Die Freiheit des Andersfilmenden

Müssen wir unsere Handyvideos in Zukunft dem Rechtsanwalt zeigen, bevor wir sie auf YouTube posten? Wenn es nach einigen Medien-Oligarchen geht, könnte das passieren.

Die weitere Zukunft der Medien, die Zukunft von Meinungsfreiheit und Meinungsaustausch, die Zukunft des freien Zugangs zu Werkzeugen, Ideen, Communities und der gesamten Informationsgesellschaft, steht und fällt mit einem Wort: Rechtssicherheit. Anders gesagt: Wer ist haftbar für die rechtlich komplizierten Grenzfälle, auf die sich einige Internt-User nun mal einlassen?

In der Anwendung des Copyrightschutzes haben sich die meisten Staaten für die uneingeschränkte Haftung entschieden: Wenn ich ein Buch schreibe, das Copyrights verletzt, wenn ein Zweiter dieses Buch veröffentlicht, wenn ein Dritter es an eine Bibliothek verkauft, wo es sich ein Vierter ausleiht – dann verletzt jeder Teil dieser Kette das Copyright. Es macht keinen Unterschied, dass der Verleger meinen treuen blauen Augen glaubte, als ich ihm vorlog, das Buch selbst geschrieben zu haben. Er und alle anderen, die an Produktion und Vertrieb des Buches beteiligt waren, hätten sicherstellen müssen, dass das Buch tatsächlich keine Copyrights verletzt.

Unter dieser strikten Handhabung des Leistungsschutzrechtes gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder man ist haftbar – oder man ist es nicht. Die Person, die dir ein fragliches Buch verkauft hat, ist natürlich haftbar, aber wenn du das Buch kaufst und es übers Telefon zum Beispiel deinem Neffen in Tansania vorliest, ist die Telefongesellschaft nicht haftbar – und der Hersteller des Telefons genauso wenig. Man erwartet von einer Telefongesellschaft ja nicht, dass sie ihre Kunden abhört – und von dem Hersteller nicht, dass er das Mikrofon seines Telefons so konstruiert, dass nur unbedenkliche Inhalte übertragen werden können.

Die Telekoms haben eh wenig zu befürchten. Es gibt nur wenige Länder, in denen die Anbieter für Straftaten haftbar gemacht werden, die mit Hilfe ihrer Netze begangen werden. Ob nun Terroristen das Telefon benutzen, um eine Bombe zu zünden, ob ein Erpresser mit einem Anruf seine Lösegeldforderung stellt, ob ein Musikpirat einen unveröffentlichten Song seinem Freund vorspielt oder die Mafia ihre gesamten Aktivitäten per Telefon ausführt: Es ist nicht das Problem der Telefonanbieter.

Doch was ist mit dem Internet? Hier tauchen wir in die Untiefen der undurchsichtigen „beschränkten Haftung“ ein. Die meisten Länder wenden das „notice & take action“-Vorgehen an, das auf einer Copyright-Richtlinie basiert, die 1996 von der UNO im Rahmen ihrer WIPO-Gesetzgebung initiiert wurde: Ein Onlineprovider, also auch YouTube, Twitter, WordPress oder Wikipedia, hat die Verpflichtung, einem Hinweis auf eine Copyrightverletzung schnellstmöglich nachzugehen – und in der Regel das anstößige Material auch umgehend zu entfernen. (Wahrscheinlich kennt jeder die YouTube-Seiten, auf denen das hochgeladene Video „aus Copyright-Gründen“ wieder entfernt wurde.) Wenn sie umgehend reagieren, sind sie nicht haftbar. Tun sie es nicht, sind sie ebenso schuldig wie der User, der das Video hochgeladen hatte.

Es ist eine Vorgehensweise, die mehr Fragen aufwirft als Antworten gibt. Sie öffnet den selbst ernannten Moralaposteln und anderen Quertreibern Tür und Tor, um missliebigen Content widerspruchslos entfernen zu lassen. Wenn jemand etwas in seinem Blog postet oder ein Video hochlädt, das dir oder deiner Firma oder deinen religiösen Überzeugungen nicht genehm ist, brauchst du nur eine vermeintliche Copyright-Verletzung aus dem Zylinder zu zaubern, und – schon wird das Ärgernis gelöscht. Es ist eine Taktik, mit der zum Beispiel die Scientologen die Provider unter Druck setzen, die aber auch von Pseudoma-giern wie Uri Geller genutzt wird oder von noch weitaus unerquicklicheren Charakteren.

Aber trotz ihrer Unzulänglichkeiten hat die eingeschränkte Haftung auch einen positiven Effekt: Da die Provider nicht verpflichtet sind, das Material vor dem Upload zu prüfen, können sie Plattformen anbieten, die jedermann offenstehen – auch wenn der User nicht die finanziellen Mittel hat, sein Material von einem Copyright-Anwalt vorab prüfen zu lassen. In den meisten Fällen wäre dieser Aufwand auch grotesk überproportional: Ein Vater, der die fußballerischen Highlights seiner Tochter auf YouTube stellen möchte, wird deswegen kaum einen Copyrightexperten konsultieren wollen. Eine Bürgerrechtsbewegung, die für ihre Kampagne Tausende von Blogs und Videos sichten muss, die von ihren Mitgliedern eingereicht wurden, wird mit Sicherheit nicht über das notwendige Kapital verfügen, um alle Beiträge auf ihre rechtliche Unbedenklichkeit abzuklopfen – genausowenig wie der 15-jährige Schüler, der den ersten Auftritt seiner Band online stellen will.

Mit dem früheren Konzept der uneingeschränkten Haftung wären solche Projekte schlicht undenkbar gewesen – ja, das Internet, wie wir es heute kennen, hätte sich unter diesen Bedingungen mit Sicherheit nicht als Medium durchgesetzt. Es wäre zu einem besseren Kabelfernsehen mutiert, mit ein paar hundert armseligen Kanälen, auf denen der Informationsfluss immer nur eine Richtung kennt: von kommerziellen Anbietern hin zum Konsumenten.

Und dennoch hängt das Damoklesschwert der uneingeschränkten Haftung wie ein dunkler Schatten über dem Netz. Viacoms jüngste Milliardenklage gegen YouTube ist nur einer von mehreren Prozessen, mit denen Provider gezwungen werden sollen, die strikte Haftung für sämtliche Inhalte zu übernehmen. Hinzu kommen geheime Abkommen wie das „Anti-Counterfeiting Trade Agreement“ (mit dem der Kostensplit im Falle eine Copyrightverletzung neu definiert wird) – und schon trübt sich das Bild von der digitalen Zukunft merklich ein. Die Möglichkeit, Gedanken frei zu äußern, über Religion zu debattieren oder auch nur die Fußballkünste der Tochter im Netz zu propagieren – also sich im elektronischen Forum des 21. Jahrhunderts frei zu bewegen -, würde den Geschäftsinteressen einiger weniger Media-Oligarchen geopfert.

Es ist nur allzu leicht, solche Einwände als Nörgelei von Erbsenzählern abzutun. Schließlich „ist die Information doch nun mal frei, oder nicht?“. Die Realität sieht erheblich problematischer aus. Es geht hier nicht mehr nur um die Freiheit der Information – es ist die grundsätzliche Freiheit der Menschen, die auf dem Spiel steht: sich zu treffen, sich auszutauschen, zusammenzuarbeiten – in einem freien, unüberwachten Umfeld, das auch nicht dadurch an Wert verliert, dass jemand unaufgefordert einen suspekten Beitrag in die Runde schickt. Nochmal: Nicht die Freiheit der Medien steht zur Diskussion, sondern die Zukunft einer freien und offenen Gesellschaft.

Cory Doctorow, 39, ist Journalist, Blogger und Open-Source-Aktivist. Seinen Roman „Little Brother“ stellt er im September auf einer Lesereise vor (u.a. 13. und 15.9. Hamburg, 16.9. Köln, 23.9. Göttingen, alle sieben Termine auf seinem Blog craphound.com).

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