In der Hölle der Unschuld

Wie Stefan Raab das Fernsehen infantilisiert und für glückliche Momente sorgt

In den guten alten Zeiten galt es als gesicherte Erkenntnis, dass ein so genannter Künstler sein so genanntes Produkt am ertragreichsten auf dem Vergnügungsdampfer „Wetten, dass…?“ vermarkten konnte. Zwar nutzte ein Teil der Zuschauer die Musikbeiträge, um mal pinkeln zu gehen, doch der eiserne Rest musste immer wieder Peter Maffay, Joe Cocker, Rod Stewart, Westernhagen, Elton John, Lenny Kravitz, Leslie Mandoki und Montserrat Caballe hören. Beliebt war auch die salbungsvolle Waschzettel-Prosa, die Jürgen von der Lippe in „Geld oder Liebe“ den Auftritten von Nebelkrähen wie den Corrs oder Joshua Kadison vorausschickte. Lippe muss heute wieder tingeln, und die Zugkraft von Gottschalks maroder Schwatzbude hat im selben Verhältnis nachgelassen, wie das Publikum samt Zeremonienmeister dem Retiro entgegendämmert.

Es verkauft nur noch Stefan Raab. Sein „TV total“, ein Fegefeuer für Fernsehkritiker und das beste Beispiel für das von Harald Schmidt entdeckte „Unterschichtenfernsehen“, vertickt ordentlich CDs, Bücher und Filme. Kylie Minogue kommt stets gern wieder und lässt sich bereitwillig von Raab veralbern, ja schreckt nicht einmal vor dem bestürzenden Klamauk auf den klobigen Ledersesseln zurück, wo Raab in üblem Schulenglisch (und niemand sagt ihm, dass „love“ nicht „lov“ ausgesprochen wird) unverständliches Zeug brabbelt. Elton John latschte in einem häuslichen Jogging-Anzug durch die Kulissen und soll sich sauwohl gefühlt haben. Nicht einmal die Anwesenheit der „Elton“ genannten Geißel Gottes, die von Raab irgendwann als „Show-Praktikant“ eingestellt wurde, konnte den Mann, der ja selbst nicht Elton heißt, irritieren. Es war vermutlich wie einer jener Kokain-Räusche, die den Musiker früher mehrere Tage hintereinander wach hielten.

Michael Stipe machte nirgendwo einen fröhlicheren Eindruck als auf dem verschiebbaren Podest, das Raab auf Knopfdruck von rechts nach links zuckeln lässt. Der sonst verkrampfte Lyriker winkte enthemmt und sang anschließend eine Verballhornung des Horrorschlager „Dragostea Din Tei“ mit, den der MDR für die Verleihung des „Goldenen Huhns“ umgedichtet hatte. „Goldene hi, goldene hu…“ Fassungslos sah Stipe eine Auswahl des zusammengeschnittenen Bildermülls von greinenden Ossis, kotzenden Omas, ekelhaften Bierdimpfeln sowie obszöner Nackt- und Blödheit, eine Parade des Widerlichen, die den Sensibilisten daran erinnerte, in welchem Land er sich befand, um die neue R.E.M.-Platte zu bewerben. Singen musste er gar nicht, die Kollegen waren nicht gekommen. Doch auch Michael Stipe krümmte sich nicht unter den besoffenen Fragen des Gastgebers. Komödianten wie Will Smith oder Ben Stiller entlockten dem zähen Gaga von „TV Total“ sogar Momente eines geradezu entrückten Slapstick.

Es ist das hemmungslos Infantile an Stefan Raab, das schamlose Dilettieren, das ihn dem geistesschlichten Publikum wie den zynischen Entertainment-Profis so sympathisch macht. Besser noch als „TV total“ zeigen sinnfreie Sonderveranstaltungen wie die Wok-WM, das Springreiten und schließlich das Turmspringen, wie beiläufig vier, fünf Stunden Sendezeit mit den immer gleichen Pappkameraden verschwendet werden können, während man noch einmal über mediale Gurken wie den „Bachelor“ oder den lispelnden Schlagerschreiber Lukas Hitbert staunen kann. Aber nicht bloß die Würdelosigkeit des Treibens fasziniert — manchmal sind es auch die plötzlichen Epiphanien des Gelingens, wenn jemand seinen Wok ans Ziel steuert oder einen Salto vom Brett perfekt ausführt, die an ganz kindliche Erfolgserlebnisse erinnern.

Natürlich macht sich Raab über Menschen lustig — und sei es nur über deren Namen, obwohl man über die doch nicht spotten soll. Aber wie beim Kindergeburtstag herrscht bei „TV total“ eine Atmosphäre des aggressiven Übermuts, der entgrenzten Heiterkeit — jeder Versprecher, jedes Haspeln und Stottern reicht für Lachanfälle. Hölle der Unschuld! Mit dem „Bundesvision Song Contest“ wird Raab nun auch die alte Domäne der ARD übernehmen, nachdem er sie mit Guildo Horn und anderen Pfeifen unterwandert hatte. Bald wird Elton John auch dort herumschlurfen.

Dumm sein und Arbeit haben, das ist das Glück.

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