Lokus-Lektüre

Mit seinem Debüt huldigt Stefan Wimmer der kultivierten Klolektüre

Der Titel von Wimmers Debüt lautet „Die 120 Tage von Tulum“ (Maas, 16,80 Euro). „Sodom“ hieß das ja damals noch beim Marquis de Sade (bzw. bei Pier Paolo Pasolinis genauso verruchter und also inkriminierter cineastischer Adaption des Stoffs). Ganz so schlimm wird es hier aber nicht Das ist nur eine von vielen ironisch gebrochenen, augenzwinkernden und maßlosen Übertreibungen in diesen 14 mittellangen, ziemlich wendig erzählten, durchaus komischen Stories. Denn die Fälle des Exzesses, die hier über zweieinhalb Jahrhunderte später durchdekliniert werden, sind gegen die echten und imaginierten adligen Schlimmfingereien bei allem orgiastischen Ehrgeiz denn doch eher kreuzbürgerlicher Natur.

Wimmers Ich-Erzähler lügt und betrügt bei der Stipendienakquise, um endlich rauszukommen aus der haßgeliebten Bajuwarenmetropole „Minga“. Vor allem aber will er vom „weißen Düsentrieb“ so richtig Mach-3-mäßig beschleunigt – den geistesgeschichtlichen Firlefanz vergessen, mit dem er sich in den letzten Jahren an der Uni herumgeschlagen hat. Er flieht nach Mexico, verdingt sich in Mexico City, Veracruz und Umgebung als Gelegenheitsjournalist für einheimische und deutsche Medien und frönt obligaten Lastern in Form von Weib, Tequila, Flaschbier und einer weißen Linie bis zum Horizont. Davon erzählen die meisten Stories: von zumeist grandios scheiternden, nicht immer schmeichelhaften Frauengeschichten, von der endlosen bzw. immerwiederkehrenden Sause, von der Unsterblichkeit im allnächtlichen Club-Nirvana – mit einem Pfund bolivianischem Marschierpulver in der Gesäßtasche. Es ist wieder einmal dieser „Durst, der mit Limonade nicht aus der Welt zu schaffen ist“.

Wimmers Geschichten hängen zusammen, weil sie offensichdich Etappen seines eigenen Lebens literarisch aufdonnern. Auch er kam als Stipendiat nach Mexiko, arbeitete dann als TV-Produzent für den ORF, gleichzeitig für die mexikanische Tagespresse und das Kulturmagazin „Parintesis“, um schließlich zurückzukehren nach München, für einige Jahre beim „Playboy“ anzuheuern und sich hernach als

freier Autor zu verdingen. Die Stories sind also erfahrungsgesättigt, besitzen bei aller Hyperbolik die Glaubwürdigkeit und die Authentizität einer literarischen Reportage – und das ist offensichtlich Programm. „Manche Literaturkritiker vertreten die Forderung, die eigene Biographie beim Schreiben draußenzulassen. Was natürlich Quatsch ist, der dazu führt, daß sich 20jährige Literaturstipendiaten die abstrusesten Erzählermasken aufsetzen. Wenn im Biographischen genügend Komik, Stringenz und Action drinsteckt, verwendet es!“

Das hat er getan – und wie! Wimmer bramabasiert, haut auf den Putz, und Gefangene werden nicht gemacht, besitzt dann aber auch genügend Selbstironie und Sprachwitz, die den hybriden Egotrip mit einem geblinzelten „Ist doch alles nur Spaß!“ wieder auf ein verträgliches und erträgliches Maß zurechtstutzen: „Das Licht von der Polizeiwache fiel auf meine nasse Eichel und ließ sie glänzen wie die Glatze von Telly Savalas.“ Entzückend.

„Im Gegensatz zu dieser ganzen modischen, verschwurbelten Vernissage-Prosa“, sagt Wimmer, „bei der auf 400 Seiten partout nichts passiert und die einzigen roten Fäden Ennui und Geschwätz sind, versuche ich, saftige Erzählungen mit viel Tempo, Struktur und Witz zu schreiben. Sozusagen Klolektüre auf höchstem Niveau.“

Zudem hat er ein ziemlich sicheres Händchen für Dialoge, weiß den oberbayrischen Dorfdeppen, den germanophoben Amsterdamer Polizisten oder die in Mexico City gestrandete deutsche Medienmischpoke genauso gut sprachlich in Szene zu setzen wie die immer noch ganz beziehungsduselige Schwäbin aus gutem Haus, die ihrem frisch Verflossenenen hinterhertrauert: „Al und ich, mir wared a Einheit! Mir hadde e Beziehung, in der mer sich jeden Tag neu gsucht und gfunde hat! Und jetzt fühl i mi, als ob i was ganz Wichtigs verlöre hab!“

Und obwohl er eigentlich mit seiner geisteswissenschaftlichen Karriere längst abgeschlossen hat und keine Gelegenheit für eine Sottise ausläßt, kriegt er den akademischen Stallgeruch nicht völlig weg. „Schon richtig, aber ich verwende diese Zitate aus Wissenschaft und Hochkultur doch nur zu einem einzigen Zweck: dem der Persiflage. Aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissen, sind sie für gut 20 Prozent der Witze in den 420 Tagen‘ verantwortlich.“

Zur Zeit sitzt Wimmer an einem weiteren Kurzgeschichtenband über seine Zeit bei „Playboy“ und plant eine längere „Erzählung über eine Mountain-Bike-Tour zu den legendären Drogenzaren der mexikanischen Sierra Madre“.

Niveauvolle Klolektüre ist also auch in Zukunft garantiert.

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