„Memoiren einer Schnecke“ ist der berührendste Film des Jahres

Adam Elliots rätselhaft-melancholischer Knetfigurenfilm „Memoiren einer Schnecke“ erzählt von all den schönen und hässlichen Seiten des Lebens.

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Einen Vater, wie ihn die Zwillinge Gracie und Gilbert haben, wünscht man jedem Kind. Obwohl Percy Pudel seit einem tragischen Unfall im Rollstuhl sitzt, zeigt der frühere Zauberkünstler seinen Kindern, wie schön das Leben trotz aller Verluste sein kann. Er fährt mit ihnen Achterbahn, liest mit ihnen Abenteuerromane und ist für jeden Spaß zu haben.

„Dad hat immer gesagt, die Kindheit ist wie betrunken zu sein: Alle erinnern sich daran, was du gemacht hast, nur du selbst nicht“, sagt Gracie, als sie auf ihr Leben zurückblickt. Doch entgegen der väterlichen Vermutung weiß sie noch jedes Detail, wenn sie aus dem Off ihre Geschichte und die ihres Bruders erzählt.

Die beiden Zwillinge sind ein Herz und eine Seele, an ihre Mutter, Annie, erinnern sie sich nur aus den Geschichten ihres Vaters. Annie starb bei ihrer Geburt. Ihr Vater versucht dennoch, Gilbert und Gracie zu zeigen, dass die Kindheit die schönste Zeit im Leben ist. Doch das Schicksal meint es nicht gut mit ihnen.

„Memoiren einer Schnecke“ ist (sehr!) trist und schön zugleich

Percy Pudel stirbt im Schlaf, die Geschwister werden getrennt. Während Gracie zu einem kinderlosen Paar kommt, das den Swinger-Lifestyle für sich entdeckt, landet Gilbert am anderen Ende Australiens im Garten Eden der religiösen Fanatiker Appleby, die tatsächlich heilige Äpfel verkaufen und das Jesuskind anbeten.

Gilbert wird mit anderen Pflegekindern zur Arbeit gezwungen und den strengen religiösen Regeln unterworfen. In heimlichen Briefen erzählt er Gracie von diesem tristen Leben und träumt davon, dass sie eines Tages wieder zusammenfinden.

Adam Elliot hat 2004 mit der Stop-Motion-Tragikomödie „Harvie Krumpet“ den Kurzfilm-Oscar gewonnen. „Memoiren einer Schnecke“ ist nach „Mary & Max oder Schrumpfen Schafe, wenn es regnet?“ (2009) sein zweiter abendfüllender
Film, 2025 war er für den Animations-Oscar nominiert.

Die Geschichte spielt in Australien und nimmt Anleihen bei Charles Dickens und J. D. Salinger, entwickelt aus sich selbst heraus aber eine ganz eigene Faszination. Acht Jahre hat der aus Melbourne stammende Elliot mit seinen skurrilen Knetfiguren und selbst gebastelten Kulissen eine eigene Welt mit Bezügen zur Wirklichkeit geschaffen.

Erinnerungen an die „Peanuts“

Man fühlt sich nicht zufällig an die „Peanuts“-Geschichten von Charles M. Schulz erinnert. „Memoiren einer Schnecke“ ist eine melancholische Parabel auf das Leben mit all seinen schönen und hässlichen Seiten.

Während sich Gilbert gegen die religiöse Idiotie der Applebys zur Wehr und dabei sein Leben aufs Spiel setzt, lernt Gracie eine ältere Dame namens Pinky kennen, die, wenn sie nicht einsame Menschen in Pflegeheimen besucht, mit ihrer Lebensfreude für die leichten Momente in Gracies Alltag sorgt.

Aber auch die rüstige Rentnerin kann nicht verhindern, dass sich ihre jüngere Freundin, vom Leben enttäuscht, in Einsamkeit und Selbstmitleid zurückzieht. „Die schlimmsten Käfige sind die, in die wir uns freiwillig begeben“, weiß Pinky aus eigener Erfahrung. Ihre Geschichte wird Gracie Mut, Kraft und Zuversicht geben, eines Tages ihr Schneckenhaus wieder zu verlassen.

„Man kann das Leben nur im Rückblick verstehen. Aber wir müssen nach vorne blicken“, hat Percy Pudel seinen Kindern mitgegeben. Diese Lektion setzt Elliot in einem faszinierenden Film voller Wärme, Liebe und Poesie um.