Live aus London: Arcade Fire und das Pendel des Todes
Über die Missbrauchsvorwürfe will Win Butler nicht reden. Arcade Fire wurden deshalb totgesagt. Und beweisen beim Konzert in der Royal Albert Hall wieder einmal, wie gut sie sind – ob man das noch mag, oder nicht
Ein Mikrofon hängt von der Bühnendecke in der Londoner Royal Albert Hall, direkt vor dem Schlagzeug. Es schwingt an einem langen Kabel von links nach rechts. Win Butler stippt es immer wieder an, es schlägt immer weiter aus. Es schwingt über seinem Kopf. Auch Régine Chassagne gibt dem Gehänge immer wieder einen Schubs. Wie sieht das aus? Wie ein Pendel! Die Grube und das Pendel! Oder doch wie ein Damoklesschwert?
Zwischen Zeichenlesen und Bühnenchoreografie
Man kann sich nicht helfen, man sucht nach Zeichen und Symbolen bei Arcade Fire. Zeichen, die ihre Situation erklären. Weil sie nicht reden wollen über das, was vor drei Jahren an die Öffentlichkeit gelangte. Win Butler sah sich 2022 Vorwürfen missbräuchlichen Verhaltens ausgesetzt, zwei Frauen schilderten ihre angeblichen Erfahrungen. Eine Anklage gab es nicht, Butler sprach von einvernehmlichen Handlungen. Die Sache ist ungeklärt.
Das Konzert als Spiegel innerer Konflikte
Seitdem steht die Frage im Raum, wie gut es diesen Frauen geht, wie gut es Win Butler geht, und natürlich auch, wie es seiner Ehefrau Régine Chassagne geht. Von dem gemeinsamen Sohn ganz zu schweigen. „Wir leben in einer offenen Beziehung“, sagt Chassagne damals, es war ihr einziges Statement. Es wirkte wie ein kläglicher, gezwungener Versuch der Ehrenrettung ihres Gatten. Und der eigenen Ehre. Blick auf die Bühne: Jeder gemeinsamer Tanz, jedes Duett der beiden steht unter Beobachtung. Nicht wenige hatten Arcade Fire nach den Missbrauchsvorwürfen für erledigt erklärt. Vielleicht erklärt sich so, warum sie in diesem Jahr bereits mit einem neuen Werk nachlegten (drei Jahre Pause sind bei ihnen nichts).
Rückkehr mit „Pink Elephant“ – ein neues Album
In der Royal Albert Hall stellten Arcade Fire am Mittwochabend (14. Mai), bei ihrem einzigen Europa-Konzert, also die Songs ihres siebten Albums „Pink Elephant“ vor. Und im Anschluss, nach einer dramaturgisch geziert erscheinenden 20-minütigen Pause (meine Güte, die Platte dauert nur um die 40 Minuten, so erschöpft kann keiner danach sein), ein Best-of-Set.
Bühnenmagie trotz personeller Verluste
Man kann Win Butler für einen Schuft halten, seine in den neuen Texten artikulierten Selbstgeißelungen für dick aufgetragen. Aber Arcade Fire bleiben auch an diesem Abend: eine sehr, sehr gute Liveband. Vielleicht die beste Liveband des Rock, die das neue Jahrtausend hervorgebracht hat. Selbst, wenn sie von zwölf Musikern auf sieben geschrumpft sind. Win Butlers kleiner Bruder Will, Co-Komponist und ein Co-Leader, ist ausgestiegen. Richard Reed „Malachai“ Parry, the Red Threat, pausiert.
Win Butlers Performance zwischen Nähe und Flucht
Die Royal Albert Hall ist Ehrfurcht gebietend, aber sie ist nicht so groß, wie man von außen denkt. So lässt sich auch erklären, dass Win Butler die gesamte Halle abrennt. Ginge bei der Berliner Waldbühne nicht. Hier rennt er singend durch den Innenraum. Durch die ersten Oberränge. Schon bei Song vier, „Circle of Trust“, taucht er in der Menge unter (sofern das bei einem Zweimeter-Mann überhaupt geht). „Circle of Trust“ ist ein Lied über Ekstase im Club, Betrug, Misstrauen (wie ROLLING STONE zumindest vermutet – wir hätten ihn zu diesem Song gern befragt. Interviews wären jedoch an die Vorgabe gebunden gewesen, genau darüber nicht zu sprechen). Bemerkenswert ist, dass bei diesem Pogo-artigen „Circle of Trust“ eben doch nur Männer um Butler herum hopsen und ihm anerkennend auf die Schultern klopfen. Ein Männerbund.

Régine Chassagne – Rückgrat, Rückhalt, Resonanz
Régine Chassagne hatte den Abend mit ihrem einsamen Gang auf die Bühne eröffnet. Sie trug einen Hut, an dem Girlanden herabhingen, so lange Girlanden, dass Chassagne wie eine Trauerweide aussah. Aber Chassagne ist Butlers Rücken, keine Frage. Ihre gemeinsamen Bühnenpositionierungen haben sich im Vergleich zur letzten Tournee verändert. Sie stehen öfter dicht an dicht, und wenn sie sich gegenüberstehen, Butler im Publikum, sie auf der Bühne, blicken sie sich beim Singen an.
An der Orgel: Allein zwischen Raum und Klang
Wenn sie an der Orgel sitzt, leistet Chassagne den größten Dienst. Schließlich dreht sie Band und Publikum dann den Rücken zu. Sie könnte die Emotionen aller anderen Menschen in der Royal Albert Hall also nicht aufsaugen. Applaus, Dynamik, alles ist weit weg hinter ihr. Also im Sinne von: wirklich weit weg. So weit weg wie vielleicht noch nie. Denn Arcade Fire haben sich die Royal Albert Hall zu Nutzen gemacht. Chassagne setzt sich an die Hausorgel, rund zehn Meter erhöht und zehn Meter von der Bühne entfernt. Was für ein Anblick. Wie Orgelspiel im Himmel. Gemacht für Songs wie „Rococo“, „My Body is a Cage“ und natürlich das göttliche „Intervention“. Jede Halle, in der Arcade Fire auftreten, bräuchte eine Hausorgel. Eine Win-Win-Situation (Entschuldigung für das Wortspiel).
Vom sakralen „Intervention“ bis zu Indie-Hymnen
„Intervention“ führt vor, was bei Arcade Fire durch die Hinwendung zur elektronischen Musik ab „We“ von 2022 verloren gegangen ist. Das Gefühl, dass es immer um Leben und Tod geht. Dieses Gefühl vermitteln sie nur durch das Orchesterdrama. Zeilen wie „Working for the church while your family dies / You take what they give you / And you keep it inside / Every spark of friendship and love will die without a home“ aus „Intervention“ sind eben etwas Anderes als neue, an improvisierte Schnellreime erinnernde Dichtungen wie „In the year of the snake / I made a clean break“ aus „Year of the Snake“. Und lässt sich die Magie der Kindheit schöner formulieren als in „The Suburbs (Continued)“, jenem 15 Jahre alten Song? „If I could have it back / All the time that we wasted / I’d only waste it again / If I could have it back“.
Klassiker und Fehlgriffe im zweiten Set
Im zweiten Set reiht sich also Hit an Hit aus dem AF-Backkatalog. Nicht alles ist geglückt. Das schon auf dem „We“-Album verhobene „End of the Empire“, eine zehnminütige Melange aus Lennons „Imagine“, Newspeak-Kritik und sinnentleertem Streaming-Vokabular („Fuck Season 5“, „I Unsubscribe“) hätte aus der Setlist rausfliegen müssen, „Reflektor“ dafür rein. Aber das ist nur ein einziger Missgriff gegenüber Stücken wie „Creature Comfort“, „Black Mirror“ und „Afterlife“, jenen Klassikern des „Indie Rock“. Dazwischen ruft Win Butler, der Amerikaner, der vor einigen Jahren die kanadischen Staatsbürgerschaft angenommen hat, zur guten Sache auf. Und gegen den US-Präsidenten. „Wir können ihm die Power auch wieder entreißen!“, ruft er, in Anlehnung an das Arcade-Fire-Duett mit Mavis Staples, „I Give You Power“. Butler singt Zeilen aus David Bowies „I’m afraid of Americans“. Bowie schrieb das Lied 1996, aber natürlich, es hat nie besser gepasst als jetzt.
Indie, Idealismus und der Vertrauensbruch
Aber was heißt es eigentlich, „Indie“ zu sein? Auch diese Definition, so schwammig sie eh schon immer war, wurde durch die Missbrauchsvorwürfe in Frage gestellt. Arcade Fire waren Indie, also immer auf der richtigen Seite. Gegen „die da oben“ und immer für die Fans. Arcade Fire waren die Guten. Eheleute. Ein Familienbetrieb. Familie on tour. Familie bietet Sicherheit, wenn Rock and Roll doch voller Versuchungen steckt. Das nimmt man ihnen jetzt nicht mehr so richtig ab.
Was bleibt vom rebellischen Ideal?
Man sollte Arcade-Fire-Fans nicht als unkritisch bezeichnen, auch wenn kein Apologet gern über die Missbrauchsvorwürfe gegen Butler spricht. Bei Rammstein-Konzerten hatten sich Demonstrierende vor den Stadien versammelt. Die gibt es vor der Royal Albert Hall nicht. Im Gegenteil, die Leute tragen, dem „Pink Elephant“-Motto entsprechend, Kleidung in rosa, die Farbe kindlicher Unschuld.
Und doch wird der Auftritt Régine Chassagnes am meisten bejubelt. Sie singt ihr eigenes Lied, „Sprawl II (Mountains Beyond Mountains)“. Und dieses Lied? Gehört in die Top Five von Arcade Fire. Aber die Leute feiern sie auch aus einem anderen Grund. Weil sie noch da ist. Trotz allem. Ohne sie wäre die Band tot.
Fans, Vergebung und der rosa Elefant im Raum
ROLLING-STONE-Kollege Marc Vetter sagt: „Sie hat ihm auch wegen der Band vergeben. Es ist ja auch ihr Baby.“ Und das sollte niemand, der Arcade Fire am Leben wissen will, je vergessen.
Nach dem Auftritt machen Arcade Fire weiter. Sie trommeln vor der Halle, es ist ein oft von ihnen dargebrachtes Post-Konzert-Ritual. Im Mittelpunkt eine Unplugged-Version von „Wake Up“, nur Percussions und der „Wake Up“-Chant. Eine Polonäse der Hipster. Butler nennt es den New-Orleans-Style. Musik um jeden Preis, auch ohne Mikro, verlängert in die Nacht. Win Butler ruft in die Nacht hinein. Wir werden nicht erfahren, was in ihm wirklich vorgeht.