Die Teestuben-Richter

Wenn deutsche Muslime vor Gericht streiten, ist der Prozess oft nur Schauspiel – weil hinter den Kulissen Schlichter und Imame entscheiden. Joachim Wagner über die islamische Paralleljustiz.

Sie war Richterin auf Probe am Kriminalgericht Berlin-Moabit, im zweiten Dienstjahr. Die Anklage, die sie im Juli 2009 zu verhandeln hatte, schien mit einer Reihe aussagebereiter Zeugen gut unterfüttert. Tatort: der Wohnwagen eines libanesischen Gebrauchtwagenhändlers in Berlin-Kreuzberg. Melih M. wollte von einem Landsmann 17.000 Euro zurückhaben, die er ihm für den Kauf von Autos in Italien geliehen hatte. Hamit S. konnte und wollte seine Schulden nicht bezahlen. Der von Friedensrichter Hassan Allouche arrangierte Gütetermin verlief jedoch nicht gütlich: Der zahlungsunwillige Schuldner trug eine einen Zentimeter tiefe Fleischwunde davon und erstattete daraufhin Strafanzeige. Um die aus der Welt zu schaffen, bot der Messerstecher Geld und drohte dem Opfer gleichzeitig mit dem Tod. Nach zwei Monaten hisste das Opfer die weiße Fahne. Sein Anwalt teilte dem Gericht mit, dass man sich mit Melih M. geeinigt habe und der „darum bitte, das Verfahren einzustellen“.

In der Hauptverhandlung verweigerten die Zeugen entweder die Aussage, relativierten sie (die Stichwunde war plötzlich nur noch ein Kratzer) oder gaben an, nichts gesehen zu haben. Besonders unverschämt fand die Richterin den Auftritt des Zeugen Hassan Allouche. Der erklärte der Jungrichterin großspurig, dass eigentlich er als Friedensrichter für den Fall zuständig sei: „Ich soll alle Probleme in der arabischen Gemeinde schlichten, alle Nationalitäten kommen jetzt zu mir, aus der gesamten Bundesrepublik“, notiert das Protokoll den Beginn seiner Aussage.

Die Richterin fühlte sich überfordert. „Ich war völlig machtlos, und alle guckten nur auf den Friedensrichter.“ Sie stellte das Verfahren wegen geringer Schuld ein. Am Ende der Verhandlung überreichte ihr Friedensrichter Allouche seine Visitenkarte und fragte sie, ob man nicht künftig in dem einen oder anderen Fall zusammenarbeiten könne.

Dieser Fall ist typisch und untypisch zugleich. Typisch: Ein Friedensrichter schlichtet nach einer Straftat zwischen Täter und Opfer, mit dem Ziel, die deutsche Strafjustiz durch Beweisverfälschung zu sabotieren. Untypisch: Der Friedensrichter tritt öffentlich auf und reklamiert die Zuständigkeit für sich. Meist finden solche Schlichtungen im Verborgenen statt, weil sie nur dort ihre unheilvolle Wirkung auf den Strafprozess entfalten können. Und weil sich Zeugen, Schlichter und Strafverteidiger bei der Manipulation der Beweislage möglicherweise strafbar machen.

Friedensrichter brauchen keine Gerichtsgebäude. Sie sind Richter ohne Gesetz in der Tradition der Scharia. Sie suchen ihre Gerechtigkeit in arabischen Kulturvereinen und in Moscheen, in Kaffee- und Teestuben, in erster Linie aber in den Wohnungen von Tätern und Opfern. Sie werden hinzugezogen bei Ehe- und Familienstreitigkeiten, vor allem aber im Hintergrund von Strafverfahren. Das islamische Schlichtungswesen ist eine informelle Laienjustiz ohne juristische Ausbildung.

Streitschlichter sind in der Regel Familienältes-te oder Clanchefs. Ihr Einfluss hängt von Alter, Rang, Wohlstand und der Macht der Familie ab, der sie angehören. Die meisten haben ihre Schlichtungserfahrung aus den Heimatländern mit nach Deutschland gebracht. Einer der Gralshüter dieser Tradition, der Essener Abdul Ali Khan, hat schon vor seiner Flucht nach Deutschland vor 20 Jahren im Libanon geschlichtet. Hassan Allouches Ururgroßvater war bereits als Friedensrichter tätig. Es ist deshalb nicht ungewöhnlich, dass bei Konflikten in Deutschland auch Schlichter aus der Türkei oder dem Libanon eingeschaltet werden. Entweder telefonisch, oder aber sie fliegen zu diesem Zweck extra nach Berlin oder Bremen.

Warum, erklärt Giyasettin Sayan, Kurde und Vertreter der Linkspartei im Berliner Abgeordnetenhaus: Viele Türken oder Kurden stehen bis heute unter dem „Einfluss ihres Dorfstammes in Ostanatolien. Die Verantwortung des Stammes gilt auch über die Ländergrenzen hinweg, und der Kontakt bleibt immer bestehen.“ Libanesische Kurden melden ihre in Deutschland zur Welt gekommenen Kinder häufig noch in ihren Heimatdörfern in der Türkei an. Ein Anruf beim Bürgermeister genügt für einen Eintrag ins dortige Geburtenregister, ohne dass die Eltern dort erscheinen müssen. Der Islamwissenschaftler Ralph Ghadban: „Die auf diese Weise reproduzierten Machtverhältnisse im Urdorf dienen als Vorbild für die Gestaltung der Verhältnisse innerhalb der Diaspora.“

Die Regulierer arbeiten teils offen, teils im Verborgenen innerhalb krimineller Strukturen. Über einen der einflussreichsten Friedensrichter in Berlin sagt ein Insider: „Sein Wort ist Gesetz.“

In muslimisch dominierten Stadtteilen wie Berlin-Neukölln, Bremen-Huchting oder Essen-Altenessen hat sich eine Paralleljustiz herausgebildet. Sie ruht auf drei Säulen: Schlichtung, Strafverzicht gegen finanzielle Wiedergutmachung und Selbstjustiz. Die meisten Schlichtungen werden von Drohungen oder Gewalt begleitet. Deshalb sind Friedensverträge für den Bremer Strafverteidiger Martin Stucke auch keine gewaltfreien Lösungen auf Augenhöhe, sondern häufig „Machtdiktate“ der reicheren Familie.

Das Bewusstsein einer eigenen Schattenjustiz ist in manchen Kreisen so ausgeprägt, dass hier sogar „Haftbefehle“ ausgestellt werden. Ein Insider erzählt: Ein Schuldner kann zum Beispiel geliehene 40.000 Euro nicht zurückzahlen. Der Verleiher und seine Familie stellen einen „Haftbefehl“ aus, der Schuldner wird überall gesucht, und schließlich glauben Späher, ihn an der spanischen Costa Brava im Urlaub entdeckt zu haben. Nach der Rückkehr holt ihn ein sechsköpfiges Rollkommando ab und bringt ihn nach Berlin. Dort wird er gefoltert. Als Nachbarn, durch seine Schreie alarmiert, die Polizei rufen und diese eintrifft, erzählt das Opfer aus Angst vor weiteren Schlägen, dass die Anwesenden seine Retter und die wirklichen Täter bereits geflohen seien.

Es kommt zur Einigung: Das Opfer verzichtet auf eine Strafanzeige. Im Gegenzug ziehen die Täter von den geschuldeten 40.000 Euro 20.000 als Schmerzensgeld ab. Die restlichen 20.000 Euro verpflichten sich Eltern des Opfers zu zahlen. Die deutsche Strafjustiz hat von diesen schweren, bei der Vollstreckung eines „Haftbefehls“ begangenen Straftaten nie etwas erfahren.

Eine zwielichtige, noch völlig ungeklärte Rolle spielen in der Paralleljustiz die Imame. Verbreitet und bekannt ist, dass sie bei Ehe- und Familienstreitigkeiten vermitteln. Es gibt aber auch Indizien dafür, dass Imame hinter den Kulissen von Strafverfahren ihre Fäden ziehen – zulasten des deutschen Rechtsstaates. Ein Beispiel: Nach einer Messerstecherei in einer Diskothek wird das Opfer so schwer verletzt, dass es nur durch eine Notoperation gerettet werden kann. Bis zum 15. Verhandlungstag scheint eine Verurteilung des Messerstechers aufgrund der Beweislage sicher. An diesem Tag übergibt der Anwalt dem Gericht einen Brief eines Weddinger Imams, der aufgrund mehrerer Gespräche mit ihm die Glaubwürdigkeit des Opfers in Zweifel zieht.

In der Hauptverhandlung verweigert daraufhin der Geschädigte die Aussage und beruft sich auf sein Auskunftsverweigerungsrecht wegen drohender Selbstbelastung. Damit gibt er zu erkennen, dass er bei seiner ersten Aussage gelogen und sich dadurch möglicherweise wegen Falschaussage strafbar gemacht hat. Das Gericht sieht keinen anderen Ausweg, als den Angeklagten aus Mangel an Beweisen freizusprechen. Zu gern hätte das Gericht „die Hintergründe der massiven Abkehr von der ursprünglichen Aussage“ des Opfers aufgeklärt. Eine Demonstration der Ohnmacht.

Einer der wenigen Imame, die über ihre Rolle als Friedensrichter öffentlich sprechen, ist der Münchener Scheich Abu Adam. Er empfinde es als religiöse Pflicht, erklärte er dem „Spiegel“, Streit zwischen den Gläubigen zu schlichten. Er lade die Parteien zu sich in die Moschee ein, höre beide Seiten, lasse am Ende einen Friedensvertrag unterzeichnen. In neun von zehn Fällen seien die Betroffenen mit dem Kompromiss einverstanden: „Mein Urteil ist gerechter als das des Staates.“ Die Kritik, Teil einer Schattenjustiz zu sein, versteht er nicht oder will er nicht verstehen, garniert mit Zynismus: „Ich nehme der Polizei Arbeit ab.“

Niemand weiß sicher, ob Schlichtungen in muslimisch dominierten Einwanderervierteln nur Einzelfälle sind oder regelmäßig vorkommen. Der ehemalige Berliner Abteilungsleiter für Kapitalverbrechen, Oberstaatsanwalt Ralph Knispel, geht davon aus, dass die Schlichtungen „weit verbreitet sind“, die Strafverfolgungsorgane aber nur die „Spitze des Eisbergs“ zu sehen bekommen. „Es ist gang und gäbe. Jeder Anfänger weiß nach drei Verfahren, dass es diese Friedensgespräche gibt“, erklärt Wilhelm Weber von der Bremer Polizei. Die Essener Rechtsanwältin Christiane Theile hat bei muslimischen Klienten noch „keinen Fall erlebt, in dem eine Schlichtung nicht versucht wurde“.

Eine solche wurde auch bei einer Familienfehde in Essen probiert. Weil Junis K. angeblich schlecht über Mehmet F. geredet hatte, forderte der ihn zu einem Treffen auf. Im Verlauf des Palavers vor seinem Haus zog Junis K. eine Pistole und schoss seinem Herausforderer in den Fuß. Der Schütze wurde noch am Tatort festgenommen. Mithilfe eines Imams, eines Jugendkontaktbeamten der Polizei, des Integrationsbeauftragten der Stadt Essen und eines Schlichters gelang es, die Gemüter zunächst zu kühlen. Nach zig Verhandlungsrunden wurde bei einem Versöhnungsessen zumindest ein Waffenstillstand zwischen den Familien K. und F. besiegelt.

Drei Monate später, im Februar 2010: eine Hochzeit mit 600 Gästen und Brautleuten aus den Familien des Täters und des Opfers. Den Auftritt des tatverdächtigen Junis K. mit vier Bodyguards empfand die Opferfamilie als Show eines Gewinners. Angeblich aufgehetzt von den Älteren, schoss der Bruder von Mehmet F. dem damaligen Schützen Junis ohne Vorwarnung ins Bein und flüchtete. Eine archaische Rachetat. Wieder Friedensgespräche und Krankenhausbesuche, um die Wogen zu glätten. Ergebnis: Der Schütze stellte sich der Justiz – allerdings ohne eine Aussage zu machen. Für die kurdischen Libanesen eine symbolische Geste, für die Polizei von eher geringer Bedeutung, weil sie den Namen des Täters bereits kannte.

Die Essener Justiz zeigte hier zwei Gesichter: Den ersten Täter verurteilte sie wegen fahrlässiger Körperverletzung zu neun Monaten Gefängnis auf Bewährung. Er hatte im Prozess behauptet, dass die Kugel Mehmet F. nur zufällig getroffen habe. Es spricht viel dafür, dass im Hintergrund ein Streitschlichter gewirkt hatte. Im Prozess gegen den zweiten Schützen zeigte das Gericht dagegen Flagge und verurteilte den vielfach vorbestraften Revolverhelden zu sechs Jahren Haft. Bemerkenswert waren die klaren Worte in Plädoyers und Urteilsbegründung. „Wir können hier keine Parallelgesellschaft dulden“, kritisierte der Oberstaatsanwalt das Verhalten der Libanesen. Ähnlich der Kammervorsitzende: „Rache, Vergeltung, Selbstjustiz“ haben hier keinen Platz. „Wenn das jeder macht, haben wird hier den Wilden Westen.“

Die Schlichtung und die Möglichkeit, nach einer Straftat den Frieden zwischen Täter und Opfer durch finanzielle Wiedergutmachung wiederherzustellen, wurzelt in einer Jahrtausende alten Rechtstradition, die vom Koran übernommen wurde. Die deutsche Strafjustiz hat bisher noch kein wirksames Mittel gegen ihren muslimischen Widerpart gefunden, insbesondere dann nicht, wenn sie auf Zeugenaussagen angewiesen ist, weil Sachbeweise wie DNA- oder Blutspuren fehlen. Schon die verstorbene Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig beklagte die gesunkene Geständnisbereitschaft und die hohe Freispruchquote. Der Berliner Kriminaldirektor Carsten Wendt kritisiert: „Das Rechtssystem wird ausgehebelt. Mit den bisherigen polizeilichen Mitteln ist der Nebenjustiz nicht beizukommen.“ Für den Oberstaatsanwalt Bernhard Mix hat der Boykott der deutschen Strafjustiz durch die islamische Gegengerichtsbarkeit „verheerende Folgen für den Rechtsstaat“.

Die hat die Justiz aber zum Teil auch mitzuverantworten. Sie hat auf die Herausforderung durch die Schattenjustiz bisher nur mit träger Routine statt mit Kampf und Ehrgeiz reagiert. Dabei gibt es einige Hebel, sie in die Schranken zu weisen. Zum Beispiel gegen Streitschlichter wegen Strafvereitelung intensiver und hartnäckiger als bisher zu ermitteln oder im Strafverfahren einmal wirklich nachzuhaken, wenn Opfer und andere Zeugen ihre Aussagen plötzlich verändern, an Gedächtnisschwund leiden, Gewalttaten bagatellisieren oder mithilfe trickreicher und zum Teil gewissenloser Anwälte jede Aussage in der Hauptverhandlung verweigern.

Die islamische Paralleljustiz ist ein Produkt der Parallelgesellschaft und so auch eine Folge misslungener Eingliederung. „Wenn Friedensrichter arbeitslos werden, ist das ein Zeichen von Integration“, wagt der Neuköllner Migrationsbeauftragte Arnold Mengelkoch einen Blick in die Zukunft. Da es aber noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern wird, bis Streitschlichter in Berlin, Essen oder Bremen arbeitslos werden, muss die Justiz ihnen schon heute die Rote Karte zeigen.

Joachim Wagner, Jahrgang 1943, Jurist und Journalist, leitete u. a. die ARD-Sendung „Panorama“ und war von 2006 bis 2008 stellvertretender Chef des ARD-Hauptstadtstudios. Sein Buch „Richter ohne Gesetz“ ist im Econ Verlag erschienen (18 Euro).

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