Die besten Boxsets aller Zeiten (1): The Complete Smiths

Die wichtigsten Reissues im Check

Als ich Johnny Marr bei einem Interview die „Complete“-Box zum Signieren vorlegte, nahm er den Stift – und unterschrieb zunächst nicht, sondern tippte damit auf das Covermotiv mit den vier Britinnen, die Jürgen Vollmer in den 1960er-Jahren auf einem Jahrmarkt fotografierte. Marr ging jede der Frauen mit dem Stift ab – „bitte einprägen!“. Dann schlug er das Begleitbuch des Sets auf und zeigte auf ein Foto der Smiths: „Erkennst Du die Gemeinsamkeit? Diese Ladies – die sehen genauso aus wie wir! Die sind wir – in einer alternativen Vergangenheit!“ Morrissey habe beide Bilder wegen ihrer Ähnlichkeit ausgesucht.

Dass der Smiths-Sänger gerne in der Vergangenheit leben würde, ist bekannt. Er liebt die Swinging Sixties so wie die Nouvelle Vague und widmete Oscar Wilde ein Lied. Marr spielte dazu auf seiner Rickenbacker – erstaunlich, dass die vielleicht wichtigste britische Band der 1980er-Jahre uns keinen Klang der Zukunft verkaufen wollte.

Die Smiths veröffentlichten ihre Studioalben innerhalb eines schmalen Zeitfensters, von 1984 bis 1987, aber sehr effektiv, in jedem Jahr eines: „The Smiths“, „Meat Is Murder“, „The Queen Is Dead“ und „Strangeways, Here We Come“. Die „Complete“-Box umfasst mit 110 Songs auf acht Vinylscheiben nicht nur diese vier Werke, sondern auch die Compilations und Alternativfassungssets „Louder than Bombs“, „The World Won’t Listen“ und „Hatful of Hollow“. Man kann sie als Studioalben bezeichnen, da die darauf enthaltenen Singles in Klang und Erzählung Hinweise geben, auf welche der tatsächlichen Studioalben sie gehört hätten – Morrissey und Marr aber auf ihren Einbezug verzichteten, weil sie mit der parallelen Singles-Only-Veröffentlichungsstrategie den 1960ern und den Beatles Referenz erwiesen. „Panic“ ist „The Queen Is Dead“-Material, „William, It Was Really Nothing“ gehört auf „The Smiths“.

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Höhepunkt der Kollektion ist der Londoner Live-Mitschnitt „Rank“, der die Smiths bei ihrer 1986er-Tour als Quintett mit dem zweiten Gitarristen Craig Gannon präsentierte. Morrissey gefiel das nicht, empfand die Smiths dadurch als zweite Rolling Stones; aber der auf Alben mit bis zu vier Gitarren pro Lied antretende Marr wurde dadurch entlastet. „Sakrileg!“, befand jedoch der Sänger, der die Band als Einzelgänger an ihren Instrumenten verstand, keine Dopplungen wünschte. Dabei entfaltet die Anti-Hymne „The Queen Is Dead“ erst in dieser fetteren Bühnenversion ihr destruktives Potenzial.

„Complete Smiths“ bietet nicht „Complete Smiths“: 18 B-Seiten und Outtakes fehlen, darunter auch die drei Kooperationen mit der Eurovisions-Gewinnerin von 1967 Sandie Shaw, die besonders die Smiths-Debütsingle „Hand In Glove“ in einer Neuvertonung verblüffend aggressiv an sich reißt.

Immerhin, und darin hat sich die Produktpolitik bis heute leider verändert, nur damit wir mehr Geld ausgeben: „Complete“ enthält alle LPs und CDs in nur einem Set, man muss den Geldbeutel für das Gesamtwerk also nicht zweimal – einmal für das Vinyl, einmal für die CDs – plündern. Dazu, noch schöner: alle 25 Single-Auskopplungen als 7-Inch-Replicas.

Man kann das wuchtige Boxset sogar unbenutzt, foliert in die Vitrine stellen: Ein Download-Code – bei welchen Reissues gibt es den heute noch? – bietet alle 110 Songs digital. Ich bin einer dieser Käufer, die ihre Boxen am liebsten eingepackt ließen. Aber dann hätte Johnny Marr auf „Complete“ kein Autogramm hinterlassen können. Und mir das Geheimnis der Smiths-Doppelgänger im Booklet nicht verraten.

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