„Der lange Fahrradmarsch“: China, vom E-Bike aus gesehen

Der Schriftsteller Christian Y. Schmidt über das Abenteuerbuch „Der Lange Fahrradmarsch“.

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Ein bisschen verrückt muss ein Mensch schon sein, um zu beschließen, fast 7000 Kilometer durch China zu fahren – mit dem E-Bike, in fünf Monaten. Der eine ist immerhin Radreiseveranstalter, der andere „nur“ Schriftsteller – und kein besonders fitter. Ganz jung sind beide nicht mehr.

Ein Glück, dass Volker Häring und Christian Y. Schmidt nicht zu allzu großer Vernunft neigen – deshalb gibt es jetzt die komplette Reise zum Lesen: „Der lange Fahrradmarsch“ (Ullstein) ist für Leute jeglichen Bildungsstandes ein Vergnügen. Den Langen Marsch der Roten Armee (1934/35) kennt man wohl, als Gründungsmythos der Kommunistischen Partei. Mao hing ja zumindest in den 70er- und 80er-Jahren noch in vielen Jugendzimmern, doch hier erfährt man viele skurrile Details, und auf dem Weg gibt es ständig interessante Begegnungen.

Oft dürfen die beiden nicht in Hotels übernachten, weil sie Ausländer sind, noch häufiger helfen freundliche Menschen bei Technikproblemen und anderen. Mindestens hundertmal verflucht „Mr. Worstcase“ Schmidt sich selbst dafür, dass er sich auf das Abenteuer eingelassen hat – seine Passagen sind noch etwas lustiger als die von Häring, was man von einem ehemaligen „Titanic“-Redakteur freilich erwarten kann. Schmidt hat lange in China gelebt und gibt die Hoffnung nicht auf, dass er das Bild, das viele Deutsche haben, etwas gerade rücken kann. Die Konflikte, die sie bei dieser strapaziösen Reise untereinander hatten, haben sie vielleicht etwas abgemildert, in Sachen China betreiben sie keine Schönfärberei.

Die erste Tour des Lebens – und wahrscheinlich die letzte

Das Buch war ja Team-Arbeit im doppelten Sinn – also gemeinsam Radfahren und Schreiben: Ist das härter, als allein ein Projekt durchzuziehen?

Die Tour selbst hätte ich auf keinen Fall ohne Volker Häring gemacht. Er spricht nicht nur viel besser Chinesisch als ich, sondern kann auch Schriftzeichen schreiben und lesen. Das ist noch einmal ein ganz anderer Schnack. So konnte Volker die Route im Detail ausarbeiten und auch die Hotelbuchungen auf den chinesischen Apps vornehmen. Das wäre mir äußerst schwer gefallen. Außerdem hat er jahrzehntelange Erfahrung mit Fahrradtouren. Für mich war das die erste Tour in meinem Leben – und wahrscheinlich auch die, hihi, letzte.

Das Schreiben des Buches war dann zu zweit deutlich anstrengender. Die Vorstellungen, was ins Buch gehört und was nicht, und wie man das so formuliert, gingen doch sehr auseinander. Es war ein harter Kampf, aus den unterschiedlichen Ansätzen ein gemeinsames Buch zu zimmern. Ich hatte vorher gedacht, es würde nur halb so lange dauern, wenn man das Schreiben zwischen uns beiden aufteilt. Ich kann versichern: Das Gegenteil ist der Fall. Trotzdem: Ich habe jetzt schon von vielen Erstlesern gehört, das Buch lese sich sehr unterhaltsam und in einem Rutsch weg. Das heißt, der Kampf um den Text hat sich wohl gelohnt.

Rückhaltlos ehrlich waren sie dann doch nicht

Habt Ihr vorher abgemacht, wer worüber schreibt? Und dass Ihr z.B. ehrlich über die Konflikte zwischen euch berichtet?

Wir haben das Buch nach Etappen aufgeteilt. Das heißt, wir haben festgelegt: Du, Volker, schreibst über die Strecke von der Stadt A bis zum Dorf B, und ich, Christian Y., übernehme dann den Abschnitt von Dorf B zur Kleinstadt C. Und so weiter, immer abwechselnd. Das einzige Thema, das ich für mich reserviert hatte, war die Geschichte des bayerischen Berufsrevolutionärs Otto Braun, dessen Spuren wir unter anderem folgen. Eine wirklich unglaublich schillernde Figur. Mit dem habe ich mich bereits seit mehr als zehn Jahren beschäftigt. In Volkers Kapiteln kommen dafür ausführlichere Gespräche mit wirklich sehr ungewöhnlichen Leuten, die wir unterwegs getroffen haben. So plaudert er u.a. länger mit einem uigurischen Radfahrer, der seinen gut bezahlten Job als Security-Mann auf dem Flughafen von Urumqi aufgegeben hat, um durch ganz China zu radeln.

Aber wenn ich ganz ehrlich bin: Wirklich rückhaltlos ehrlich haben wir die Auseinandersetzungen zwischen uns nicht geschildert. Die tatsächlichen Konflikte waren zahlreicher und oft heftiger. Nur liegt es da in der Natur der Sache, dass man sich kaum auf eine gemeinsame Version einigen kann, ähnlich wie bei einem Beziehungs- oder Ehestreit.

War ein Ziel des Buchs auch, das Bild, das wir hier größtenteils von China haben, zurechtzurücken? Oder hast du das schon aufgegeben?

Hat Don Quichotte seinen Kampf gegen die Windmühlenflügel jemals aufgegeben? ChatGPT sagt: Nein. Und ich denke, die KI hat Recht. Die Korrektur des verzerrten China-Bildes, wie es in unseren Medien verbreitet wird, ist notwendiger denn je. Gerade in einer Zeit, in der die globalen Konflikte zunehmen, ist es wichtig, dass die Menschen hierzulande immer wieder erfahren, dass da hinten in China keine willenlosen Kampfroboter herumwuseln, die tun, was man ihnen befiehlt, sondern sehr individuelle, durchaus kritische Menschen mit unterschiedlichen Wünschen und Meinungen. Vielleicht führt das dazu, dass auch bei uns wieder zwei Menschen mehr glauben, dass wir eher Kooperation zwischen den Staaten brauchen statt mehr Konfrontation.

Eher Kooperation statt mehr Konfrontation

Wie viel habt Ihr beim Schreiben überlegt, ob euch manche Passagen schaden könnten, wenn Ihr später noch mal nach China reisen möchtet?

Das kommt einem natürlich gelegentlich in den Sinn, aber ich habe auch in den 17 Jahren, die ich in China gelebt habe, nie einen Hehl daraus gemacht, was mir an und in China nicht passt. So halten wir das auch in diesem Buch. Ich glaube, allein dass wir die Rolle, die der Deutsche Otto Braun beim Langen Marsch gespielt hat, so betonen und dabei auch der offiziellen chinesischen Geschichtsschreibung immer wieder widersprechen ist ein kleines Sakrileg. Wir schildern auch die – allerdings wenigen – rüden Polizeikontrollen unterwegs, ohne uns dabei irgendwie zurückzunehmen. Selbst ein Angestellter der Stadtverwaltung von Yan’an, den wir am Ende der Tour treffen, kommt nicht ganz so gut weg, wie er vielleicht gern hätte, obwohl er uns zum Essen eingeladen hat.

Ich bin allerdings recht zuversichtlich, dass uns diese Passagen auch bei der nächsten Reise nach China nicht schaden werden. Würde es sich um die momentanen USA handeln, wäre ich mir da nicht so sicher.