„Dreams (Sex Love)“ gewinnt Goldenen Bären

Das norwegische Coming-of-Age- und Liebesdrama wird als bester Film der 75. Berlinale ausgezeichnet. Die deutschen Bären-Kandidaten gingen leer aus.

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Der Goldene Bär für den Besten Film der 75. Berlinale geht an das Coming-of-Age-Drama „Dreams (Sex Love)“ des norwegischen Filmemachers Dag Johan Haugerud. Der Film erzählt die Geschichte der 17-jährigen Johanne, die sich hemmungslos in ihre Lehrerin Johanna verliebt und diese alles verändernde Erfahrung in ihrem Tagebuch festhält. Als sie sich ihrer Großmutter und Mutter gegenüber öffnet, weichen deren Vorbehalte ob der literarischen Qualität ihrer Aufzeichnungen.

Jurypräsident Todd Haynes lobte den Film als eine außergewöhnliche Meditation über die Liebe, die gleichermaßen überwältigend eigen als auch allgemeingültig sei. Mit Zuversicht und Subversion erkunde Dag Johan Haugerud den Antrieb der Liebe und des Begehrens. Geduldig beobachte die Kamera das Geschehen, das voller überraschender Momente sei.

„Dreams (Sex Love)“ war ein wärmendes Highlight in einem Wettbewerb, der sich vor allem an den Krisen der Gegenwart im Großen wie im Kleinen abgearbeitet hat. Die komplexe Geschichte ist leichtfüßig erzählt, verbindet die Zerbrechlichkeit der ersten Liebe mit überraschenden Wendungen in der Perspektive. Ella Øverbye verkörpert die heranwachsende Johanne mit viel Gespür für die emotionalen Zwischentöne, die sich auch in der Bildsprache spiegeln.

Im Mai soll der Film in den deutschen Kinos starten

Ein absolut würdiger Sieger, der sich auch in den deutschen Kinos durchsetzen dürfte.

Von diesem Erfolg habe er nicht zu träumen gewagt, sagte der norwegische Regisseur Dag Johan Haugerud bei der Preisverleihung. Schon kurz vor der Abschlussgala der Berlinale wurde sein Drama als bester Wettbewerbsfilm mit dem FIPRESCI-Preis der internationalen Filmpresse sowie dem Gilde Filmpreis der Arthouse-Filmtheater ausgezeichnet.

„Dreams (Sex Love)“ ist der dritte Teil der Trilogie „Oslo Stories“, in der sich der Norweger mit komplexen Fragen des menschlichen Miteinander, mit sozialen Erwartungen und den Perspektiven der anderen auseinandersetzt. Im Mai soll der Film in den deutschen Kinos starten.

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Ein anderer Favorit auf den Goldenen Bären, der brasilianische Film „The Blue Trail“, wurde mir dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet. Im Mittelpunkt steht eine 77-jährige Frau, die wie alle Alten in ihrer Gesellschaft in eine Pflegekolonie abgeschoben werden soll. Doch die lebensfrohe Tereza hat auf die faschistoide Zwangspensionierung keine Lust und macht sich auf den Weg, die Freiheit zu finden. Dieses mitreißende Abenteuer von Gabriel Mascaro macht in diesen Zeiten Hoffnung, dass das Leben am Ende stärker ist als die Angst vor der Dunkelheit.

Ähnliches gilt für den argentinischen Schwarz-Weiß-Film „The Message“ von Iván Fund, der mit dem Silbernen Bären Preis der Jury ausgezeichnet wurde. Im Mittelpunkt dieses berührenden Road-Movies steht Anika, die mit Tieren kommunizieren kann. Anikas Gabe ist nur Mittel, um von der vertrauten Beziehung zwischen ihr und ihren Großeltern zu erzählen, die sich liebevoll um ihre Enkelin kümmern. Die Jury gibt mit „The Message“ einem leisen, aber perfekt ausbalancierten Film die große Bühne. Eine tolle Entscheidung, die das Ensemble im Publikum zu Tränen rührte.

Kleine Dramen, in denen sich die großen andeuten

Der Silberne Bär für die Beste Regie geht an den chinesischen Filmemacher Huo Meng und dessen poetisches Drama „Living The Land“. Erzählt wird die Geschichte des zehnjährigen Chuang, der bei seinen Großeltern in der chinesischen Provinz lebt, während seine Eltern in der Millionenstadt Shengzen die Existenz der Familie absichern. Der erste von zwei chinesischen Filmen, der das Rennen um die Berlinale-Bären eröffnete, führt das einfache und traditionelle Leben auf dem Land vor Augen. In langsamen Bildern erzählt Mengs Film von den kleinen Dramen, in denen sich die großen andeuten.

Der Silberne Bär für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle ging völlig zurecht an die australische Schauspielerin Rose Byrne. In dem Drama „If I Had Legs I’d Kick You“ spielt sie in einer absoluten Powerperformance eine quasi alleinerziehende Mutter, der die Decke ganz wortwörtlich auf den Kopf fällt. Mit jeder Minute wächst die Sympathie für diese am Rand des Nervenzusammenbruchs tanzende Mutter, die von Byrne grandios selbstbezogen interpretiert wird. Byrne zieht alle Register, um diese zwischen Liebe und Panik, Verzweiflung und Überforderung, Spott und Wut wankende Frau ins Bild zu setzen.

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Konkurrenz hatte Byrne eigentlich nur in Ethan Hawke, der für seine beeindruckende Performanz als eitler Dandy in Richard Linklaters Broadway-Hommage „Blue Moon“ leer ausging. Dafür wurde der irische Schauspieler Andrew Scott, der in Richard Linklaters Broadway-Hommage „Blue Moon“ den Komponisten Richard Rodgers spielt, mit dem Silbernen Bären für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Nebenrolle ausgezeichnet. Hier hätte man sich auch gut einen Preis für Hanna Schygulla vorstellen können, die in Ameer Fakher Eldins Drama „Yunan“ eine Gastwirtin spielt. Die deutschsprachigen Filme gingen jedoch alle leer aus. Wirklich überraschend war das nicht, auch wenn Frédéric Hambaleks „Was Marielle Weiß“ durchaus zu unterhalten wusste.

Der Silberne Bär für das Beste Drehbuch ging an den Filmemacher Radu Jude. Der Rumäne hatte 2021 mit seinem Film „Bad Luck Banging or Loony Porn“ den Goldenen Bären gewonnen, nun wurde er für das Drehbuch seines mit iPhone und kleinem Budget gedrehten Films „Kontinental ’25“ ausgezeichnet. Der Film handelt vom Zusammenbruch einer Gerichtsvollzieherin und den Folgen des Raubtierkapitalismus in Osteuropa. Der Film sei ein wertvoller Beitrag zu den politischen und philosophischen Diskussionen über die Entmenschlichung in der Gegenwart, lobte die Jury. Jude, der den Preis Luis Buñuel widmete, griff das Thema der Entmenschlichung in einem politischen Kommentar auf der Bühne auf. Er hoffe, dass der Internationale Gerichtshof dem „Morden all der internationalen Bastarde“ ein Ende mache, sagte er unter Applaus auf der Bühne.

Hadžihalilovićs Film über das Filmemachen ist eine düstere Meditation, deren Auszeichnung durchaus überrascht

Der Silberne Bär für eine Herausragende Künstlerische Leistung ging an die Französin Lucille Hadžihalilović. Die Jury zeichnete die außergewöhnliche visuelle und stilistische Sprache in ihrem Film „The Ice Tower“ aus, der aus der Perspektive einer jungen Ausreißerin die Dreharbeiten für „Die Schneekönigin“ beobachtet. Hadžihalilovićs Film über das Filmemachen ist eine düstere Meditation, deren Auszeichnung durchaus überrascht.

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Der erste Wettbewerb der neuen Berlinale-Chefin Tricia Tuttle war ein solider Mix aus Arthouse-, Genre- und Unterhaltungskino mit wenigen Höhen und Tiefen. An die Auswahl der A-Festivals in Cannes oder Venedig kommt die Berlinale aber auch unter der Britin nicht heran. Dass es Tuttle aber gelungen ist, Filme wie „Mickey 17“ von Oscar-Preisträger Bong Joon Ho oder „A Complete Unknown“ von James Mangold mitsamt Staraufgebot nach Berlin zu holen, kann sie sich auf die Habenseite ihrer Festivalpremiere schreiben.

Immerhin konnte mit „Dreams (Sex Love)“ mal wieder ein Spielfilm die Jury überzeugen. In den vergangenen zwei Jahren wurden mit Mati Diops „Dahomey“ und Nicolas Philiberts „Auf der Adamant“ jeweils eine der wenigen Dokumentationen im Wettbewerb als bester Film ausgezeichnet.

Erstmals wurde auf der Berlinale nach dem besten internationalen Spielfilmdebüt gesucht. Der Preis in der Sektion „Perspectives“ ging an den mexikanischen Film „The Devil Smokes (and Saves the Burnt Matches in the Same Box)“ von Ernesto Martínez Bucio und Karen Plata. Er zeigt die Welt durch die Augen von fünf Geschwistern, die von ihrer schizophrenen Großmutter von der Außenwelt isoliert werden.

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Der Dokumentarfilmpreis der Berlinale ging an „Holding Liat“ von Brandon Kramer. Der bedrückende Film begleitet die Eltern und Kinder von Liat Beinin Atzili, die am 7. Oktober 2023 mit ihrem Mann Aviv von Hamas-Terroristen in den Gaza-Streifen entführt wurde, direkt nach der Entführung bei der Verarbeitung der Ereignisse. Eindrucksvoll zeigt der Film, wie das Engagement der Angehörigen zur Befreiung der israelischen Geiseln politisch instrumentalisiert wurde.

Das große Dilemma im Nahen Osten in den Blick nehmend verliert der Film nie seine menschliche Perspektive, macht auch die Zerrissenheit der Familie sichtbar. „Holding Liat“ setzte sich gegen 15 andere Filme durch und wird im kommenden Jahr am Wettbewerb um den Oscar für den besten Dokumentarfilm teilnehmen.

Farce eines widerständigen Lebens

Die Teddy-Awards für die besten queeren Filme sind an den australischen Animationsfilm „Lesbian Space Princess“ von Emma Hough Hobbs und Leela Varghese und Rosa von Praunheims autofiktionalen Film „Satanische Sau“ gegangen. „Lesbian Space Princess“ erzählt von der introvertierten Saira, die von ihrem Heimatplaneten Clitopolis vertrieben wird und sich auf einer intergaylaktischen Mission mit „Straight White Maliens“ anlegt, um ihre entführte Freundin zu befreien. Die „Satanische [Rampen-]Sau in Rosa von Praunheims poetischem Essayfilm ist er selbst, gespielt von Armin Dallapiccola, der eindrucksvoll die Farce eines widerständigen Lebens zur Aufführung bringt.

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Die in Berlin und Istanbul lebende Filmemacherin Martina Priessner ist gleich zweifach ausgezeichnet worden. Ihre Dokumentation „Die Möllner Briefe“ erhielt sowohl den Amnesty International Filmpreis als auch den Panorama-Publikumspreis für den besten Dokumentarfilm. Der Film geht über 30 Jahre nach den rechtsextremistischen Brandanschlägen von Mölln dem Trauma der Hinterbliebenen auf den Grund. Priessner begleitet İbrahim Arslan, der sich inzwischen politisch engagiert, um den Verlust seiner Schwester, Cousine und Großmutter zu verarbeiten. Dabei spielen auch die Solidaritätsschreiben eine Rolle, die eine Studierende vor wenigen Jahren zufällig im Stadtarchiv Mölln gefunden hat.

Tausende Bürger:innen aus dem ganzen Land wendeten sich nach dem Anschlag schockiert, tröstend und emphatisch an die Betroffenen, die diese Schreiben aber nie bekommen haben. Jahrzehnte später such Arslan die Verfasser:innen dieser Briefe auf und kommt mit ihnen ins Gespräch.

Ein wichtiger und hoch aktueller Film, der (wie auch Marcin Wierzchowskis Doku „Das Deutsche Volk“) von Behördenversagen und fehlender Empathie gegenüber den Opfern rechter Gewalt erzählt und durch die Auszeichnung hoffentlich ein breiteres Publikum findet.