Jethro Tull im Interview: „Es ist eine dunkle Energie“
Ian Anderson sprach mit ROLLING STONE über das neue Jethro-Tull-Album „Curious Ruminant“.
„Wir nehmen keine Drogen, feiern keine wilden Partys – wir sind alle eher zurückhaltend“
Wie gehen Sie als Bandleader damit um, wenn für ein Projekt neue Musiker dazukommen?
In der Regel ist das ziemlich unkompliziert, denn alle kennen die Kultur der Band – und nicht nur die der Band, sondern auch die der Crew. Wir neigen nicht dazu, typische Rockmusiker zu sein. Wir nehmen keine Drogen, feiern keine wilden Partys – wir sind alle eher zurückhaltend. Selbst wenn jemand neu dazukommt und 20 oder 30 Jahre jünger ist, stellt das kein Problem dar. Die Kultur ist einfach offensichtlich. Es ist nicht so, dass man erst Fehler machen müsste, um zu verstehen, wie es läuft. Sobald man zum ersten Mal zu einer Tagesprobe erscheint, weiß man, worauf man sich einlässt. Man versteht schnell, was geht – und was eben nicht geht. Deshalb ist das meist sehr einfach. Ich sehe da kein Problem.
Wie gestaltet sich für Sie der Alltag auf Tour?
Die Kultur innerhalb der Band ist so, dass wir – wenn wir am Abend vor einem Konzert am jeweiligen Ort ankommen – am nächsten Morgen etwas Freizeit haben. Nicht für die Crew, die steht um neun Uhr auf und geht direkt zur Venue, um mit dem Aufbau zu beginnen. Aber für uns fünf Bandmitglieder gibt es ein wenig Flexibilität.
Ich höre manchmal aus der Ferne, wie sich einige der Jungs fragen: „Was machen wir heute? Treffen wir uns um 10:30 in der Lobby?“ – aber ich gehe dann lieber allein los. Ich bin ein Einzelgänger, wissen Sie. Ich laufe durch die Stadt, schaue mir Dinge an. Und manchmal, eine Stunde später, stehe ich in einer Kathedrale oder einem Museum, und aus dem Augenwinkel sehe ich ein vertrautes Gesicht – einer aus der Band ist zufällig auch dort. Und dann kommt noch einer… und noch einer… und noch einer.

Die anderen Jungs von Jethro Tull hängen oft zusammen ab – was mich amüsiert. Wenn ich sie nicht in der nächstgelegenen Kirche oder Kathedrale sehe, dann sehe ich sie bei Starbucks. Und wenn das Wetter schön ist, sitzen sie draußen in der Sonne, trinken Kaffee und schauen hübschen Mädchen in kurzen Kleidern hinterher. Es herrscht eine sehr ruhige, disziplinierte, angenehme Stimmung bei Jethro Tull. Es ist schön, sie dort zu treffen, aber es ist eben Zufall, weil wir alle ähnliche Orte mögen. Kunstmuseen zum Beispiel. Obwohl sie manchmal zögern, Eintritt zu zahlen – ich habe schon oft gesehen, wie sie vor einer Galerie stehen, auf das Eintrittsschild schauen – „17 Euro 50“ – und dann zögern, ob sie wirklich reingehen sollen.
Macht Ihnen das Touren heutzutage noch Spaß?
Ja – solange es nur ein paar Tage sind. Ich mag es wirklich nicht, länger als drei oder vier Tage von zu Hause weg zu sein. Ich kann ein oder zwei Shows machen, manchmal drei oder vier, aber ich möchte definitiv nicht länger als eine Woche unterwegs sein. Das kommt nur selten vor. Letztes Jahr habe ich drei US-Touren gemacht – jede davon dauerte etwa zehn oder zwölf Tage. Das war schon ziemlich lang, und wir haben gar nicht mal so viele Shows gespielt.
Wenn man einmal dort ist und eine Route zusammenstellt, um die großen Städte dieses riesigen Landes abzudecken, dann braucht man vom Abflug bis zur Rückkehr mindestens acht oder neun Tage – nur für vier oder fünf Konzerte. Am Ende sind es wahrscheinlich zwölf, dreizehn Tage, weil es eben auch Reisetage gibt – einfach, weil die Entfernungen zu groß sind, um rechtzeitig zum nächsten Ort zu kommen.

Und Amerika ist hart – man muss bereit sein, sehr viel Zeit zu investieren. Ich will nicht mehr so lange weg sein. Aktuell habe ich mit Jethro Tull keine Pläne, in den USA oder Kanada zu touren. Ich war letztes Jahr auch in Brasilien – vier Shows. Aber wissen Sie, ich lebe mit meiner Frau, zwei Katzen und einem Hund, und ich bin in der Nähe meiner Tochter, meines Sohnes und ihrer Familien. Ich mag es sehr, daheim zu sein – nicht, dass ich sie jeden Tag sehen müsste, aber zwei- oder dreimal die Woche sehe ich meine Kinder und Enkel. Ich schätze die Zeit zu Hause wirklich, weil ich so viele Jahre unterwegs war.
Es geht mir nicht nur um die Routine – ich liebe einfach den Ort. Ich wohne da seit 30 Jahren. Ich wache morgens auf und sehe nichts als grüne Felder, Bäume, singende Vögel und Schafe auf den Wiesen. Die meisten Menschen würden vermutlich gern mit so einem Ausblick aufwachen.
Wenn man sich Ihre Aktivitäten ab dem Jahr 1968 ansieht: ein Album nach dem anderen, lange Touren… Haben Sie diesen Rhythmus genossen, oder wurde es irgendwann zu viel?
1972 hatte ich einfach komplett genug davon. Ich sagte damals zu unserem Manager Terry Ellis: „Das war’s. Ich bin fertig. Ehrlich, ich kann das nicht mehr machen. Bitte buch keine weiteren Tourneen für Jethro Tull in dieser Art. Echt jetzt, ich will nicht mehr ständig unterwegs sein und jeden Tag reisen.“ Ich wollte nur noch ein paar vereinzelte Konzerte spielen – das war’s. Ich konnte einfach nicht mehr. Ich wollte nie wieder in ein Flugzeug steigen.
Aber, wissen Sie, nach zwei oder drei Monaten – oder wie lange auch immer es war – dachte ich dann: „Na gut, machen wir noch eine.“ Und so ging es weiter – vermutlich bis Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre. Ich war mehr Nächte unterwegs als zu Hause, Jahr für Jahr, immer wieder. Das ging im Grunde so weiter bis kurz vor der Corona-Zeit. Ich war wohl an rund 50 Prozent des Jahres nicht zu Hause – 180 Nächte pro Jahr unterwegs. Ich habe quasi dauernd bei Mr. Hilton geschlafen – oder bei Mr. Premier Inn.
Wie sieht das heute aus?
Heute mache ich so etwas natürlich nicht mehr. 2020 war gar nichts – alles wurde verschoben. Wir mussten sämtliche Konzerte auf 2021 verlegen, und dann wurde die Hälfte davon noch einmal verschoben. Ich glaube, Finnland – bis wir dort endlich gespielt haben – war bereits der dritte oder vierte Versuch wegen Covid.
Das war eine schwierige Zeit für alle: Niemand hat Geld verdient, viele Menschen sind gestorben, und wir wussten nicht, wie es weitergeht – ob es immer schlimmer wird oder ob sich eine natürliche Immunität entwickelt. Wird es einen Impfstoff geben?
Ab August 2021 haben wir wieder angefangen zu spielen. Aber ich habe für mich entschieden: Sobald wir mit Jethro Tull die verschobenen Shows aus dem Jahr 2020 hinter uns gebracht haben, werde ich einfach weniger machen. Und so ist es jetzt. Tatsächlich werde ich im Jahr 2025 voraussichtlich weniger Konzerte spielen als in jedem Jahr seit 1985.
Das fühlt sich gut an – aber auch irgendwie seltsam. Im Moment sind etwa 40 Shows geplant – im Vergleich zu rund 65 im letzten Jahr. In den Jahren davor waren es oft mindestens 100 Konzerte pro Jahr. Mit den Reisetagen dazwischen kommt man da schnell auf 150 Tage unterwegs.
Vielleicht nicht ganz so extrem wie in den 70ern, aber immer noch sehr viel Zeit, die man nicht zu Hause verbringt. Und ich bin damit nicht allein – viele Menschen können diese ständige Reisetätigkeit einfach nicht mehr leisten. Ich glaube, wir bei Jethro Tull mögen es alle, mal für ein paar Tage wegzufahren – solange wir wissen, dass wir nach drei oder vier Tagen wieder daheim sind. Das ist dann ein kleines Abenteuer. Aber große Abenteuer – das ist nichts mehr für mich. Bitte fragen Sie mich nicht, ob ich nach Mali reisen möchte, selbst wenn das Geld gut ist.
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