35 Jahre Tschernobyl

Never Mind The Atomwolke: Wie Musiker auf Tschernobyl reagierten

Die Atom-Katastrophe von Tschernobyl befeuerte das Mega-Festival in Wackersdorf. Ansonsten überließ die progressive Popszene den Anti-WAA-Kampf den „Ökos“. Und den Toten Hosen, die sich vor 120.000 Latzhosen zünftig betranken

Indie-Sounds aus Schweden. Das war im April 1986 der heiße Scheiß zwischen Punk/New Wave und der Old School des vom HipHop erschlafften Rockszenerie. Zumindest für eine Saison lang. Bands wie die Watermelon Men, die Nomads und vor allem die derben Designer-Biker The Leather Nun sprengten locker die vorherrschende Dominanz aus Großbritannien und den USA auf.

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Ein Besuch im beschaulichen Landstädchen Waxholm, das man vom Stockholmer Busbahnhof an der Teknika Högscholan in einer knappen Stunde erreichen konnte. Dort residierte mit MNW das größte unabhängige Label. Auch die Londoner Parade-Adresse Rough Trade hatte hier seinen Vetriebspartner für den skandinavischen Raum. MNW-Boss Jonas Sjoström referierte damals im Schnelldurchlauf über die Geschichte der schwedischen Popmusik. Ähnlich wie in der alten Bundesrepublik hatten die anglo-amerikanischen Pop-Helden die Lufthoheit. Dann kamen Abba; und die Erkenntnis, dass man es auch mit homegrown Charme in die internationalen Charts schaffen konnte.

Es war die Zeit der Fernsprechzellen und verbindlichen Verabredungen. Mobiltelefone waren noch lustige Science-Fiction-Geräte aus „Raumschiff Enterprise“. Auch Computer oder Faxgeräte waren noch nicht im Alltagseinsatz. So zog ich mit Stockholmer Kollegen fern der Heimat und selbstversunken in der blond gelockten Szenerie durch die Clubs und Bars. Und staunte über die astronomischen Bierpreise. Von der Kernschmelze in der fernen Sowjetunion bekam ich in jenen letzten Apriltagen kaum etwas mit. Natürlich erwähnte der eine oder andere DIE WOLKE, die da über das nordöstliche Europa waberte.

Doch ein wirkliches Schockthema war Tschernobyl seinerzeit (noch) nicht. Zumindest nicht in der aufstrebenden schwedischen Indiewelt. Hysteriewellen rollten damals weit langsamer als in der weltweiten Echtzeit-Kommunikation von heute. Und die Schlagzeilen des „Svenska Dagbladet“ oder der Abendzeitung „Aftenposten“ übersah ich geflissentlich. Das massive (Jugend-)Besäufnis auf der Nacht zum 1. Mai, wenn in Schweden traditionell der Frühling eingeschädelt wird, hat jedenfalls nachhaltigere Spuren hinterlassen, als die später manifest werdenden Folgen, dass etwa – gerade in dieser Region – Pilze, Waldbeeren und Wildtiere auf Jahrzehnte hinaus kontaminiert waren. Tschernobyl war kein Pop-Ereignis. Zu Hippie-Grün. Zu Technisch. Fuck Politics, let’s Dance!

Zurück im Rheinland wurde mir dann in der ersten Mai-Tagen – nach 24-stündiger Zugfahrt via Kopenhagen – das ganze Ausmaß der Katastrophe klar. Begrüßt wurde ich mit Geigerzähler-Witzen. Schweden lag schließlich in der Länder-Top-Five des mittlerweile international erstellten Gefahren-Szenarios. Doch auch in den folgenden Wochen und Monaten wollte in der progressiven Kulturszene kein „Tschernobyl-Bewusstsein“ aufkommen.

Natürlich haben auch Ex-Punks wie Die Toten Hosen in Wackersdorf gespielt – und sich dort im Umfeld der versammelten Deutschrocker zünftig besoffen. Und auch die Düsseldorfer Elektro-Kollegen von Kraftwerk haben, irgendwann später, ihr ursprünglich Technologie-begeistertes „Radioaktivität“ zum Anti-Atom-Track umgedichtet; was wir seinerzeit ziemlich lasch und weichgespült fanden.

Aber die internationale Afrika-Kampagne von 1985 – mit dem zweifelhaften deutschen Beitrag „Nackt im Wind“, gegen den nicht nur Fehlfarben-Boss Peter Hein polterte – hatte weit mehr Staub in der Kulturwelt aufgewirbelt. Die Anti-Latzhosen-Attitüde aus den Postpunk-Tagen mit dem emblematischen Track der rheinischen Avantgarde-Band SYPH, „Zurück Zum Beton“, wirkte hier noch nach.

BAP, Wolf Maahn, „Karl, der Käfer“ und die ganze Wackersdorf-Nummer war einfach zu weit weg – so von der Haltung und Ästhetik her. Aus heutiger Sicht sicherlich sehr overstyled und auf subkulturelle Distinktion bedacht. Doch so war das damals – in den Achtzigern.

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