„Living Rock“: Rumänien dreht auf – Ibiza-Atmosphäre am Schwarzen Meer

Eigenwillige Töne und offene, dynamische Strukturen. Eine Entdeckungstour im Südosten Europas

Die Festivalsaison 2022 neigt sich dem Ende zu. In der Branche wird bereits erste Bilanz gezogen: Ausverkaufte Traditions-Events mit stark gestiegenen Produktionskosten. Dazu neue Namen, die für eine dynamische Aufbruchsstimmung in der Live-Szene stehen. Vielerorts werden die Karten neu gemischt, wobei stets die schwierigen (finanziellen) Verhältnisse anklingen, mit denen gerade mittelständische Veranstalter derzeit zu kämpfen haben. Dennoch bleibt (vorerst) mehr Licht als Schatten im Post-Pandemie-Festival-Sommer 2022.

 

Bleibt ein wenig Zeit zum Durchatmen, für einen Blick über den Live-Tellerrand: nach Rumänien. In ein Land, das erst 2007 in die EU kam und das so mancher eher mit Graf Dracula verbindet als mit ausdifferenzierten Festival-Adressen.

Dabei befindet sich die Region zwischen Transsilvanien im Norden und der Küste des Schwarzen Meeres seit etwa zehn Jahren in einem Kurs der Erneuerung. Die Protagonisten haben aus den Fehlern der 2000er-Jahre gelernt, als es mit teuren internationalen Acts so manche Musik-Firmenpleite gab.

Die Veranstalterszene ist relativ jung. Im Vergleich zu den seit den 1970er-Jahren gewachsene Strukturen in England, den Niederlanden oder Deutschland kommen die heutigen Macher- und Macherinnen aus der Mittdreißiger bis Mittvierziger-Generation, welche die Ära unter Langzeit-Despot Nicolae Ceaușescu als nur noch als Kinder oder bereits in den chaotischen Umbruchjahren miterlebt haben. Wie überall im Post-Sozialismus mischen viele Frauen an vorderster Front mit. Die Player arbeiten zumeist in Indie-Strukturen mit sechs bis acht Festangestellten. Wie etwa Overground Music aus Bukarest; die auch Talente entwickeln und managen. Die Firmen-eigene „Villa“ in Bukarest mit Proberäumen und Studios wirkt dabei wie eine Drehscheibe für rumänische Indie- und Pop-Acts.

Festivals wie Untold, Electric Castle oder Neversea verzichten auf auswärtige Stars und setzen verstärkt auf regionale Bands, Rapper oder DJs. Das stärkt die Musikszene und mindert das Risiko die fetten Festgagen und Produktionskosten für US- oder UK-Headliner nicht einspielen zu können.

Am letzten Sonntag ist das „Living Rock” zu Ende gegangen. Eine seit acht Jahren existierende Indie-Struktur, die in einer entspannten Größenordnung von 3.000 Gästen in der Nähe der Hafenstadt Konstanza auf einem lang gestreckten Gelände oberhalb von Tuzla Plaja steigt. Die Grenze zur Ukraine ist direkt nebenan. Sonderlich besorgte Stimmung war keineswegs auszumachen. Eher ein trotziges: „Fuck War, Let’s Dance“. Ohnehin wird hier mächtig gefeiert, in der Sommerferien-Zone Schwarzes Meer.

Amadeus Romanian Girls

Über breite Terrassen steigt die Landschaft ins flache Hinterland auf. Auf einer großen Lehm-und Gras-Fläche befindet sich der Festivalground von „Living Rock“. Eine zentrale Bühne, ein offenes Chill-Out-Zeit für Cafe-Del-Mar-artige Electro-Fusion oder Kammer-Pop bei den „Brunch Sessions“.

Während der herrschende Sound in den Bars und Clubs in Rumänien im weitesten Sinne von R´n`B, Trap oder Electro bestimmt ist, legt „Living Rock“ klare Schwerpunkte auf (Indie-) Rock. Der komplexe, vielschichtige Artrock von Bands wie Byron aus Bukarest oder die tiefergelegten Gitarrenbrecher der Altmeister von Vita de Vie treffen auf Balthazar aus dem belgischen Gent oder die spielfreudigen Glam-Styler von Piqued Jacks aus Italien. Die „Internationalen“ reihen sich nahtlos in den rumänischen Kanon ein. Man ist hier unter Freunden; ringsumher eine geradezu mediterrane Stimmung.

Was kein großes Wunder ist, sind viele Besucher eben noch im kaum 70 Meter entfernten Schwarzen Meer herum geplanscht. Strenge Sicherheitsvorschriften gibt es nicht, alles gechillt. Die Preise für Bier und Food liegen bei etwa zwei-Drittel der deutschen Standards. Aufenthaltsqualität wird großgeschrieben.

Und so liegt es an den vier Konservatoriums-Frauen der Amadeus Romanian Girls zur Matinee unter dem sonntäglichen Chillout-Zelt einen gänzlich anderen Sound zu kredenzen.

Classic Pop mit Falcos „Amadeus“, Eigenkompositionen und Mozart-Beethoven-artiges a la Vanessa May, aufgeführt mit Schlagzeuger, Keyboard und Alyson-Moyet-artiger Vokalistin. Ein erfolgreiches Ensemble-Konzept, das seit Jahren weltweit tourt. Andreea Runceanu (Violine), Bianca Gavrilescu (Violine), Patricia Cimpoiasu (Electro-Cello), and Laura Lazarescu (Synthie und Klavier) sind schon jetzt dort, wo ihre männlichen Kollegen noch hinwollen:

Ein Stück vom Pop-Kuchen im westlichen Ausland. In der sich weiter professionalisierenden Festivalszene Rumäniens werden die Grundlagen dafür gelegt.

Năluca
Alfred Jansen
Năluca
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