Kritik: Elton John live in Berlin – Elton, Du alter Cyborg!

Elton John beweist auch bei seiner finalen Tournee, dass er der herausragende Pop-Pianist ist. Aber er macht Zugeständnisse an den Zeitgeist, die ihm nicht gut zu Gesicht stehen.

Elton John ist in den 1940er-Jahren geboren, wie Paul McCartney, Bob Dylan, Brian Wilson, Joni Mitchell, Mick Jagger, Keith Richards – aber irgendwie ist er nicht Teil dieser Goldenen Generation: Er zählt nicht zur allerallerallerobersten Musiker-Elite. Elton John hat sehr viele gute Alben veröffentlicht, doch mit „Goodbye Yellow Brick Road“ maximal ein einziges Album, das als Kulturerbe gilt.

Auf der Bühne immerhin wird, wie am ersten Abend seiner „Farewell Yellow Brick Road“-Tour in Berlin, offenbar: Der 76-Jährige ist der einzige jener Musiker, der live ein unabhängiger Künstler ist. Einer, dessen Konzerte allein um ihn herum gebaut sind. Alle aus jener Goldenen Generation könnten ohne ihr Instrument auftreten, weil sie mittlerweile eher Performer sind als Instrumentalisten, sie hätten bzw. haben auf der Bühne viele Leute im Hintergrund, die das Instrument des Bosses notfalls doppeln – Elton John aber dominiert noch immer sein Instrument, zu keiner Zeit müsste er sich von einer Band entlasten lassen. Er ist unabhängig vom Team. Am Klavier kann das von der alten Garde nur noch Billy Joel (geboren 1949) demonstrieren, und an der Gitarre Neil Young (1945). Würde man Elton Johns sechsköpfige Begleitband – darunter den seit 1969 bei ihm tätigen Nigel Olsson – entfernen, John könnte noch immer ein vollwertiges Konzert absolvieren – Tastenspiel reicht. Sechs Menschen stehen mit ihm auf der Bühne, in der unorthodoxen Kombination aus vier Rhythmusinstrumenten (Schlagzeug, Bass, zwei Percussionisten) sowie, eben in der Minderzahl, Gitarre und Keyboard – das ist eine eindeutige Aufstellung. Melodisch alles zugesteuert auf den Elton-Flügel.

Es geht los mit „Bennie and the Jets“. Elton John zeigt dabei den ihm eigenen „You, especially you!“-Finger ins Publikum: Jeder soll sich angesprochen fühlen. Du bist Bennie, er ist Bennie, ich bin Bennie, wir sind Bennie. Dann beginnen die Einspielungen auf den Leinwänden, die „Visuals“. Und es wird schwierig, leider, bis zum Ende. Manches wirkt sehr wie auf amerikanisches Lehrmaterial zugeschnitten, etwa die Silhouetten von Cowboys, die Jagd auf angekettete Sträflinge machen („Have Mercy On The Criminal“). Anderes sieht derart absurd aus, dass man sich Elton und die Band gar nicht mehr anschauen kann, sondern fasziniert-leidend die Bildschirme anstarrt: „Philadelphia Freedom“ präsentiert bunte Einspielungen von Aerobic-Tänzern auf Ledersitzwürfeln, wie aus einer Bennettonwerbung. Bei „I Guess That’s Why They Call It The Blues“ wird Amerika dann zu Europa: lauter Fotos von tragischen britischen Pärchen, wahrscheinlich Bilder von Martin Parr, der englische Abgehängte aus den Seebadstädten derart bedauerlich ablichtet, dass sie für diese Aufnahmen garantiert nicht ihr Einverständnis gegeben haben. Schon klar, Oma und Opa schieben den von Elton besungenen Blues, Message verstanden, aber: Dies ist doch Elton Johns angeblich letzte Konzertreise. Man will doch nur ihn auf der Leinwand sehen, oder? Man will doch seine Lebensgeschichte sehen – wenn es schon Bildschirme geben muss.

Elton John in Hamburg

Oder spricht es doch für Elton John, dass er die Tournee zumindest visuell nicht nur als Memory-Lane-Revue präsentiert, sondern als (Video-)Display für die Verbiegungen jüngerer Markenwerbungstänzer, älterer Blackpool-Briten und generell dem Leben, das der Multimillionär nicht mehr aus nächster Nähe betrachten kann?

Er zelebriert sich natürlich – und zu Recht – dann doch auch selbst. Zeigt sich auf den Screens. Nur manchmal erscheint das eben schräg. Ein Video stellt ihn dar als monochromen T-1000-Cyborg aus Sci-Fi-flüssigem Metall; bei „Don’t Let The Sun Go Down Me“ gibt es Einspielungen aus dem „Rocket Man“-Kinofilm, die er eher beim Song „Rocket Man“ hätte einspielen können – andererseits ging es Elton John wohl darum, mit „Don’t Let The Sun Go Down On Me“ an seine Fans zu appellieren, ihn nicht aufzugeben, gerade weil der Kinofilm zeigte, was für ein schlimmer Mensch er doch sein konnte.

Der Autor dieser Zeilen glaubt eigentlich an eine eigene Beobachtung: Kein Musiker, der in den 1970er-Jahren ein höchst gefeiertes Jahrzehnt hatte, erlebte in den 1980er-Jahren ein noch größeres. Elton John tat sich schwer mit den 1980ern, aber seine Greatest-Hits-Gala offenbart doch einige hart einschlagende Leerstellen. „Nikita“ fehlt, sein erster britischer Nummer-eins-Hit, „Sacrifice“, ebenso. „Blue Eyes“. Das grandiose „Song for Guy“ klingt wie aus den Achtzigern, ist aber aus den Siebzigern – fehlt natürlich. Elton John behandelt auch alles ab den 1990er-Jahren sehr streng. Sein allerbestes Lied, „The One“, fehlt selbstverständlich. Außerdem die beiden Oscar-Songs, derjenige aus „König der Löwen“, und der von vor ein paar Jahren. Elton John befindet sich wohl schon zu weit auf seiner Road, um sich mit Stücken zu befassen, die ihn schon immer genervt haben. Point Taken. Was Elton John aber auch seit Jahren bemerkt haben wird: Die größte Publikumsbegeisterung entfacht jedesmal nicht das Lied für Marilyn, sondern jenes Lied, das er für sich selbst geschrieben hat, und das ausgerechnet aus den ungeliebten 1980ern stammt: „I’m Still Standing“.  Und es müsste, gemessen an den Zuschauerreaktionen, streng genommen nicht mehr heißen „I’m Still Standing“, sondern „Finally We’re All Standing Up“ – es ist der einzige Song des Abends, bei dem es, wie man sagt, „keinen mehr auf den Sitzen hält“.

Der alte Showman. Wenn Elton aufsteht, um zu trinken, dreht er dem Publikum den Rücken zu, der Wasserbecher steht hinter dem Flügel. Soll keiner sehen, wie der Künstler etwas in sich aufnimmt. Er erwähnt Weggefährten und geht zurecht davon aus, dass wir Legenden kennen. „Bernie“, den „kongenialen Songpartner“, erwähnt er natürlich ohne dessen Nachnamen.

Elton John in Hamburg

Bei den Zugaben inszeniert Elton John sich zuverlässig als „hardest workig man in showbusiness“, ein Titel, den andere für sich okkupiert haben, den nur er selbst aber in Outfits darstellt: der Bademantel. Diesmal mit Shogun-artiger Rückenverzierung. Martial Arts im Sinn. „Crocodile Rock“ ist natürlich Butterfahrtmusik, aber es ist „Cold Heart“, der einem Sorgen bereiten könnte. Das „Lied für ein neues Zeitalter“ – auf Spotify sein mit Abstand beliebtestes Stück. PNAU remixen darin „Rocket Man“ sowie „Sacrifice“ (da ist der Song also doch noch!), darüber singt Dua Lipa im Rahmen ihrer Möglichkeiten einige Zeilen. Dieser Mashup gilt als Elton Johns größter Hit seit der 1997er-Veröffentlichung von „Candle in the Wind“ in der Lady-Di-Fassung, es ist also sein größter Hit seit 26 Jahren.

Auf der „Farewell Yellow Brick Road“-Tour kommt „Cold Heart“ vom Band, Elton John setzt sich auf seinen Schemel und dirigiert dazu das Publikum, totally floored, ergeben zu einer Dance Music, bei der er einfach nicht mitspielen kann, und bei deren Produktion er eindeutig nicht das Sagen hatte.

Playback-Show mit Elton! Das ist doch nicht seine Welt. Er widmet „Cold Heart“ sogar eine Ansage: „Ich bin so froh, dass das Lied so viel Aufmerksamkeit erfahren hat“. Fast könnte man denken, die beiden Songs danach, die zwei letzten Lieder des Abends, wären nicht mehr ganz so wichtig. Sind sie wichtig? Es sind „Your Song“ und „Goodbye Yellow Brick Road“.

Ben Gibson
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