Jethro Tull im Interview: „Es ist eine dunkle Energie“
Ian Anderson sprach mit ROLLING STONE über das neue Jethro-Tull-Album „Curious Ruminant“.
In Ihrem Albumtitel „Curious Ruminant“ steckt ein interessantes Wortspiel – „Wiederkäuen“ wie bei Tieren, aber auch im übertragenen Sinne als nachdenkliches Grübeln. Was bedeutet der Titel für Sie?
Nun ja – es ist ganz einfach: Ich bin ein neugieriger Mensch. Ich habe zum Beispiel gestern Abend Zeit in Berlin verbracht – in der Ausstellung Topographie des Terrors. Einfach, weil ich viele der Geschichten, Fotos und historischen Hintergründe dieser langen Phase – vom Aufstieg des NS-Regimes bis zu den Nachkriegsjahren und den Prozessen – noch einmal im Detail erleben wollte.
Ich kenne das alles relativ gut, habe viel gelesen, viele Dokumentationen gesehen – aber es ist eben etwas anderes, vor Ort in Berlin zu stehen und das alles direkt zu sehen. Dann im Dunkeln entlang der Berliner Mauer zurückzugehen – das hat eine bestimmte Wirkung. Es befriedigt meine Neugier. Und genau darum geht es: Neugier.
Ich glaube, seit ich 14 oder 15 war, interessiere ich mich für Weltreligionen, für Geschichte, für die Entwicklung von Gesellschaften und Kulturen. Und je älter ich wurde, desto neugieriger wurde ich – weil ich mehr Zeit hatte, zu lesen, Dinge anzuschauen, Orte zu besuchen. Ich bin neugierig zu lernen – nicht, um anderen etwas beizubringen, aber manches davon fließt dann doch in meine Musik ein. Manchmal geht es mir einfach ums Verstehen – ohne dass ich darüber schreiben müsste.
Es ist für mich erfüllend, ein Bedürfnis nach Erkenntnis. Ein paar Erlebnisse bleiben da besonders hängen: ein Besuch in Auschwitz. Oder in Tschernobyl – hinter die Kulissen zu blicken, zum Beispiel in den Pumpenraum von Reaktor 3, der nur zwei Meter Beton vom geschmolzenen Reaktorkern entfernt ist. Eingekapselt in einer Schutzkuppel, mit dem Knistern des Dosimeters im Ohr, das die Strahlung misst – das hat eine besondere Faszination. Das ist Geschichte, die etwas lehrt. Auch wegen der unglaublichen Tapferkeit der Menschen, die mit den Folgen umgehen mussten.
Ich bin auch mit dem Zug gefahren, den die Arbeiter nutzen – von dem eigens für sie errichteten Ort zur täglichen Arbeit in der Dekontaminierung der Umgebung. Die Katastrophe liegt lange zurück – aber die Aufräumarbeiten werden wohl noch hundert Jahre dauern. Solche Erfahrungen lehren viel – über das Leben, über menschliche Fehler, über Arroganz. Nicht nur die der Ingenieure oder Wissenschaftler, sondern auch die politischen. Michail Gorbatschow etwa hat zu spät reagiert.
Vielleicht wollte er die Wahrheit nicht hören. Das ist ein dunkler Fleck auf seinem Vermächtnis. Er hätte hingehen müssen – genauso wie Putin beim Untergang des U-Boots Kursk hätte vor Ort sein müssen, als er Präsident war – und es nicht tat. Solche Entscheidungen sagen viel über den Charakter eines Menschen aus, besonders in kritischen Momenten.
Führen Sie bei Jethro Tull eigentlich ein Tourtagebuch oder notieren Sie Ihre Eindrücke regelmäßig, um all die Erlebnisse festzuhalten?
Was ich mache – und das geht wohl zurück bis in die Mitte der 1990er, richtig praktisch aber seit etwa dem Jahr 2000 – ist, dass ich alle Tourpläne in gedruckter Form aufbewahre. Schon seit den 70ern habe ich die sogenannten Tour-Itinerare gesammelt, sodass ich nachsehen kann, wo ich an welchem Tag war, wo ich gespielt habe, wie viele Leute im Publikum waren – all diese Informationen. Das fand ich immer interessant. Nach und nach wurde das dann durch digitale Versionen ersetzt.

Heutzutage wird bei Jethro Tull alles elektronisch archiviert – Tourpläne, Jahresübersichten, Verträge mit Veranstaltern. Alles ist als Datei gespeichert, gesichert, mehrfach gesichert. Meine Familie wird nach meinem Tod Zugriff auf alles haben, was auf meinen Computern liegt. Es ist nicht nur lokal gespeichert, sondern auch in zwei verschiedenen Cloud-Systemen.
Das Material ist also vorhanden. Aber es ist kein Tagebuch im klassischen Sinne – keine persönlichen Gedanken oder Eindrücke. So etwas schreibe ich nicht auf. Ich habe mich immer recht gut auf mein Gedächtnis verlassen, wenn es um das geht, was gerade passiert. Wenn mich etwas gedanklich zurück in eine bestimmte Zeit oder an einen bestimmten Ort versetzt, erinnere ich mich oft an viele Details – an Dinge, die andere vielleicht in ein Tagebuch schreiben würden.
Und ich denke, selbst mit zunehmendem Alter bleibt das Langzeitgedächtnis erhalten. Ich habe einen alten Weggefährten, der leider in einem recht weit fortgeschrittenen Stadium der Demenz ist. Aber er erinnert sich an viele Dinge – an Orte, an denen wir waren, an Erlebnisse, die wir hatten.
Er weiß das alles noch. Nur an das, was vor zwei Minuten war, erinnert er sich nicht mehr. Er hat mich vor zwei Wochen angerufen – ich war gerade im Zug – und sagte: „Ich wollte nur mal Hallo sagen.“ Ich sagte: „Ich bin gleich an meinem Umsteigebahnhof, kann ich dich in zehn Minuten zurückrufen?“ – „Ja, klar, kein Problem.“ Zehn Minuten später rufe ich zurück – und er sagt: „Oh, hallo, schön, dich zu hören!“ Ich sage: „Ich rufe zurück, weil du mich eben angerufen hast.“ Und er sagt: „Hab ich?“ Aber wenn man mit ihm über Dinge von vor 20 oder 30 Jahren spricht – daran erinnert er sich ganz genau.