„Juror #2“: Clint Eastwoods letztes Meisterwerk

Hat es je einen 95-Jährigen gegeben, der einen besseren Film gedreht hat? Clint Eastwoods „Juror #2“ stellt den Zuschauer vor eine schreckliche Gewissensfrage

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Clint Eastwoods Kollege Christopher Nolan war empört über den Umgang von Warner Bros. mit seinem Film „Tenet“ von 2020. Sein vernichtender Satz ist in die Geschichtsbücher eingegangen: „Einige der größten Filmemacher und wichtigsten Filmstars gingen am Abend mit dem Gedanken zu Bett, für das größte Filmstudio zu arbeiten, und wachten auf, um festzustellen, dass sie für den schlechtesten Streaming-Dienst arbeiten.“

Was war passiert? Warner entschied ohne Ankündigung, „Tenet“ und andere Filme kurz nach Kinostart auf dem VoD-Kanal HBO Max auszustrahlen.

„Juror #2“ – Opfer des Systems

Dieses Schicksal ereilte auch „Juror #2“, der eine Woche in US-Kinos lief, keine Oscar-Kampagne erhielt und im Stream versandete – und hierzulande nicht mal als DVD erscheint. Traurig, denn dies ist nicht nur ein Clint-Eastwood-Film, sondern vielleicht die letzte Regiearbeit des 95-Jährigen.

Schuld, Schweigen, Gerechtigkeit

Und hat es je einen 95-Jährigen gegeben, der einen besseren Film gedreht hat? Ein Gerichtsdrama, das die „About a Boy“-Stars Toni Collette und Nicholas Hoult wiedervereint. Und eine schreckliche Gewissensfrage behandelt. Juror #2 (Hoult) hat beim Autounfall eine Frau getötet, bleibt aber unerkannt. Stattdessen steht deren Freund nun wegen Mordes vor Gericht – und über dessen Schicksal entscheidet No.2 als Geschworener mit.

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Auf den Juror wartet zu Hause seine schwangere Frau. Er ist vorbestraft und Alkoholiker, der Unfall geschah vor einer Bar. Bei einem Geständnis müsste er ins Gefängnis, würde sein Baby nicht aufwachsen sehen.

Clint Eastwood: Vom Antihelden zum Justizkritiker

Clint Eastwood hatte sich in den Nullerjahren zunächst von einem sanften, die Sterbehilfe befürwortenden Republikaner („Million Dollar Baby“), zu einem Porträtisten von Antihelden entwickelt, die auch im hohen Alter ihren Rassismus bewältigen können („Gran Torino“).

Heldendekonstruktion in „Jewell“, „Sully“ und „Juror #2“

Erst in den Zehnerjahren wurde er zum Hardcore-Hagiografen amerikanischer Ikonen. Er drehte einen feierlichen Film über den „American Sniper“ Chris Kyle, der im Krieg irakische Soldaten erschoss, und hat verheimlicht, dass Kyle Moslems hasst. Spätere Werke wie „Richard Jewell“ und „Sully“ sind ähnlich andächtig, aber mit einem Unterschied. Sie schildern auch den falschen Umgang mit solchen Helden. Wachmann Jewell wurde vom FBI verdächtigt, die Bombe bei den Olympischen Spielen in Atlanta 1996 selbst gelegt zu haben. Pilot Sully muss nach seiner erfolgreichen Notwasserung im Hudson River nach Ansicht der Staatsanwaltschaft irgendwas falsch gemacht haben und landet vor Gericht.

Justizsystem als Feind: Eastwoods leiser Zorn

Die (fiktive) Geschichte des „Juror No.2“ Justin Kemp (Hoult) ist eine ungewöhnliche Wahl Eastwoods. Kemp ist kein Held. Aber ist er ein Feigling? „Jewell“, „Sully“ und „Juror No. 2“ eint Eastwoods Zweifel am Justizsystem Amerikas. Es ist seine Kunst, Mitleid und Verständnis für den Laienrichter Kemp zu erwecken – genau wie die Hoffnung, dass ein Unschuldiger, der mordverdächtige Freund der Toten, dafür nicht lebenslänglich erhält.

Kritik an Geschworenen und Grand Juries

Eastwood kritisiert eine Rechtsordnung, die Urteilen überforderter bis unqualifizierter Grand Jurys vertraut. Kemp weiß, dass er nie wieder Frieden finden wird. Die anderen, ahnungslosen elf Geschworenen wollen den Fall rasch beenden, ohne Gedanken an die mögliche Unschuld des Angeklagten. Sie wollen das, was Juror 2 gern hätte: Feierabend, Kopf ausschalten.