Marianne Faithfull: Tränen des Himmels

Marianne Faithfull präsentierte beim einzigen Konzert in Deutschland einen Gesamtüberbtick ihrer turbulenten Karriere.

Berlin, Zitadelle

Es begann mit einem Ausweichmanöver. Die Veranstalter legten ursprünglich Marianne Faithfulls einziges Deutschlandkonzert des Jahres ausgerechnet auf den 2. Juli, den Tag, an dem auch Leonard Cohen in Berlin auftreten sollte, in der nahezu ausverkauften und mehr als zwölftausend Menschen fassenden O2-World Arena. Die Schnittmenge der Cohen- und Faithfull-Fans erwies sich wohl als zu groß, so dass die Königin des englischen Rock-Jet-Set dem kanadischen Singer/Songwriter Platz machen musste. Umso triumphierender erscheint sie drei Wochen später beim von lärmempfindlichen Nachbarn und Wetterkapriolen geplagtem Citadel Music Festival auf der Open-Air-Bühne der Zitadelle.

Ein schimmernder schwarzer Seidenanzug, lange Perlenkette, das schulterlange blonde Haar elegant frisiert. Die Faithfull verkörpert vom ersten Augenblick an aristokratischen Schick und die zeitlose Eleganz einer Dame im besten Alter, die ebenso gut einer teuren Londoner Galerie vorstehen könnte. Eine Coolness, die sie sich bereits in den 60er Jahren als Muse, Gefährtin und Geliebte der Rolling Stones erwarb. Mit Mick teilte sie bekanntlich das Bett, mit Keith das Heroin. Ein ausschweifender Rock’n’Roll-Lebensstil, der sie einst gefährlich nah an den Abgrund brachte. Vom Glanz und den Tragödien des Schicksals gestählt, kehrte sie später als alles überstrahlende Sängerin zurück.

Neben Joan Baez ist Marianne Faithfull vermutlich die bedeutendste noch lebende Protagonistin der Ära. Ihre Stimme klingt heute reif, rau, vom Alter gezeichnet und dabei doch fest, klar und eindringlich, stets dazu fähig, die Dramatik und Emotion eines Songs auszudrücken. Ob Jazz, Blues, Country, Folk oder Rock – die musikalische Gattung spielt bei ihr keine Rolle, es ist das Innere des Songs, die Kunstfertigkeit, Poesie und Energie der Lieder, die ihr Kraft geben, die Kraft zum Leben und weiterzumachen. Das Lied ist ihr Antrieb, ihr Anker, ihr Heilmittel.

Wenn sie etwa Dolly Partons „Down From Dover“ singt, schwingt die Verzweiflung und Leidenschaft der Country-Ballade gleichwohl mit. In „Solitude“, Duke Ellingtons düster-trauriger Komposition, die durch Versionen von Billie Holiday und Nina Simone berühmt wurde, vibrieren endloser Schmerz und Einsamkeit und Randy Newmans „In Germany Before The War“ durchdringt sie mit solch intensiver Melancholie, dass die Sprichwort liehen Schauer auf dem Rücken einzig ihrer Darbietung geschuldet sind – und nicht den aufziehenden Regenwolken und dem kalten Wind.

Zum Höhepunkt des Auftritts setzt das Schlagzeug mit dumpfem Donner ein, die E-Gitarre schneidet durch die feuchte Luft, die Orgel pulsiert und Faithfull singt „Broken English“, den einen großen Hit, der 1979 ihr Comeback nach Exzess und Depression markierte. Erstmals erhebt sich nun das gesamte Publikum von den Sitzen und jubiliert der kühlen Göttin zu. Wenn das Konzert schon vor „Broken English“ gut war, so ist es danach nur noch großartig. Die siebenköpfige Band um den Multiinstrumentalisten und Arrangeur David Coulter ist grandios besetzt und erzeugt um jeden Song eine spezifische Atmosphäre. Zur bittersüßen „Ballad Of Lucy Jordan“ ertönen sanft Akkordeon und Querflöte, um „Salvation“ vom Black Rebel Motorcycle Club bauen die Musiker eine krachende Gitarrenwand neben swingende Orgelgrooves und während Jackson C. Franks folkigem „Kimbie“ entsteht dank akustischer Gitarre, Kontrabass und Klavier gar ein Moment kammermusikalischer Intimität – und das unter freiem Himmel und vor mehr als 4000 Zuschauern.

Die verzweigten Wege der Popmusik laufen plötzlich Zeit- und Genreübergreifend zusammen an diesem Tag, gebündelt von der Stimme einer 62-jährigen Frau, deren eigenes Leben so eng mit der Musikgeschichte verwoben ist. „Nun gehen wir zurück an den Anfang“, kündigt Faithfull schließlich an – und ein mächtiger Gitarrenakkord spült aufs Publikum hinab, „Sister Morphine“ strömt in all seiner elegischen Güte durch die Ohren und Herzen, und direkt folgend ein weiterer Song aus der Stones-Ära: „As Tears Goes By“, jene Jagger/Richards-Komposition, die den „Engel mit den großen Titten“ einst als Darling Britanniens etablierte.

Im Jubel verlässt die sichtlich frierende Sängerin die Bühne, kommt zurück, „I love you much more“, ruft sie der Menge zu und singt zum Abschied Morrisseys universelles Gebet „Dear God Please Help Me“. Erstmals an diesem Abend regnet es, aber merkwürdigerweise nur für einen Song. Vielleicht sind es auch die Tränen des Himmels, weil Marianne Faithfull in der Dunkelheit verschwand.

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