Parole Brandi: Selbsthass und Badass-Schule. Zurück in die 00er-Jahre
Unsere Kolumnistin erinnert sich an die Zeit von Wickelrock und Klapphandy.
Wenn man mich früher gefragt hätte, was ich in diesem Leben mal erreichen will, wäre die ehrliche Antwort gewesen: Eine dickere Haut kriegen. Mehr aushalten können. Nicht mehr so verdammt unsicher sein. In meinem Kopf war meine Unsicherheit quasi das einzige Hindernis auf dem Weg zum Glück. Kein Opfer der Umstände mehr sein, sondern selbst was schaffen und endlich selbstbewusst werden.
Aber wie es so schön heißt: Alles hat seinen Preis. Biste zum Beispiel monogam vergeben, biste nicht mehr frei. Haste endlich Geld, wirste bequem. Entwickelst du dich weiter, geht immer irgendwas verloren.
Letztens habe ich eine alte Freundin wiedergetroffen. Und das hat eine Reihe Erinnerungen ausgelöst, auf die ich nicht vorbereitet war. Wir saßen gemeinsam am Abendbrottisch zusammen mit ihrem Mann D, der ein alter Kumpel von mir ist, und den zwei Kindern. Und wir erinnerten uns an die Zeit um 2002. Da war ich erst zarte 17 Jahre alt und an eine Clique aus Leuten geraten, zu denen ich ziemlich schnell aufschaute. Dann holte D einen Karton mit Fotos vom Regal. Und als ich mich selbst und all die anderen auf den Bildern Grimassen schneiden sah, kam alles zurück.
Traumstadt Osnabrück
Es waren die 00er-Jahre: Klapphandys, abgesplitterter Nagellack, 7/8 Leggins unter petrolfarbenen Kittelkleidern und wir fühlten uns mies. Und gleichzeitig war ich nie wieder so oft verliebt – und wohl auch nie wieder so heftig. Etwa in den einen, in dessen WG in Dortmund ich als Anhängsel bis zum Abitur und darüber hinaus mitwohnte. Das waren die letzten Jahre, in denen man noch kochte und Spiele spielte, Filme guckte und gemeinsam irgendwohin in den Urlaub fuhr, ohne dass ständig die Aufmerksamkeit durch das iPhone zerhackt wurde.
Der nächste Freund wohnte auch in er einer WG, diesmal in Osnabrück – „einer Stadt, in der Träume Träume bleiben“, wie mal jemand gesagt hat. Für mich war Osnabrück aber mein Zauberland. Ein Ort, an dem es sich eine WG aus Nerds in einer geräumigen Wohnung mit großer Terrasse direkt am Ring gemütlich gemacht hatte. Ob es daran lag, dass unsere Gemüter noch langsamer getaktet waren, oder unsere Herzen sich auf nicht mehr als fünf Männer auf einmal konzentrieren mussten, aber dort gab es in den guten Momenten das, was sich heute viele ratlose Philosoph:innen aus den Fingern saugen, wenn sie nochmal beschreiben sollen, was dieses „Glück“ eigentlich ist, von dem immer alle reden.
Die Badass-Schule
Die WG am Ring war ein seltsames Gemisch aus Typen, die zum Teil einem Studiengang nachgingen, der sich angeblich eines Tages mit „künstlicher Intelligenz“ befassen würde. (Was zu diesem Zeitpunkt quasi so abgefahren klang, als hätte jemand gesagt, er würde „Zeitreisen“ studieren.). Durch die laue Sommerluft bahnten sich manche Nächte, in denen (teilweise mit chemischer Unterstützung) auf besagter Terrasse quasi durchgeredet wurde und skurrile Lösungen für Probleme gefunden wurden, von denen vorher niemand wusste, dass es eigentlich Probleme waren. Ich glaube, dass dort viele Dinge erfunden wurden, die es mittlerweile gibt. Zum Beispiel das Meta-Verse oder ein Spiegel, der einem antwortet. Aber auch richtig abgefahrene Dinge.
Es war eine Schule im selbstständigen Denken. Jedenfalls nahm ich dummes, junges Ding das damals so wahr, und war todesverliebt in meinen damaligen Freund. Der kam auch noch aus Rumänien, was in meiner Welt einem Gütesiegel gleichkam, von wegen der ganzen Blasmusik und dem Badass-Sein, noch nicht vom Kapitalismus rettungslos verweichlicht wie der Rest von uns.
„Wir haben uns alle gehasst.“
Zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben hatte ich noch kaum etwas geschafft außer einem beachtlichen Abitur. Aber das zählt ja bekanntlich nicht (vor allem nicht in NRW). Und so staunte ich viel über die schöne C, die süße A, die burschikose L, den lustigen D und den coolen U. Und ich selber kam mir inmitten dieser charismatischen, schlauen, witzigen Leute tatsächlich eher zickig und hässlich vor.
Die süße A schrieb mir auf diese rückblickende Erkenntnis hin nach dem gemeinsamen Dinner tröstend: „Das waren die Nuller-Jahre! Wir haben uns alle gehasst.“ Aber ich bin mir da nicht so sicher. Haben sich wirklich alle gehasst? Die Jungs jedenfalls wirkten nicht so. Die wirkten nicht so, als würden sie von Selbstzweifeln zerfressen und heimlichen Essstörungen innerlich zerrüttet in jedes unserer Treffen gehen und bangen, wahrgenommen zu werden. Oder fürchtend, ausgelacht zu werden, falls einer von ihnen „was Dummes“ sagen würde.
Wenn ich an die Charlotte von 2006, 2007 oder 2008 denke, sehe ich eine Person, die sich ihrer Außenwirkung nicht mal im Ansatz bewusst war, die nachts mit fortschreitender Zeit verzweifelt in das Futon ihres Freundes geheult hat, weil sie ums Verrecken nicht wusste, wie sie dieses verdammte Leben anpacken sollte, keinen Plan hatte, nur so eine diffuse Angst, im Kern Musikerin zu sein und das jetzt irgendwie durchziehen zu müssen, na toll.
Die innere Sicherheit
Ohnmacht und Selbstzweifel waren so fest eingeschrieben in die eigene DNA, dass hunderte, wenn nicht tausende Nächte zusammen in weiblicher Gesellschaft dafür draufgingen, um über Männer zu reden, ihr Verhalten oder ihre Worte zu deuten, ihnen abwechselnd Gutes oder Böses zu attestieren. Am Ende machten wir uns immer gegenseitig tapfer Komplimente, um den eigenen, tiefsitzenden Schmerz, eine unzulängliche, fehlerhafte, vor allem hässliche Frau zu sein, in der anderen zu heilen. Was natürlich nicht funktionierte.
Wie viele Häutungen, Umzüge, Jobs, Städte, Wohnungen, Männer- und Frauenfreundschaften, Auftritte, Engagements, Bands, Verhandlungen, Konflikte, Erfolge und Studioaufenthalte und Alben ich damals noch entfernt war von mir selbst und meiner inneren Sicherheit. Das ist heute entschieden besser als damals.
Aber diese jüngere Version meiner selbst war auch noch meilenweit entfernt vor dem aktuellen Hirn-Rot des iPhones…
Damals waren die Nächte lang und die Tage voll und unsere Herzen schlugen aufgeregt bei jedem unserer Treffen. Wir haben uns aneinander abgearbeitet, uns zusammen kaputtgelacht und uns trotzdem nichts durchgehen lassen. Es gab eine Regelmäßigkeit des Zusammenseins und es war nie sicher, ob das gut ausgehen würde. Aber genau das hat einen belebt und wach gehalten.
Das Zeitalter der Adidas-Hose
Mit diesen Leuten habe ich meine Schlagfertigkeit geschult und die erste, zarte Hornhaut auf meiner Seele wachsen lassen. Irgendwann hat sich alles auseinander gelebt, mir kann man das äußerlich auch ganz gut ansehen. Heute trage ich nach Möglichkeit keine Wickelkleider mit Leggins mehr, sondern gerne Adidashosen mit Seidenblusen. Damals hätte ich mich „nie im Leben“ tätowieren lassen, heute bin ich, je nach Blickwinkel, einigermaßen zugehackt. Damals war es der Normalste der Welt, dass mein Wert von der Meinung anderer abhing. Heute, äh – könnt ihr gerne über mich denken was ihr gerne denken möchtet, die Gedanken sind frei, haha.
All diese Entwicklungen fühlen sich richtig an. Und trotzdem. So intensiv wie damals wird die Welt wahrscheinlich nicht mehr. Und das ist doch traurig.