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Er recherchierte in kalifornischen Bordellen und asiatischen Opiumhöhlen, erfror fast in einer verlassenen Wetterstation am Nordpol, flog in Sarajewo mit einem Jeep in die Luft und durchquerte auf Güterwaggons die Vereinigten Staaten; zuletzt begab er sich in die Sperrzone von Fukushima. Der US-Autor William T. Vollmann erfährt Dinge gerne am eigenen Leib, bevor er sie niederschreibt, und schreckt auch vor extremen Maßnahmen nicht zurück. Er sei stolz darauf, „jedes erdenkliche Verbrechen begangen zu haben, das keine Opfer fordert“, hat er mal geschrieben.

Man könnte ihn als einen späten Vertreter des New Journalism bezeichnen, doch im Gegensatz zu berühmten Vorgängern wie Tom Wolfe, Truman Capote oder Hunter S. Thompson ist er ziemlich uneitel und nicht im eigentlichen Sinn egozentrisch. Es ist vielmehr die tiefe Sehnsucht, die Welt in all ihren Facetten verstehen zu wollen, die ihn antreibt. Folgerichtig macht er auch vor der größten Katastrophe des 20. Jahrhundert nicht Halt. So eindrücklich wie der 1959 in Los Angeles geborene Vollmann hat sich wohl noch kein Nachgeborener in die Zeit des Zweiten Weltkriegs hineingedacht und -gefühlt. Der daraus entstandene Text mit dem Titel „Europe Central“ wurde nach Erscheinen in den USA 2005 mit dem National Book Award ausgezeichnet. Die nun endlich vorliegende deutsche Übersetzung ist – da sind sich die Feuilletons mal einig – das literarische Ereignis des Jahres. „Europe Central“ ist ein bis ins letzte Detail ausgemaltes Schlachtengemälde, eine ungeheure Partitur des Grauens, ein riesiges Prosagedicht und eine obsessive historische Arbeit mit extensivem Fußnotenteil.

In 18 Geschichtspaarungen reist man zwischen den deutschen und sowjetischen Frontlinien hin und her, begegnet dem Realisten Stalin und dem mythentrunkenen Schlafwandler Hitler, dem russischen General Wlassow, der Leningrad nicht befreien konnte und in Gefangenschaft die Seiten wechselte, und dem deutschen Generalfeldmarschall Paulus, der die sechste Armee vor Stalingrad befehligte. Man lernt die sowjetische Kriegsheldin Soja und den Hygienefachmann Kurt Gerstein kennen, der die Konzentrationslager mit Zyklon B belieferte und zugleich verzweifelt versuchte, das neutrale Ausland über die Schrecken des Holocausts zu informieren. Vor allem aber erfährt man, wie Künster -allen voran Dmitri Schostakowitsch, aber auch Käthe Kollwitz und die russische Dichterin Anna Achmatova -sich mit den Unrechtsregimen zu arrangieren versuchten. Und über diesen Geschichten schwebt immer die Frage nach der moralischen Verantwortung des Einzelnen in Zeiten des Krieges.

Der bullige Mann mit dem vernarbten Gesicht wirkt erst mal gar nicht wie ein Intellektueller oder gar ein literarisches Genie, für das ihn ein erlesener Leserkreis seit seinem Debüt „You Bright And Risen Angels“ von 1987 hält. Er könnte auch ein Roadie sein, der vor einem Neil-Young-Konzert die Gitarren einstöpselt. Den Abend zuvor hat Vollmann in einer Berliner Absinth-Bar verbracht und sich dem wermuthaltigen Getränk der Marke „Mata Hari“ hingegeben (als sich der Rausch nicht einstellen wollte, griff er zum etwas stärkeren „Apokalypse“). Er ist Härteres gewohnt.

Es ist ein paar Jahre her, dass er das letzte Mal in Berlin war. Damals hat er sich zur Vorbereitung auf „Europe Central“ in der deutschen Hauptstadt aufgehalten. Er recherchiert immer vor Ort, dem Internet und der gesamten digitalen Kommunikation misstraut Vollmann. Er hat keine E-Mail-Adresse, kein Mobiltelefon und keine Kredikarte. Seine Reisen lässt er sich meist von Zeitschriften finanzieren, für die er Reportagen schreibt, die ihm dann als Grundlage für seine längeren Texte dienen. Er stöbert in Archiven und Bibliotheken, erlebt viel und stellt viele Fragen – egal ob es sich bei seinem Gegenüber um einen japanischen Tänzer, einen Talibankämpfer, eine Prostituierte oder einen unspektakulären Mitarbeiter des ROLLING STONE handelt. Auf jede Frage folgt mindestens eine Gegenfrage -oft ein einfaches „How about you?“, durch das er sich im Gesprächspartner spiegelt. Und da die Abschweifung bei Vollmann zum Programm gehört, spazieren wir an der langen Leine seiner Neugier von Thomas Bernhard (absolutes Lieblingsbuch: „Korrektur“) zu John Fahey („streitsüchtiger Trinker“,“Konzerte von großer Schönheit“ ), Heinrich Böll (Vollmann hat das Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von „Der Zug war pünktlich“ geschrieben, passt irgendwie), Ted Nugent (unterhält einen Privatzoo, in dem man gegen Geld mit Pfeil und Bogen jagen darf), Barack Obama und Ludwig Wittgenstein.

Letztgenannter war vermutlich ausschlaggebend für ein literarisches Werk, das in puncto Bandbreite, Rechercheaufwand, Originalität und nicht zuletzt Quantität seinesgleichen sucht. Als junger Literaturstudent in Berkley hatte Vollmann ein Seminar zur Philosophie von Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein besucht. „Das war faszinierend“, erinnert er sich, „die beiden waren komplette Gegensätze.“ Er sei zwar durchaus beeindruckt gewesen von Heideggers hermeneutischen Rittbergern, doch es seien Wittgensteins analytische Klarheit und vor allem seine Biografie gewesen, die ihn fasziniert hätten. Der junge Philosoph hatte 1912 die Universität von Cambridge verlassen, um sich freiwillig zum Dienst in der österreichischen Armee zu melden. Sein erstes Hauptwerk, den „Tractatus logico-philosophicus“, schrieb er teilweise an der Front.

Vollmann kannte diese Sehnsucht, aus dem akademischen Leben auszubrechen. Er hatte das Gefühl, der Welt da draußen etwas schuldig zu sein – vielleicht, weil er sich verantwortlich fühlte für den Tod seiner kleinen Schwester, die vor seinen Augen ertrank, als er neun war. Er brach sein Promotionsstipendium ab und ging nach Afghanistan, um an der Seite der Mudschahedin zu kämpfen. „Ich habe 1979 in der Zeitung vom Einmarsch der Russen gelesen, und das klang fürchterlich. Nach ein paar Wochen war das Thema wieder aus den Nachrichten verschwunden.“ In „Afghanistan Picture Story“ erzählt er von diesem Trip. „Wie ich die Welt rettete“ heißt der Reisebericht im Untertitel. „Das war tatsächlich meine Mission“, sagt er. „Ich wollte die Welt retten und bin gescheitert. Von diesem Scheitern handelt das Buch.“

Nach dieser Erfahrung begann Vollmann, an einem von Wittgenstein beeinflussten logischen Schema zu arbeiten, das zeigen sollte, wann der Einsatz von Gewalt in Konflikten gerechtfertigt ist. 20 Jahre lang studierte er die Geschichte und die Philosophie des Krieges, arbeitete als Reporter in Krisengebieten und kam nicht selten nur knapp mit dem Leben davon. Das ist alles nachzulesen auf den knapp 3500 Seiten der siebenbändigen Studie „Rising Up And Rising Down“, die schließlich 2003 erschien. „Ich denke, auch Politiker können aus diesen Büchern etwas lernen, wenn sie über eine gewisse Intelligenz und eine Fähigkeit zur Empathie verfügen“, sagt Vollmann, doch sein Tonfall lässt erahnen, dass er nicht wirklich daran glaubt. Von Barack Obama etwa, in den er einige Hoffnung gesetzt hatte, ist er maßlos enttäuscht. „Er hat sich anfangs als Linker gegeben, doch seine Politik ist eher rechts von der Mitte. Ganz zu schweigen von Guantanamo, wo er immer noch Unschuldige ohne Prozess festhält, oder den repressiven Maßnahmen, die er gegen Leute veranlasst, die versuchen, etwas über den Staat, in dem wir leben, zu erfahren.“

Vollmann spricht hier aus eigener Erfahrung, er wurde schon als Staatsfeind gehandelt, vom FBI beschattet und gar verdächtigt, Briefbombenund Anthrax-Attentate begangen zu haben. Er selbst bezeichnet sich als Demokraten, befürwortet aber die Todesstrafe und das Recht – oder wie er sagt: „die Freiheit“ -, Waffen zu tragen. Es sei nun mal ein gutes Gefühl, zu wissen, dass er sich selbst verteidigen könne, sagt Vollmann. Wenn man es sich wie er zur Aufgabe gemacht hat, dorthin zu gehen, wo’s wehtut, ist da sicher was dran. Nicht nur in den Kriegsgebieten, sondern auch im Tenderloin District von San Francisco, wo er in den späten Achtzigern zwischen Nazis, Junkies, Zuhältern und Huren lebte, dürfte ihm die Schusswaffe am Körper Sicherheit gegeben haben. Er war damals auf der Suche nach den Geschichten gewesen, die hinter den Bildern des Fotografen Ken Miller steckten, der die Bewohner des Problemviertels porträtiert hatte. So entstand die Sammlung „The Rainbow Stories“, und auch Vollmanns Faszination für Prostituierte hat hier wohl ihren Ursprung. Er rauchte Crack mit ihnen und interviewte sie, während er sich – um kein Misstrauen zu erwecken – einen runterholte. Ihre Geschichten schrieb er für den Roman „Whores For Gloria“ (dt. „Huren für Gloria“) auf, den Dennis Hopper später verfilmen wollte. Das war der erste Band seiner „Prostitution Trilogy“.

Für den zweiten Teil, den Roman „Butterfly Stories“, recherchierte Vollmann mit Ken Miller in südostasiatischen Bordells; in Thailand kaufte er einem Zuhälter ein zehnjähriges Mädchen ab. Für den Abschluss der Trilogie, die 800-seitige postmoderne Kriminalgeschichte „The Royal Family“ von 2000, kehrte er zu den Huren von San Francisco zurück. „Sie haben meine Einsamkeit geheilt, mich mit Krankheiten und Verzweiflung infiziert“, entgegnete er einmal Kritikern, denen seine Fixierung auf die Nerven ging. „Ja, Prostitution unterscheidet sich von der Ehe in zwei Punkten: Sie ist kürzer (wahrscheinlich), und sie ist ehrlicher.“

Als er in den Achtzigern im Tenderloin District auf riesigen Parkplätzen rumhing, um die Prostituierten und ihre Freier zu beobachten, fragte er sich eines Tages, wie dieses Land wohl vor der Kolonisierung ausgesehen haben mochte, und begann gleich mit der Recherche. Das war der Beginn des Romanzyklus „Seven Dreams: A Book of North American Landscapes“, der Vollmann die ganzen Neunziger über beschäftigte und noch nicht abgeschlossen ist. Vier Bände sind bereits erschienen, in denen er ausufernd u. a. von Wikingern, jesuitischen Missionaren, Pocahontas und John Franklin erzählt.

Die Bandbreite und der schiere Umfang seiner Werke kann einen als Leser ganz schön abschrecken, und schon so mancher Lektor hat mit Engelszungen auf den Autor eingeredet, sein eingereichtes Manuskript doch um 400 oder wenigstens 200 Seiten zu kürzen. Man kann ihnen das nicht verdenken, denn die Lektüre kann stellenweise beschwerlich sein, manchmal muss man sich durch ein Geröll aus Fakten, Eindrücken und Assoziationen quälen, um zum nächsten Hochplateau Vollmann’scher Prosapoesie zu gelangen. Aber in seinem Fall muss man sagen: Size matters. Die Form verweist auf den gewichtigen Inhalt, denn hier geht es immer – egal ob Roman, Essay oder Reportage – um die ganz großen Themen: Schuld und Moral, Erlösung und Freiheit, Wahrheit und Schönheit. Das braucht Platz, und dafür muss man sich Zeit nehmen. Und ich rede nicht von den Stunden, die man sich gönnt, um die komplette Staffel einer amerikanischen Fernsehserie anzuschauen. Für Vollmanns Bücher braucht man keine „Mad Men“- oder „Breaking Bad“-Zeit, sondern Tolstoi-Zeit. Hier geht es nicht um Zerstreuung, sondern so ziemlich um das Gegenteil: Der Leser wird ständig mit sich selbst konfrontiert und ist immer wieder aufgefordert, moralische Entscheidungen zu treffen, wenn Vollmann ihn an dem komplexen Innenleben seiner Protagonisten teilhaben lässt. Selbst bei Hitler und Stalin in „Europe Central“ wird nicht in Schwarz und Weiß gemalt. „Ich bin kein Historiker und hätte daher keine wissenschaftliche Abhandlung über diese Zeit schreiben können. Das Einzige, was ich diesem Thema noch hinzufügen konnte, war, mir vorzustellen, was in den Köpfen dieser Menschen vorging. Wenn ich mich darauf beschränkt hätte zu sagen: Hitler war ein Monster, wäre damit nicht viel gewonnen gewesen.“

Ohne die Erfahrungen und Recherchen, die er seit seinem ersten Afghanistan-Trip gemacht hat, hätte er sich nicht in die Welt von „Europe Central“ einfühlen können, sagt er. Tatsächlich scheint die Reise eines Lebens in diesem Roman zu stecken – die Landschaften und die Kriege, die Kunst und die Perversionen, die Moral und das Mitgefühl.

Robin Detjes großartige deutsche Übersetzung von William T. Vollmanns „Europe Central“ ist im Suhrkamp Verlag erschienen und kostet 39,95 Euro.

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