Gespenster brauchen keine Millionen

Horrorfilmer führen auch 2011 vor, wie man mit wenig Geld großes Kino macht – ein Rezept, nach dem Hollywood giert.

Wenn man sich das Unvorstellbare schon nicht vorstellen kann – dann kann man es trotzdem noch auf der Filmleinwand zeigen. Ganz platt. Zum Beispiel die Geschichte vom deutschen Doktor, dem geistigen Großneffen von Mengele und dem Zahnarzt aus „Marathon-Mann“, der eine irre Idee hat: den menschlichen Tausendfüßler zu erschaffen. Dazu kidnappt er Leute, zum Beispiel amerikanische Touristinnen mit Autopanne. Und näht sie im Geheimlabor aneinander. Den Mund eines Menschen an den Hintern des anderen, bis aus drei Organismen ein einziger wird. Mit allen tragischen wie widerlichen Konsequenzen.

Das ist grob der Plot von „The Human Centipede“, dem Film des holländischen Regisseurs Tom Six, der 2010 beim Fantasy Filmfest seine Deutschlandpremiere hatte und nicht nur dort das Publikum spaltete: die nächste Dimension des Kino-Horrors – oder auf Provokation gebürsteter Quatsch? Am Ende wird er als einer der nasties in die Kinogeschichte eingehen, über die alle reden, die aber fast keiner gesehen hat.

Dabei hat Horror als Genre ja immer davon gelebt, dass er viele Zuschauer ausgeschlossen hat. Die zu jungen, die nicht rein durften. Die nervösen und pikierten, die nicht wollten. Zugleich liegt hier die praktisch letzte Bastion, in der sich im Kino-Tagesgeschäft auch heute noch echte inhaltliche Trends beobachten lassen: die japanische Spukgeschichten-Welle vor einigen Jahren, die grobkörnigen Fake-Dokus. Die Remake-Schwemme, mit der indizierte Klassiker zurück auf die Leinwand geholt wurden. Und die berüchtigten torture-porn-Filme wie „Hos-tel“ und „Saw“, die uns einen Sommer lang glauben ließen, Fortschritt könne nur noch bedeuten, moralische Ansprüche weiter zu senken.

Paradoxerweise ist Horror aber auch die Abteilung, die – wie in „Der Exorzist“, „Die Nacht der lebenden Toten“, „Blair Witch Project“ – das beste Rezept für kommerzielle Überraschungserfolge zu kennen scheint. Eben meldete die Zeitschrift „Hollywood Reporter“, dass der bisher profitabelste Film des Kinojahres 2011 tatsächlich eine Geistergeschichte ist: „Insidious“ von James Wan, eben auch in Deutschland gestartet. Ein Film über ein Elternpaar in der amerikanischen Vorstadt, dessen Sohn nach dem Einzug ins neue Haus in ein rätselhaftes Koma fällt. Begleitet von erst beiläufigem, dann nervenzersägendem Poltergeist-Gerumpel, gruseligen Stimmen am Babyfon und blutigen Handabdrücken auf der Bettwäsche, stellt sich heraus, dass das Kind mit einem Dämon ringt. Eine Mischung aus home invasion movie, Siebter-Sinn-Mystery und den sehr elementaren Schrei- und-Lach-Effekten alter Spielberg-Filme. Und – abgesehen vom Bettlaken – fast ohne Blut.

Profitabel nennt man „Insidious“, weil das Verhältnis von Investition und Erlös so günstig ausfällt. Bei nur 1,5 Millionen Dollar Budget hatte der Film bis zuletzt 85 Millionen an den Kinokassen umgesetzt (der Start in einigen Ländern stand zu dem Zeitpunkt sogar noch bevor). Billig gemacht, gut getroffen. „Bei großen Produktionen sind die Formeln, nach denen gearbeitet wird, meistens sehr strikt und konventionell“, sagt „Insidious“-Regisseur James Wan im Interview mit dem ROLLING STONE. „Bei Horrorfilmen hat sich immer wieder gezeigt, dass sie mit kleinen Budgets viel besser werden. Je mehr Sex und Geld man reinsteckt, umso weniger Grusel bleibt übrig.“

Wan, 34, in Australien aufgewachsener Malaysier, weiß, warum ausgerechnet das Horrorgenre heute noch so lebendig erscheint. „Es wird von Mal zu Mal schwieriger, ein Publikum zu beeindrucken und auszutricksen, das schon so viel gesehen hat. Als Horrorregisseur muss man jederzeit den Ehrgeiz haben, einen Schritt voraus zu sein. Es geht um den neuen Reiz, den man braucht, um aus der Masse herauszustechen und etwas auszulösen.“

* die Kinogeschichte hat sich Wan so schon eingeschrieben, durch „Saw“, seinen Minibudget-Debütfilm von 2004. Den Start für die berüchtigte Reihe (Wan hat nur den ersten der sieben Teile gedreht) um den Dunkelmann Jigsaw, der mit einer komischen Mischung aus Humanpädagogik und Sadismus Rätselspiele im Folterkeller veranstaltet. „Saw“ ist laut „Guinness Buch der Rekorde“ mit 730 Millionen Dollar Umsatz das erfolgreichste Horror-Franchise aller Zeiten – da war der letzte Teil noch nicht einmal drin, der weitere 137 Millionen eingespielt hat.

Vor allem in Krisenzeiten wie heute sind das in Hollywood natürlich die begehrtesten Rezepte, vorgemacht von den kleinen bis mittelgroßen Indie-Produktionsfirmen: die billigen Superhits, bei denen teure Stars und Ausstattungen sogar gestört hätten. In der Liste der 20 Kinofilme mit den höchsten Einspielergebnissen aller Zeiten befindet sich zwar kein einziger Horror-Titel – unter den 20 Werken mit dem besten Kosten-Umsatzverhältnis stehen dagegen acht.

An „Insidious“, dem Erfolgsmodell von 2011, war neben Wan und seinem Drehbuchautor Leigh Whannell noch ein anderes Dream-Team des jüngeren Horrorfilms beteiligt: die Produzenten Jason Blum, Oren Peli und Steven Schneider, die schon 2009 für den Sensationserfolg „Paranormal Activity“ verantwortlich waren. Der war sogar ein ästhetischer Meilenstein, denn nahezu der ganze Film bestand aus Aufnahmen, die mit einer Art Überwachungskamera gemacht worden waren. Steven Spielbergs Firma DreamWorks wollte nach der Rechte-Akquise eigentlich alles neu drehen, verzichtete nach fulminanten Testvorführungen aber darauf. Auch hier vorbildliche Kennziffern: „Paranormal Activity“ kostete 15.000 Dollar. Und brachte fast 200 Millionen.

Die Synergie aus Wans Schock-Action-Kompetenz und dem „Paranormal“-Minimal-Gruselprinzip ist nun der nächste Schritt nach vorne. Denn während die blutigen „Saw“-Filme den „Ab 18“-Sticker trugen und somit auch in der Werbung ein großes potenzielles Publikum ausschlossen, läuft „Insidious“ in den USA mit dem PG-13-Label, also jugendfrei. Obwohl das in Amerika die wacklige These provozierte, große Teile der „Insidious“-Karten wären wohl von Minderjährigen gekauft worden, die sich anschließend im Multiplex in den nicht jugendfreien „Scream 4“ geschummelt hätten.

Einige Low-Budget-Horrorregisseure haben es später auch zu Ruhm in anderen Genres gebracht, Sam Raimi oder Peter Jackson. Preisbewussten Menschen gibt man gerne die großen Verantwortungen – auch John Carpenter schaffte mit „Starman“ oder „Big Trouble In Little China“ in den Achtzigern den Crossover, obwohl man bei ihm immer an „Halloween“ und den stoischen Killer Michael Myers denken wird. „Eigentlich habe ich nichts gegen den Ruf“, sagt er milde und mit Raucherräuspern am Telefon. „Immerhin verdanke ich ihm mein schönes Haus, und dass ich immer genug Geld für Bier und Zigaretten habe!“

Carpenter ist 63, kokettiert gerne mit dem Altmänner-Klischee, steckt aber noch mitten drin im Spiel. Nach „Ghosts Of Mars“ von 2001 hatte er sich eigentlich schon ausgeklinkt, fühlte sich gut als Privatier. Bis ihn 2005 sein Freund Mick Garris einlud, für die Pay-TV-Reihe „Masters Of Horror“ zwei Folgen zu drehen. Da leckte Carpenter wieder Blut, und jetzt erlebt er mit „The Ward“ auch sein Kino-Comeback. Natürlich ein Horrorfilm, mit vielen ganz jungen Schauspielerinnen und paradigmatischer Geschichte: Das Mädchen Kristen – gespielt von Amber Heard, der derzeitigen favourite scream queen des etwas hipperen Blutkinos – wird unter mysteriösen Umständen in eine Nervenklinik eingeliefert, deren Insassinnen und Personal sich noch mysteriöser benehmen. Offenbar ist hier nachts ein Mörder unterwegs, alle schweigen – und Kristen muss als bedrohte Detektivin nach dem schrecklichen Geheimnis forschen. Keine Sensation, mit Referenzen an Carpenters Vorbild Dario Argento und an die schönen Slasherfilme der 70er- und 80er-Jahre jedoch ein stimmungsstarker Altmeister-Grusel.

Carpenter selbst ist mit anderen Kalibern groß geworden. „Ich weiß noch, wie ich 1958 in einem Kino in Downtown Los Angeles, Die Fliege‘ von Kurt Neumann sah“, sagt er. „Als die Frau ihrem Mann das Tuch vom Kopf zieht und einen plötzlich dieser Fliegenkopf anstarrt, stand ich aufrecht auf dem Sitz! Da flog das Popcorn durch die Luft!“ Romeros „Die Nacht der lebenden Toten“ von 1968 war für ihn dann der Beginn der neuen Ära, „ein Film, der eine Energie entwickelte, wie man sie von teuren Produktionen nicht kannte. Er revolutionierte das Geschäft!, Nacht der lebenden Toten‘,, Texas Chainsaw Massacre‘,, Last House On The Left‘, das waren Guerilla-Filme. Die Regisseure positionierten sich bewusst außerhalb des Systems.“

„Halloween“ drehte Carpenter 1978 für rund 300.000 Dollar, für das Remake von Rob Zombie gab Dimension Films 2007 dann schon 15 Millionen aus. „Aber das waren damals auch völlig andere Zeiten!“, protestiert Carpenter gegen den Vergleich. „Heute ist doch alles vom Start weg viel teurer. Ich hatte seinerzeit Leute, die umsonst für mich arbeiteten. Einen echten Low-Budget-Film kann man heute doch gar nicht mehr machen.“ Viele Indie-Regisseure lachen nur bitter darüber, dass „Insidious“ mit 1,5 Millionen Kosten als Mikro-Budget-Investition gilt. Weil sie selbst mit dem Geld vier oder fünf gute Filme drehen könnten.

„The Ward“ ist auch ein eher kleines Ding, meint Carpenter: Die europäischen Verleihrechte habe man vorab verkaufen können, ein US-Investor kam erst später dazu. „Für einen alten Kerl wie mich ist es nicht mehr leicht, so viel Geld zusammenzubekommen“, sagt er mit rasselndem Lachen. Die Zukunft des Horrors? „Geistergeschichten, die sich auf kleinem Raum erzählen lassen, werden überall auf der Welt verstanden. Und sie kosten wenig.“

Erfinderische Meister wie Carpenter oder James Wan bleiben in Hollywood natürlich die Ausnahme. Derzeit ist zum Beispiel Chris Columbus, bekannt als „Harry Potter“-Effektzauberer, mit dem US-Remake des herrlichen norwegischen Underground-Hits „The Troll Hunter“ beschäftigt – wie viel wird am Ende davon übrig bleiben?

Was außer Konkurrenz im Billig- bis Halbteuer-Bereich läuft, kann man ab Mitte August wieder geballt beim Fantasy Filmfest sehen, dem 1987 ins Leben gerufenen Festival, das heute sieben deutsche Städte bespielt. Hier ist längst nicht alles reiner Horror, auch wenn zum Beispiel der von Guillermo Del Toro produzierte Eröffnungsfilm „Don’t Be Afraid Of The Dark“ von den schaurigen Kreaturen handelt, die im Keller einer alten Villa lauern und sich natürlich an die Kinder der Familie heranmachen. „I Am You“ von der Australierin Simone North dagegen ist im Kern ein Psychothriller über ein Außenseitermädchen, das am liebsten in den Körper der schönen Nachbarstochter schlüpfen will – erst da beginnen die schockierenden Vorfälle. Der israelische Beitrag „Rabies“ wiederum geht fast als schwarze Screwball-Komödie durch: Vier Tennisspieler, ein verzanktes Urlauberpaar, zwei Polizisten und ein rätselhafter Killer treffen zufällig in einem Waldstück aufeinander. Bald fließt Blut.

Und dann kommt natürlich demnächst noch „The Human Centipede 2“. Das Sequel, in dem – kein Witz! – dieses Mal nicht nur drei, sondern zwölf Personen aneinandergenäht werden sollen. Eine Steigerung, die das British Board Of Film Classification dazu inspirierte, dem Film keine Altersfreigabe zu erteilen – eine Nachricht, die noch vor Veröffentlichung irgendeines Trailers die Forumsdiskussion anfachte.

„In diesem Genre muss man laut schreien, um gehört zu werden“, sagt James Wan über das Horrorbusiness. Und das verstehen die kleinen Regisseure mit der perversen Fantasie tatsächlich besser als die Eventagentur Hollywood.

„Insidious“ läuft derzeit in den deutschen Kinos, „The Ward“ startet am 29.9. Das Fantasy Filmfest startet am 16.8. in Berlin, für weitere Termine in Hamburg, Köln oder Stuttgart siehe www.fantasyfilmfest.com.

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