Parole Brandi: Theater wie Yoga im Fußballstadion

Unsere Kolumnistin schaut auf die Bühne – und sieht die Welt mit anderen Augen.

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Ich arbeite immer wieder mal am Theater. Und ich stelle mir jedes Mal dieselbe Frage. Wahrscheinlich treibt diese Frage die Menschheit um, seitdem der erste Typ auf einer Apfelsinenkiste ein Gedicht aufgesagt hat: Was brauchen wir eigentlich dringender: Theater, das unterhält, oder Theater, das provoziert?

Gute Unterhaltung!

Ich durfte kürzlich unter dem (männlichen, weißen) Intendanten eines süddeutschen Hauses höchstpersönlich arbeiten, was mich erstmal sehr gefreut hat. Aber schon bald fühlte ich mich irgendwie seltsam. Und dann kann ich drauf, was es war: Es gab so gar kein Drama und meine neuen grauen Haare mussten mir meine anderen Lebensbereiche bescheren … Warum nur lief hier alles so reibungslos ab? Ich kannte Theaterarbeit so nicht.

Bald darauf wurde mir das Offensichtliche klar: Da, wo andere Regisseur:innen mit weniger Prestige schonmal von einer sich auftürmenden Welle aus Misstrauen hinfortgespült werden, bleibt unter der väterlichen Hand des Haus-Chefs alles entspannt und heiter. Dieses Stück unter dem Duce, dem Leiter, dem Boss, verströmte gewissermaßen die Ruhe und die Festlichkeit eines Toskanaurlaubs und mir wurde klar: Männliche Autorität von höchstem Rang stellt ihr Umfeld ruhig. Warum, keine Ahnung. Scheint die Menschheit dran gewöhnt zu sein.

Aber für so ein smoothes Gelingen sollte sich nicht nur die Autoritätsfigur nach althergebrachtem anfühlen, es ist der allgemeinen Gemütslage außerdem zuträglich, wenn eine Stadt viel Geld hat und ihr Theater mit seinem Publikum einen Tauschhandel eingegangen ist: Das Theater unterhält, die Leute kaufen fleißig Karten – alle sind happy. Nothing wrong with that!

Aber geht es im Theater eigentlich um eine entspannte Gemütslage?

Ein bisschen Reibung

Es gibt nämlich auch Orte, da ist die Reibung Stadt vs. Theater eine ganz andere.

Schwenk nach Dortmund.

In Dortmund läuft seit fünf Jahren etwas, was man leicht zynisch als „Versuchsanordnung“ betrachten könnte: eine junge, Schwarze Frau, nämlich Julia Wissert, ist dort Intendantin und macht inklusives, anti-rassistisches Theater.

Mir war übrigens nicht klar, dass sich natürlich alle Intendant:innen Deutschland kennen, weil die regelmäßig so ein Treffen auf dem Blocksberg haben und da Intendantensachen besprechen. Aber isso. Ich tippe mal, es werden bei diesen Treffen vor allem Zuschauer:innenzahlen verglichen.

Jetzt gibt es folgendes Problem: Nicht-weiße Frauen dürfen, egal wo sie hinkommen, bestimmt einiges, nur bitte nicht auf strukturelle Diskriminierung oder gar am eigenen Leibe erlebten Rassismus aufmerksam machen. Das stört.

Diskriminierung? Wir?!

Ich kenne meine Heimatstadt Dortmund ganz gut und der Versuch, dort inklusives, anti-rassistisches Theater zu machen, ist in schlechten Phasen etwa vergleichbar mit dem Versuch in einem Fußballstadion während des Heimspiels einen Yoga-Kurs anzubieten – theoretisch absolut sinnvoll, würde die alkoholverseuchten Lymphen entschlacken, den aufgepeitschten Atem regulieren und die aus der Form geratenen Körper straffen – praktisch gesehen wirkt das Vorhaben als Ganzes auf die Anwesenden eher irritierend.

Genialerweise hat Wissert (und das wissen die wenigsten) zu diesem Thema schon vor Jahren etwas sehr Kluges erfunden. In Zusammenarbeit mit einigen Kolleg:innen erstellte sie die „Anti-Diskriminierungsklausel“ – ein ziemlich revolutionäres Vertragswerk. Es verpflichtet Theater, Diskriminierung nicht unter den Teppich zu kehren oder eine/n Schuldigen zu suchen, sondern institutionell zu bearbeiten.

Ein wichtiger Schritt für die Menschheit und eine überfällige juristische Stütze – möchte mensch meinen. Nicht jedoch so ohne weiteres in Dortmund. Hier wirbelt so eine Klausel exakt den unangenehmen Staub auf, der sich seit Jahrzehnten so schön über die verkrusteten Ismen legen konnte. „Wir sind doch keine Nazis!“ wurde da verletzt entgegnet.

Nach solchen anfänglichen Startschwierigkeiten, denen Julia Wissert mit ungebrochener Leidenschaft, Kampfgeist und Ruhe begegnet ist, steigen jetzt in Dortmund die Zuschauer:innenzahlen, was eine kleine Sensation ist, wenn mensch bedenkt, dass wir hier eben nicht in Berlin sind, wo es traditionell ein breites Publikum für progressives Gedankengut gibt.

Das liegt meiner Einschätzung nach an ein paar starken Alleinstellungsmerkmalen des Hauses, auf die sich die Bewohner:innen der Stadt langsam einzulassen scheinen.

Einmal müssen die Inszenierungen natürlich im Schnitt gut sein.

Das berühmte innere Kind

Das letzte gute Theaterstück, das ich überhaupt gesehen habe, wurde zum Beispiel in Dortmund (ur-)aufgeführt. Es hieß „Der Dämon in dir muss Heimat finden“. Es erzählt von Mandy-Galadriel, einer gescheiterten Singer-Songwriterin und Paketshopbetreiberin, die hochverschuldet und trotzig den Ernst des Lebens verweigert. An ihrem 30. Geburtstag lassen sie und ihr aus dem Bestseller von Stefanie Stahl bekanntes inneres Kind sich auf einen Guru ein, doch was als esoterische Selbsthilfe beginnt, entpuppt sich als groteske Reise durch die Abgründe neoliberaler Geschäftemacherei.

Dieses Stück hatte alles, was ich sonst oft am Theater vermisse: Zeitgeist, Ironie, Tempo, Spielwut. Ich war sofort Fan von dieser Lola Fuchs, die den Abend nicht nur inszeniert, sondern auch selbst geschrieben hatte. Ich beschloss, sie darüber auszufragen, wie es für sie sei, schreibende Schauspielerin und nun auch Regisseurin in Dortmund zu sein.

In meinem Lieblings-Oma-Café im Dortmunder Osten tranken wir Kaffee und redeten gute zwei Stunden lang. Erwartet hatte ich eine abgebrühte, vielleicht auch arrogante Frau, treffen durfte ich hingegen eine höfliche, nachdenkliche, lustige und mitunter stark zweifelnde Künstlerin, mit der ich mich erfreulich gut identifizieren konnte.

Theater. Next Generation

Ich bin es von klein auf gewohnt, mich dem männlichen Blick anzupassen. Der Bühnenheld: männlich. Die Heldin: bildschön. Die Story: ein weiterer Faden im großen Autoren-Makramee, die Fortsetzung einer Fortsetzung, das Zitat eines Zitats, ein sich-berufen auf die großen Stimmen der Menschheit, Shakespeare, Kleist, Büchner. Ich kann es nicht mehr hören.

Im Gespräch mit Lola habe ich versucht, ihr einen ähnlichen Überdruss den alten Meistern gegenüber zu entlocken. Aber sie stimmte mir nicht zu. Sie möge Kleist, sagte sie und nippte lächelnd an ihrem Kaffee. Nach und nach gewann ich den Eindruck, dass sie es gar nicht nötig hat, sich hart zu positionieren. Und dass genau dort ihre Poesie beginnt, wo politische Schablonen nicht mehr hinreichend funktionieren.

Sie ist 30 Jahre alt und beobachtet ihre Generation viel genauer und verspielter als es männliche Kollegen über 50 naturgemäß überhaupt in der Lage wären zu tun. Individuelle Befindlichkeiten sucht man in ihren Stücken vergebens, stattdessen überzeichnet sie ihre Figuren oft ins Groteske. Dass ihre Stücke trotzdem oder gerade deshalb so überzeugend sind, beweist auf erschütternde Weise, in was für Zeiten wir leben.

Wie mit einer neuen Brille verlieh Lolas Blick mir die Klarheit, mit der ich den Kapitalismus mal wieder als das sehen konnte, was er ist: als allgegenwärtiger Feinstaub in unseren Seelen, der sich bis in unsere intimsten Bereiche frisst, um selbst dort noch Kapital draus zu schlagen.

Futter in der Selfhelp-Falle

Prompt muss ich hier beim Gespräch natürlich die Gelegenheit nutzen und mal abgleichen, ob ich ein Stück auch „richtig verstanden“ habe. Also frage ich, was Lola eigentlich so bei den Zuschauenden auslösen will? „Joa, dass man belebt aus so einem Abend geht“, antwortet sie nach kurzem Nachdenken und ich kann bestätigen, exakt so hatte ich mich nach dem Abend gefühlt. Als hätte Lola Fuchs einen übersehenen Winkel in der Welt gefunden, auf den sie ein grelles Schlaglicht wirft, null moralisierend oder sonst irgendwie langweilig, sondern in Form einer extrem lustigen, multimedialen Geisterbahnfahrt.

Die Themen, die sie in mir freilässt, lässt sonst grade niemand in mir frei. Entschuldigung, aber was gehen mich die quälenden Monologe von Alkmene und Amphitryon an? Ich vegetiere meinerseits in mehreren, kostenpflichtigen Selfhelp-Fallen vor mich hin. Und in meinem Leben entstehen währenddessen immer mehr Bedeutungslücken.

Theater als politisches Experiment

Und langsam schält sich in mir eine Antwort auf die Ausgangsfrage heraus: Theater, was Relevanz für sich beansprucht, braucht genau so eine thematische Bodenhaftung. Wo sind wir hier, was ist los, wem geht es gerade wie?

Julia Wissert habe ihr die Möglichkeit gegeben, selbst nicht nur zu inszenieren, sondern auch zu schreiben, sagt Lola Fuchs, die vormals Ensemblemitglied im Dortmunder Schauspiel war.

Nicht zuletzt zeugt es von einem flachen Hierachieverständnis, als Intendanz einer Schauspielerin gleich zwei eigene Stücke anzuvertrauen, solche Chancen zu vergeben.

Das Dortmunder Schauspielhaus ist durch Julia Wissert zu einem politischen Experiment geworden, was mehr und mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht und was ich und viele andere mit großer Spannung verfolgen. Ja, es ist mittlerweile sogar einer der Gründe, weshalb ich überhaupt noch hier lebe und nicht schon längst wieder weiter gezogen bin. Weil sein Spielplan im besten Sinne etwas von den Leuten will, weil es ihnen heutige Blickwinkel zeigt, die woanders vom immer selben Schulstoff verdrängt werden. Es schenkt dieser Stadt Themen, Texte, Stücke und Stimmen von deren Aktualität und Radikalität andere Häuser in besseren Gegenden nur träumen können.

Oft behauptet Theater nur, dass es gebraucht wird – Dortmund hat sein aktuelles Theater in der Tat dringend nötig.

Charlotte Brandi schreibt freiberuflich unter anderem für ROLLING STONE. Weitere Artikel und das Autorenprofil gibt es hier.