Hat Musik wirklich eine interaktive Zukunft? CD-Rom-Guru Mike Canter glaubt unbeirrt an die multimedialen Mächte

Der Mann hat die Energie von 100 Versicherungsvertretern. Er redet ohne Unterlaß, bevorzugt über sich selbst. Wer erschöpft aufgibt, wird wie ein gebrauchtes Handtuch zurückgelassen. Der PR-Overkill des 39jährigen Amerikaners trug ihm in den USA immerhin den Rufeines „Neue Medien“-Gurus ein; sein Name wird immer häufiger in einem Atemzug mit Robert Moog oder Brian Eno genannt.

Seinen Erfolg führt er auf völlig konträre Talente zurück. Als Opernsänger ausgebildet, bereiste Mike Canter mit Gregorianischen Gesängen die Welt, interessierte sich aber gleichzeitig für elektronische Musik, Videos und Computer. Gemeinsam mit Freunden rief er die Software-Firma „MacroMind“ ins Leben und entwickelte das legendäre „Makro Media Director“-Programm, mit dem heute fast alle CD-ROMs erstellt werden. Auf dem Zenit des Erfolgs ließ er sich ausbezahlen und verdiente sich eine goldene Nase. Seither wandelt Canter auf den Pfaden des Visionärs.

Die US-Musikindustrie dient ihm regelmäßig multimediale Projekte an, doch gewöhnlich lehnt Canter ab. „Die Musikindustrie hat den interaktiven Aspekt der CD-ROM noch gar nicht richtig begriffen“, schnaubt er verärgert. „Sie schauen nur auf den schnellen Profit. Es ist wie in den Achtzigern: Als sich schlagartig ein Markt für Software zu entwickeln begann, nannte man das ja auch nicht das ‚Floppy-disk-Business‘. Warum sollte man also heute vom CD-ROM-Business reden? Rock’n‘ Roll entstand auch nicht mit der Intention, das große Geld zu machen.“ Zudem kommen die Angebote einfach zu spät. „In meiner Arbeit muß Interaktivität von Anfang an in das Projekt integriert sein. Mit einem existierenden Song geht das natürlich nicht. Ich möchte, während die Gruppe im Studio ist, etwas erarbeiten und ihre Message mit multimedialen Möglichkeiten erweitern.“ Da sich bislang diese Chance nicht bot, gründete Canter seine „Media Band“, die aus Programmierern, Musikern und Künstlern besteht. Ihre erste CD-ROM „Meet Media Band“ soll mögliche Multimedia-Entwicklungen visualisieren helfen.

Wer sich das Werk anschaut, ist allerdings zunächst einmal ziemlich ratlos. „Was völlig normal ist“, wie Canter generös zugesteht. „Im Englischen würden wir sagen, es ist ein bißchen ’nebulös‘. Wir sind so an eine genaue Sprache gewöhnt, daß wir verwirrt sind, wenn die Exaktheit fehlt. Dabei ist das von Vorteil.

Im Nebulösen liegt auch eine Chance: Songtexte werden mehrdeutig und lassen Neues entstehen. Es gibt diesen neuen Begriff ‚mediacate‘. Er ist dem englischen ‚educate‘ nachempfunden und bezieht sich auf das weltweite elektronische Netz. Diese ,mediacate‘-Asthetik ist für mich ohne das Mehrdeutige nicht denkbar.“

„Meet Media Band“ stellt nicht nur Canters Medienphilosophie vor, sondern beinhaltet auch ein interaktives Musikvideo, bei dem der Anwender den Fortgang des Songs selbst bestimmen kann. Für Canter eine Vorstufe zum interaktiven Fernsehen, dem er momentan seine ganze Aufmerksamkeit widmet, ‚Die CD-ROM ist nur ein Anfang. Einer der Meilensteine dieser Entwicklung wird eine Art Cyber-Club sein, den ich .Media Bar‘ nenne. Hier läuft alles, was angesagt ist. Warum das so wichtig ist? Weil man zuerst Orte haben muß, an denen sich ungestört experimentieren läßt. Wenn das nicht passiert, wird es auch mit interaktivem TV nicht weitergehen.“ Bis es soweit ist, zelebriert sich Canter weiterhin selbst und gibt auf seiner Webpage im Internet (http:// www.mediaband.com) fleißig Auskunft zur eigenen Person. Und plant die „Marc Canter Fernsehshow“.

Genie? Scharlatan? Keiner weiß es. Nennen wir es sicherheitshalber Avantgarde….

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