Die neutrale Nudel

Wir haben uns ja längst daran gewöhnt, dass bei einem Fußballspiel die Nachberichterstattung länger dauert als das Gekicke zuvor. Jedes Ereignis auf dem Rasen wird wiederholt, bis ihm jeglicher Zauber genommen ist, jeder Pass analysiert, jeder Spieler bewertet, jeder Kurz-vor-Schluss-Eingewechselte interviewt. Und am Ende haben die so genannten Experten mehr verbale Ballkontakte gehabt als jeder Spieler auf dem Feld.

Auch bei der EM werden sich Netzer-Delling wieder durch dadaeske Dialoge siezen und Johannes B. Kerner, Jürgen Klopp und Urs Meier durch saulangweilige Schlüsselszenen duzen. Ein letztes Mal, denn ARD und ZDF müssen sich nach dem Turnier neue Experten suchen. Da werden wir die alten sicher bald vermissen. Denn erstens kann es immer noch schlimmer kommen, und zweitens werden wir dann wohl nie eine Antwort auf die einzige Frage erhalten, die auch in wochenlangen Berichterstattungen bisher stets unbeantwortet blieb: Was ist der Urs Meier eigentlich für einer?

Steht da neben dem Jovialitätsberserker Kerner und dem Kringelkönig Klopp etwas maulfaul, stoisch gar herum und nimmt Partei für die freudloseste Spezies, die je einen Fußballplatz betreten hat: den Schiedsrichter. Ob wir ihn deshalb nur als biederen Sidekick mit kehlig vorgetragenem Minimalvokabular im Gedächtnis abgespeichert haben?

Zu Unrecht. Schauen wir mal genau hin. In Zeitlupe. Nein, besser: Standbild. Da sitzen zwei allerweltsblonde Herren mit zum Frohsinn verzerrten Gesichtern, ihre Körper in Sakko und Jeans — die öde Uniform der Berufsjugendlichen — gezwängt. Doch schauen Sie mal hier (ich markiere das mal mit nem Kreis). Da thront einer im schnittigen Anzug. Mit gewagt gemustertem Hemd und grellem Schlips. Die gesträhnten Haare fesch zurückgekämmt. Den Mund geheimnisvoll verschlossen. Ein Exzentriker, ein Playboy, eine Sphinx — der zackige Zwingli und Rächer der Unbestechlichen Urs Meier. Oder — wie man ihn in seinem Heimatdorf Würenlos nennt — „der Nudi“.

„Joh“, lacht der Nudi, „der Name kommt aus der ersten Klasse.“

In der Schule haben wir ganz viele gehabt, die Urs hießen. Und Meier gab’s auch so einige. Dann hat man natürlich so Spitznamengegeben. Wir waren kurz vor dem Turnen in der Garderobe, und einer hat mich gefragt: ,Was hast du gegessen?‘ Und da hab ich gesagt: .Nudeln.‘ Und er hat gesagt: ,Ah, dann bist du ja ein Nudi.‘ Also… das ist Schweizerdeutsch. Das hat nichts mit Nudisten zu tun, sondern mit Nudeln.“

Die Nudel, die hat sein Leben geprägt. Daher hat er auch später in seinem Heimatdorf ein Haushaltswarengeschäft eröffnet. Nein, widerspricht Meier, erhabe einfach auf eigenen Füßen stehen wollen, um neben dem Beruf seinen großen Traum verwirklichen zu können: ein berühmter Schiedsrichter werden.

An diesem Punkt müssen wir allem, was wir bisher über Jugendträume wussten, leise Byebye and so long sagen. Klar, man will Popstar werden — oder Fußballer oder Schauspieler oder wenigstens verdammt reich. Aber Schiedsrichter? Das ist eine fremde Welt. Die Welt der Philatelisten, Uhrmacher, Rodler u nd Modelleisenbahnfetischisten, in der ein lang gesogenes „Joh“ die nächste Annährung an einen emotionalen Rausch repräsentiert. Also: die Schweiz.

Dort lebt zwischen schneebedeckten Gipfeln und glasklaren Seen ein Volk, das seine Nationalmannschaft „die Nazi“ schimpft, weil es sich wohl in der Rolle des neutralen Beobachters viel besser gefällt als in der des verbissenen Wettkämpfers. „Vielleicht ist es so“, wägt (natürlich!) Meier ab. „Die Schweiz hat ja immer eine Sonderstellung gehabt, in der Politik oder in humanitären Angelegenheiten. Man denkt an die Schweiz als Vermittler, die Schweiz als neutrales Land. Das passt irgendwo zum Schiedsrichter und war vielleicht auch der Grund, dass ich für das politische Spiel der USA gegen den Iran bei der WM 1998 nominiert wurde.“ Das war damals Meiers erster Weltmeisterschaftseinsatz. Er war am Ziel seiner Träume. I n seiner Heimat wurde er sowas wie die Schweizer Entsprechung zu einem Popstar: der Neutralste von allen.

In anderen Ländern – England und Rumänien zum Beispiel hat man ihn allerdings manchmal auch verabscheut für seine vermaledeite Neutralität und die damit einhergehenden Entscheidungen. Gegen Dutzende Morddrohungen und Tausende von Hassmails, die ihn erreichten, ist „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ ein eher kleines Drama (hat ja auch ein Österreicher geschrieben).

Doch der mittlerweile 49-jährige Meier hat sich diese Krisen zu Nutze gemacht, hält nach dem Ende seiner Schiedsrichterlaufbahn 2004 heute Vorträge zum Thema Entscheidungsfindung für Manager und Wirtschaftsbosse. Daraus ist jetzt sogar ein Buch mit dem forschen Titel „Du bist die Entscheidung“ entstanden, in dem so kernige Sätze stehen wie „Ich schloss mein Geschäft ab, ging (aus dem WC) raus und sagte: ,Ich entscheide und sonst keiner.'“ Ein Hauch von Calvinismus umweht den neutralen Nudi da. Sein Geschäft — also der Haushaltswarenladen — läuft übrigens auch sehr gut. „Ich habe schon eine ganz klare Linie, wo ich langwill“, so Meier. „Und das ist oft für mein Umfeld nicht sehr einfach. Wer das Konservative will, das Eingefahrene, der hat mit mir garantiert Schwierigkeiten. Aber gleichzeitig brauche ich Leute um mich. Ich wollte alleine leben, nachdem ich mich getrennt habe von meiner Lebenspartnerin. Und ich habe gemerkt, dass ich das gar nicht kann.“

Er sei halt doch ein Teamplayer, daher fühle er sich auch im ZDF-Team „sauwohl“. Vor allem mit dem Klopp sei es „Liebe auf den ersten Blick“ gewesen. Das kann man von den ZDF-Zuschauer nicht unbedingt behaupten. „Einer hat sich mal unglaublich beschwert, dass ich das ,ch‘ so Schweizerdeutsch ausspreche — chrrr. Das sei ein Zeichen von niederer Intelligenz“, erzählt Meier. „Sicher, ich könnte meine Aussprache verbessern, wenn ich wollte. Aber ich möchte das eigentlich gar nicht. Ich denke, es soll auch als Schweizerdeutsch rüberkommen. Ich bin Urs Meier aus der Schweiz.“

Wenn man einen Schweizer fragen würde, ob Urs Meier in seiner Heimat ein Volksheld ist, würde er wahrscheinlich mit einem lang gezogenen „Joh“ antworten.

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