, dass eine Platte toll wird“, sagte er. „Aber vom ersten Tag an, hat Frank nie ein Wort über seine Vision verloren. Er hat sie einfach umgesetzt.“

Vermutlich hat Ocean recht, was die Musik angeht: Am besten drückt man einfach Play. Nur so empfindet man die Schäbigkeit und Verzweiflung, mit der er so ein winziges Detail wie einen alten Fernseher aufladen kann; nur so kann man sich plötzlich dabei ertappen, wie man „Crack Rock! Crack Rock!“ mitsingt, und über die Raffinesse staunen, ausgerechnet den eingängigsten, begeisterndsten Song auf der Platte über die Droge zu machen, die am schnellsten wirkt und von der man am schwersten wieder loskommt.

Drogen sind das (tragische) Hauptmotiv der Platte, doch in Wirklichkeit geht es auf „Channel Orange“ um die unauflösliche Verstrickung von Liebe und Einsamkeit, um das, was man empfindet, wenn man einem Menschen oder einer Sache verfällt: Zusammengehörigkeit, Desillusionierung, Euphorie, Sucht und Schmerz. Wie Ocean es ausdrückt:“Wenn wir über Drogen reden, vergessen wir, wie berauschend auch abstrakte Dinge sind, Dinge, die keine chemischen Substanzen sind. Ich meine damit Liebe. Macht. Geld, was wiederum Macht bedeutet. Freiheit. Ehrlichkeit. Denn das, worum es in meinem Geständnis auf Tumblr ging, hatte auf mich vermutlich die gleiche Wirkung wie auf andere Heroin.“

„Bad Religion“, eine Art dekonstruierter Gospel mit Kirchenorgel, ist zweifellos das Meisterwerk der Platte. Der Text handelt davon, wie Ocean in einem Taxi sitzt und mit dem Fahrer spricht, der ihn kaum versteht. Er will diesem Mann sein Herz ausschütten, zum Teil auch gerade deshalb, weil er weiß, dass der ihn nicht versteht. Der Song ist eine Metapher für die Platte selbst, für den schöpferischen Akt, dafür, wie schwer es ist, jemandem etwas zu sagen, und für Oceans Leben in all den Jahren, in denen er im Verborgenen wirkte. Gegen Ende der zweiten Strophe heißt es:“Taxi driver/ I swear I’ve got three lives/Balanced on my head like steak knives/I can’t tell you the truth about my disguise/ I can’t trust no one / If it brings me on my knees/It’s a bad religion/Unrequited love/To me it’s nothing but a/One-man cult/And cyanide in my/ Styrofoam cup/I could never make him love me./It’s a bad religion/To be in love with someone/Who could never love you/Only bad religion/ Could have me feeling the way I do.“

Das Musikbusiness hat sich verändert. Ocean hat durch seine Musik und seine direkte Verbindung zu den Fans inzwischen so viel Macht, dass er es sich leisten kann, seinen Willen durchzusetzen. Auf die Frage, ob Def Jam inzwischen vor Ocean kuscht, antwortete Labelchef Barry Weiss: „Es kommt drauf an. Wir haben unterschiedliche Ansichten. Das ist wie in einer Ehe. Mal läuft’s gut, mal nicht so, aber wir lassen ihm viel Entscheidungsfreiheit, denn der Typ ist brillant.“ Ein Nein war das nicht. „Jeder weiß, dass die Plattenindustrie am Ende ist“, sagte mir Chris Clancy. „Frank sucht nach neuen Wegen. Die Plattenindustrie bringt es nicht. Die beurteilt Erfolg nur danach, wie oft ein Song verkauft und im Radio gespielt wird. Das ist nicht mehr zeitgemäß.“

Aber nicht alles lief so glatt für Ocean. Bei seinen ersten Live-Auftritten mit Band hatte er mit einem grottenschlechten Sound zu kämpfen, musste mittendrin abbrechen. Er sagte, er habe die Band gefeuert und sei zuletzt mit anderen Musikern aufgetreten. Außerdem hatte er ein paar unschöne Zusammenstöße mit der Polizei und einem anderen Musiker. Im Juni 2011 brach auf Twitter ein Streit mit dem für seine Gewalttätigkeit berüchtigten Sänger Chris Brown aus, der unter anderem dazu führte, dass zwei von Browns Männern Ocean per Auto stellten. Sie posteten ein Video von der Auseinandersetzung – nebeneinander haltende Wagen, durch offene Fenster gebrüllte Drohungen -auf Worldstar Hip-Hop, einer Website, auf der es hauptsächlich Videos von Schlägereien zu sehen gibt. Eine Zeitlang war Ruhe, doch im Januar kochte der Konflikt wieder hoch, und es gab eine heftige Auseinandersetzung zwischen Ocean, Brown und ein paar anderen Typen auf einem Parkplatz in West Hollywood.

Das ist eine der unangenehmen Nebenwirkungen des Erfolgs. Ocean entstammt der Machowelt des Hip-Hop und R&B, und auch wenn seine Musik sich über deren Klischees hinwegsetzt, scheint er selbst ihnen nicht zu entkommen.

Wie geht es also weiter? Ocean erzählte mir, dass er mit seinem Equipment nach Shanghai ziehen wolle, um „die nächsten zwei Jahre weit weg von zu Hause“ neue Stücke zu schreiben. Und ein Buch. „Angefangen habe ich schon damit“, sagte er mir. „Es wird ein Roman über zwei Brüder. Mehr sage ich nicht.“

Oceans Songs jedenfalls sind voller Schmerz, und es gibt viele Künstler, die sich auf diese Weise definieren. „Ich will doch nicht hoffen, dass ich das tue“, meinte er. „Selbst ohne Depressionen gibt es noch genug, woraus ich schöpfen kann.“ Er betrachte den Schmerz, den er durchlitten hat, nicht als Geschenk, sagt er. „Ich weiß, dass es oft heißt, zu leiden sei zugleich ein Fluch und ein Segen. Aber es ist kein Segen. Es ist einfach nur Schmerz. Auch ohne die Depressionen hätte ich eine Platte gemacht -wir würden jetzt nur über etwas anderes reden.“

In „There Will Be Tears“ singt Ocean: „You can’t miss what you ain’t had/Well I can, and I’m sad.“ Seine Musik ist voll von Sehnsucht nach Vergangenem und Trauer über verpasste Chancen zum Glücklichsein – das, was wir alle empfinden, wenn wir nostalgisch die Vergangenheit verklären und uns gleichzeitig wünschen, die Dinge wären anders gelaufen. Selbst die Soundcollagen auf seinen Platten – die surrenden Kassettenrecorder, analogen Wecker und abstrusen Filmdialoge – stammen aus einer Ära, die Ocean nicht selber miterlebt hat, ebenso wie die alten BMW, die er mit solcher Sorgfalt restaurieren lässt. Dennoch sehnt er sich nach diesen Dingen, und sein kreativer Triumph besteht darin, dass er in Texten und Musik eine eigene Sprache gefunden hat, um dieser Sehnsucht Ausdruck zu verleihen. Nostalgia, ultra.

„Musik und andere Kunst ist alles, was wir uns vom Leben erhoffen“, sagte Ocean, als wir in der Dunkelheit vor der BMW-Werkstatt saßen. „Für mich zumindest. Und nach dieser Devise habe ich die Geschichten, die Sounds und alles andere geschrieben, denn ich glaube, dass das der Sinn von Kunst ist. Immer einen Schritt weiter zu gehen.“

Ich sagte ihm, das sei ihm gelungen.

„Danke“, sagte er.

JEFF HIMMELMAN ist Reporter bei der „Washington Post“ und dem „New York Times Magazine“. Außerdem ist er Frontmann der Rockband Down Dexter. © 2013 „The New York Times“

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