Lebendige Tape-Decks

Autoradios konzertieren, Ghettoblaster kriegen Orgasmen - gesamt-künstlerisch gesehen war die "Experiments"-Zeit der Lips-Höhepunkt

Sich direkt von MTV, die einen nicht mehr spielen mögen, in die experimentelle Performance-Kunst zu flüchten – für eine Rockband wäre das kein Ruhmesblatt, eher ein Signal der Verzweiflung. Als die Flaming Lips im Sommer 1996 in einem Parkhaus in Oklahoma City 40 Tape-Kassetten an 40 Autofahrer verteilten und die 40 Auto-Kassettendecks vor Publikum im Großraum zu einem interaktiven Symphonie-Konzert vereinten, war das allerdings kein sonderbarer künstlerischer Ausreißer in der Band-Geschichte, denn leicht schrullige, von Concept Art angeregte Vorkommnisse hatte es schon bei vielen ihrer Auftritte und Sessions gegeben. Es hängt wohl vom Kunstsinn des Betrachters ab, wie hoch man die rund zweijährige „Experiments“-Phase der Band hängt – es gibt gute Gründe, die Zeit sogar als den eigentlichen artistischen Höhepunkt der Lips-Historie zu sehen.

Die Sache war die: Nach dem kommerziellen Zufalls-Hoch durch den „Jelly“-Erfolg waren die Flaming Lips Ende 1995 in ein logisches Down gerutscht, schicksalhaft verstärkt durch den geheimnisvollen Abschied von Gitarrist Ronald Jones, den Autounfall von Bassist Michael Ivins und die noch geheimnisvollere Handverletzung von Steven Drozd (angeblich ein Spinnenbiß, in Wahrheit ein Abszeß, der mit Drozds Heroinkonsum zu tun hatte). Das, was Schund-Künstler „sich neu erfinden“ nennen, stand zweifellos an – und Wayne Coyne wußte, daß er dabei erst mal auf sich allein gestellt war, mitsamt aller positiven Freiheit, die das bedeutete.

Was ihn auf den vorangegangenen, ausführlichen Tourneen der Flaming Lips mehr und mehr gestört hatte, war die grundsätzlich passive Rolle, die das Publikum jeden Abend spielte. Im Heim-Probierstudio begann er, an einer eigentlich alten Idee zu arbeiteten: an der Entwicklung einer multispektralen Musik, die unter vergleichsweise profanen Bedingungen zum Leben erwachen sollte. Die Flyer, die einige Zeit später bei ausgesuchten Freunden und Fans in den Briefkästen auftauchten, erinnerten dann absichtlich an Einladungen zu Acid Tests und medizinischen Versuchsreihen: Die Flaming Lips luden offiziell „Freiwillige“ ins Parkhaus der Oklahoma City Mall.

Beim ersten „Parking Lot Experiment“ drehte sich alles um Wayne Coyne im gelben Regenmantel, der die Fahrer mit dem Megaphon an bestimmte Positionen lotste, in einigen Trocken-Durchläufen den Synchron-Start der Autoradios übte, dann die Zuhörer aufforderte, zwischen den Autos durch den Raum zu wandeln, als die Decks gestartet waren: Gestöhn, der Klang eigenartiger Instrumente, gewöhnliche und verzerrte Gitarren, Techno-Beats, Rauschen. Kakophonie, wellenförmige Sound-Fortpflanzungen, alles genau komponiert wie ein 40fach komplexer Flaming Lips-Song.

„Wir haben nur die Leute dazu eingeladen, von denen wir genau wußten, daß sie sich dafür interessieren würden“, kommentiert Coyne heute. „Natürlich sollte das Entertainment sein, aber zur gleichen Zeit auch Kunst. Normalerweise will man ja nicht nach einem Konzert heimgehen und das Ganze wissenschaftlich nachbereiten. Aber hier war das so, es hatte ein bißchen was mit Studieren zu tun. Wir wollten analysieren: Was ist hier jetzt passiert?“

Auf mehrere Parkhaus-Konzerte, deren Vorbereitung freilich sehr aufwendig war, folgte dann die transportable Version, die „Boombox Experiments“, mit denen die Band 1997 richtig auf Tour ging. Die neu erstellten Synchron-Kassetten waren für 40 tragbare Rekorder bestimmt, von freiwilligen Zuhörern bedient und von Coyne und Steven Drozd mit großen Scheinwerfern dirigert, mal lauter, mal leiser.

Beim dritten Projekt ging es dann darum, eine Heimversion der Events zu produzieren, bei der die Benutzer gezwungen sein würden, sich Gäste einzuladen. Die „Zaireeka“-Box war als 10-CD-Set geplant, bis Manager Scott Booker die Band auf ein Vierer-Album herunterhandelte. Vier CDs, für die es nur die Regel gab, daß sie gleichzeitig angehört werden müssen. Selbst der größte kapitalistische Individualist, der tatsächlich vier Abspielgeräte daheim hat – würde er es wohl schaffen, alle vier im selben Moment zu starten?

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