Jethro Tull im Interview: „Es ist eine dunkle Energie“

Ian Anderson sprach mit ROLLING STONE über das neue Jethro-Tull-Album „Curious Ruminant“.

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Ian Anderson, Mastermind, Sänger und Flötist der britischen Band Jethro Tull, geht auf die 80 zu – das veranlasst ihn, kreative Ideen auch wirklich so schnell wie möglich umzusetzen. „Ich werde irgendwann nicht mehr in der Lage sein, das zu tun. Also werde ich getrieben von dem Gefühl, es auch gleich zu machen“, erzählt er in unserem Interview. Gerade hat die Band ihr neues, 24. Album „Curious Ruminant“ veröffentlicht. Drei Alben in gerade mal vier Jahren – geht es nach Anderson, könnte das auch so weitergehen.

ROLLING STONE: Ian, Jethro Tulls Veröffentlichungsrhythmus erinnert derzeit stark an die Hochphase der Band in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren – fast jährlich erscheint ein neues Album. Woher kommt dieser kreative Schub?

Ian Anderson: Wissen Sie, ich bin 77 Jahre alt. Wenn ich mich inspiriert fühle, dann sollte ich das gleich umsetzen. Denn diese Gelegenheit wird vielleicht nicht ewig bestehen – körperlich wie geistig. Ich werde irgendwann nicht mehr in der Lage sein, das zu tun. Also werde ich getrieben von dem Gefühl, es auch gleich zu machen. Das heißt nicht, dass ich morgen früh aufwache und gleich ein neues Album beginne. Aber es gibt die reelle Chance, dass ich in den nächsten Monaten aufwachen werde und denke: „Weißt du was, ich habe eine Idee für etwas, das als Album Sinn ergibt.“

Aber ich plane das nicht. Ich muss auf den Moment warten, in dem es plötzlich möglich wird – ein Moment der Inspiration und der Energie. Das ist eine eher dunkle Energie. Ich weiß nicht, woher sie kommt. Sie ist eine mysteriöse Kraft der Kreativität. Sie lässt sich nicht wie ein Lichtschalter an- und ausschalten. Aber mit dem Alter lernt man, ein besseres Umfeld für Kreativität zu schaffen. Und für mich bedeutet das: Ruhe. Einsamkeit. Ich finde es schwierig, kreativ zu denken, wenn ich von vielen Menschen umgeben bin – Familie, Freunde, Musiker, die Band. Ich brauche wirklich Räume der Einsamkeit.

Haben Sie für sich einen solchen Ort der Ruhe gefunden?

Nächsten Montag fahre ich mit dem Zug an einen Ort, der im Sommer ein beliebtes Urlaubsziel für Familien ist. Aber im Winter ist es dort leer. Niemand fährt dann dorthin – außer mir. Ich gehe dann die Promenade entlang, wo nur ein paar Leute unterwegs sind, die ihre Hunde ausführen. Es gibt ein paar gute Fotomotive – ich fotografiere gern solche Orte – und ich genieße diese Einsamkeit. Ich genieße dieses Gefühl von Raum, auch wenn es regnet, der Wind weht und das Meer tobt.

Ich denke, das ist ein wichtiger Teil meiner Kreativität. Das ist die richtige Stimmung. Und wenn ich dann ein oder zwei oder drei Ideen habe, dann bin ich bereit, sie als ein Albumprojekt weiterzuentwickeln. Das könnte nächste Woche passieren, nächsten Monat, nächstes Jahr. Wenn es passiert – dann zeige ich es der Plattenfirma – und dann sagt man: „Wow, das ist jetzt das vierte Album in vier Jahren.“ Denn irgendwann ist auch Schluss. So ist das manchmal.

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Nach dem letzten Jethro-Tull-Album „RökFlöte“ ging es auf Tour – hatten Sie seitdem mal Zeit, eine Pause zu machen?

Wir haben bis Dezember 2024 Konzerte gespielt. Nächsten Monat sind wir in Italien, aber richtig los geht es wieder im April. Im März proben wir zwei Tage mit Band und Crew und lernen ein paar Songs vom neuen Album wieder neu, denn wir haben sie inzwischen vergessen. Dazu kommen noch andere Songs, die wir lange nicht gespielt haben.

Technische Video-Proben, Musikproben – wir alle machen unsere Hausaufgaben. Wenn wir zur Probe kommen, sollten wir die Noten auch wirklich kennen. Aber das ist erstmal nur das Spielen der Noten. Wir müssen auch performen. Auch das braucht ein paar Durchläufe. Ich denke gern in Begriffen der Performance – auch für die Band.

Ich sage dann z. B.: „Tritt bei diesem Teil vor, hier hast du was zu spielen“ oder „Lass uns diesen Part gemeinsam spielen, mit Blickkontakt.“ Das sind Dinge, die man in der Probe ausarbeitet. Aber wenn dann das erste Konzert kommt, haben alle wieder vergessen, was wir geübt haben. Es ist wichtig zu wissen, wie man die Musik als Performance präsentiert – nicht nur, wie man die Noten spielt.

Hatten Sie beim neuen Album noch Material aus früheren Sessions in der Schublade liegen? Ich habe gehört, dass Sie einige ältere Demos verwendet haben.

Ja, die waren von 2007. Es waren keine fertigen Songs oder Texte, aber ein paar Fragmente. Ich hatte ein Stück mit unserem früheren Keyboarder Andrew Giddings aufgenommen, ein langes Stück, das ich für ein Duett mit einem indischen klassischen Flötisten geschrieben hatte. Ich spielte beide Parts selbst. Andy wollte es nicht machen, hatte Ausreden.

Also lag das einfach herum. Wir hatten das auf Mehrspurband aufgenommen, ich hatte Andys Gitarrenparts. Ich habe es wieder hervorgeholt, neue Flöten aufgenommen, David Goodier spielte Bass, mein Sohn James Anderson Schlagzeug und Cajón. Ich schrieb neue Texte für diese Version, und das Stück ist wahrscheinlich der längste Tull-Song seit Langem – etwa 19 Minuten.

Jethro Tull 2025

Es ist auch ein generationsübergreifendes Projekt geworden – mit früheren Mitgliedern, aktuellen und einem neuen.

Jack Clark spielte Bass mit uns, als David Goodier sich einer Operation unterziehen musste. Später sprang er auch für John O’Hara am Keyboard ein, der mit seiner Familie unterwegs war. Jack war Teil von Joe Parrish-James’ Band. Joe war 2022 und 2023 unser Gitarrist, aber das Reisen setzte ihm zu. Er sagte mir, er halte das nicht mehr aus.

Also mussten wir jemand Neues finden. Jack war zweiter Gitarrist bei Joe, also probierten wir ihn aus. Er hatte ja schon Bass gespielt und die Keyboardparts auf Gitarre übernommen. Er war wirklich gut. Auf dem neuen Album von Jethro Tull spielte er mehrere Parts ein. Das ist jetzt das dritte Tull-Album in Folge mit einem neuen Gitarristen. Ich hoffe, dass wir nicht bald einen vierten brauchen…

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Ian Anderson