„Die Vergangenheit ist ein unterschätztes Land“

Ein Treffen mit Florian illies, dem Chronisten der „Generation Golf“, der nun auf die versunkene Zeit vor den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts schaut

Dem zwölfjährigen Louis Armstrong gebührt die erste Sekunde des Jahres 1913: „Ein Schuss hallt durch die dunkle Nacht.“ Die Polizei steckt den kleinen Louis mit dem gestohlenen Revolver in eine Besserungsanstalt, dessen Leiter weiß sich nicht anders zu helfen, als dem wilden Jungen spontan eine Trompete in die Hand zu drücken – „eigentlich hat er ihn ohrfeigen wollen“.

Es ist natürlich kein Zufall, dass Florian Illies gleich auf diese erste Prosaminiatur seines neuen Buches, „1913“, zu sprechen kommt. Schließlich spricht er mit dem Rolling stone, und da scheint das der beste Aufhänger. Auch wenn sich auf seinem Tisch Kunstbände und Kataloge stapeln – er ist seit einem Jahr Partner des Berliner Auktionshauses Villa Grisebach in der mondänen Fasanenstraße in Charlottenburg -, ist er doch Journalist geblieben. Und das merkt man auch seiner Chronik „1913. Der Sommer des Jahrhunderts“ an. Dieser leichte, emphatische, doch kundige Erzählton, dieses Ausmalen von trockenen Fakten, die er drei Jahre lang zusammengetragen hat, und die fast kindliche Freude am vermeintlich unbedeutenden Detail.

Illies hat sich also nun das Jahr 1913 als eine Scheibe der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Ereignisse in Kunst, Literatur, Politik und Klatsch aus der Weltgeschichte herausgeschnitten. Er geht der Frage nach, ob es dort nicht mindestens genauso viele Hinweise dafür gegeben habe, dass eben nicht alles unvermeidbar auf diese Jahrhundertkatastrophe des Folgejahrs zusteuerte, auf das „Age of Extremes“, wie der britische Historiker Eric Hobsbawn das 20. Jahrhundert nannte.

„Ich war schon immer skeptisch gegenüber diesem naseweisen Besserwissen, diesem ‚Das konnte man ja kommen sehen'“, sagt Illies. So reiht er Monat an Monat: Kafka tritt auf, Benn, Kirchner, Rilke, Musil, Kokoschka, Proust, Freud, Hitler, Stalin, Picasso, Thomas Mann. Illies montiert all diese Jahrhundertgrößen in seine Text-Collage. „Ich habe immer versucht, über Vergangenes zu schreiben, als sei es Gegenwart. Die Vergangenheit ist ein sehr unterschätztes Land“, sagt er.

Gehen wir doch noch mal zurück in dieses Land und schauen auf Illies, den Journalisten. Nehmen wir den 20. November 2001: Ein letzter weißer Fleck auf der ersten Seite, zwei Stunden noch, dann muss die Zeitung raus. Florian Illies schreibt: „Der UN-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Francesc Vendrell, hat in Kabul angekündigt, die Gespräche mit Vertretern der afghanischen Bevölkerungsgruppen würden Montag in Berlin beginnen.“

Ein Hospitant bei den „Berliner Seiten“, jenem längst verschwundenen Lokalteil der „FAZ“, sitzt nebenan im Büro und telefoniert mit Stefan Bartel, einem Gründungsmitglied des 1. Berliner Bart-Clubs. Illies schreibt derweil weiter: „Da sich die Politiker auf langwierige Verhandlungen einstellen, stehen auch die spektakulären Bärte der Beteiligten vor einer harten Belastungsprobe.“ Stefan Bartel berlinert dem Jungjournalisten in den Hörer: „Bei Minusgraden kann es aber leider auch vorkommen, dass sich kleine Schnupftropfen im Bart verfangen und plötzlich gefrieren und Eiszäpfchen bilden.“ Der Artikel geht schließlich mit folgender Schlagzeile in den Druck: „Afghanistan-Konferenz in Berlin: Tips für die Bartpflege“. Er hätte es in dieser Form niemals in den Lokalteil einer anderen Tageszeitung geschafft.

Bereits im Sommer 2002 sollte die Zeitungskrise dieses wundersame Projekt unter sich begraben, es auslöschen. Zuvor zerfiel die Stadt in den „Berliner Seiten“ in viele absurde Nahaufnahmen. Das war Großstadt-Impressionismus, Feuilleton der 20er-Jahre. Schwere Ironie, leichter Humor. Und der „empfindsame Diagnostiker des Zeitgeistes“ („Süddeutsche Zeitung“) und Kunsthistoriker Illies packte ihn als Redaktionsleiter auf diese Seiten, obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits die Entwicklung der neuen „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ vorantrieb.

Später wurde er Chefredakteur, dann Herausgeber des Kunstmagazins „Monopol“, zuletzt folgte ein Intermezzo als „Zeit“-Feuilletonchef. Die Frage, warum er vor einem Jahr den beruflichen Gipfel des Journalismus verließ und sich fortan ausgerechnet mit der Kunst des 19. Jahrhunderts beschäftigen wollte, hat er schon selbst beantwortet: „Ich könnte mir vorstellen, einmal etwas ganz anderes zu machen“, heißt es im zweiten Teil seines Bestsellers „Generation Golf“ über eine Generation, die „von tragischen Verstrickun-gen verschont geblieben ist“.

Die beiden Bände versicherten den Endzwanzigern damals, dass sie nicht allein seien, dass schon alles in Ordnung sei: ihre Politikverdrossenheit, ihr aalglatter Konservatismus, ihre Markenhörigkeit. Wenn man das heute noch einmal durchblättert, streift man unwillkürlich den Bart, der diesen Beobachtungen inzwischen genauso anhaftet wie den Angehörigen der beschriebenen Generation. Aber das kann man Flo-rian Illies kaum vorwerfen. Es hätte ja auch alles ganz anders kommen können.

„1913. Der Sommer des Jahrhunderts“ von Florian Illies ist im S. Fischer Verlag erschienen und kostet 19,99 Euro.

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