Philips Beschwerden

April 2002 Sex, Jazz und Amerika: Ein Besuch beim galligen Misanthropen Philip Roth.

Finden Sie? Eines können Sie mir jedenfalls glauben: Noch einen Winter in dieser gottverdammten Einöde stehe ich nicht durch.“ Philip Roth reagiert unwirsch, wenn man ihm Komplimente zu seinem Anwesen in Connecticut macht. Etwa zwei Autostunden von New York City entfernt, lebt der Schriftsteller allein in einem mehrfach umgebauten Farmhaus aus dem 18. Jahrhundert, einem jener weißen Holzschindelpaläste, wie man sie von den Gemälden Edward Hoppers kennt. Die wenigsten von Roths Nachbarn betreiben noch Landwirtschaft. Hier wohnt, wer seine Ruhe haben will, ohne auf gelegentliche Ausflügen ins nahe New York verzichten zu müssen. Der Schauspieler Richard Widmark zum Beispiel, den Roth mitunter in einem der wenigen Restaurants der Gegend trifft. „Der alte Narr hat mit über 80 noch einmal geheiratet, und jetzt ist er todunglücklich, weil er nicht mehr den ganzen Tag lang Baseballspiele im Fernsehen anschauen darf. Selber schuld – was hat er erwartet?“

Philip Roth empfängt mich an der Einfahrt und geht mit mir zunächst zu seinem Briefkasten an der Straße, einer Metallröhre auf einem Holzpfosten, der – den Lackspuren nach zu urteilen – Opfer eines Serientäters wurde. Roth kommentiert die mangelhaften Fahrkünste seines Postboten und erzählt, einmal habe er auf dem Nachbargrundstück einen riesigen Plastikdildo gefunden. „Das hat mich interessiert. Wer fährt hier in der Gegend herum und versucht, auf die Schnelle einen großen Dildo loszuwerden? War es eine Frau, die mit ihrem Geliebten zusammenzog und den Dildo aus dem Auto warf, weil sie sich nicht traute, das Ding ganz einfach in den Hausmüll zu stecken?“

Von der Idee, vielleicht habe ihm ein Leser auf diese Weise seine Reverenz erweisen wollen, will Roth nichts wissen. Zwar hat keiner genauer die Landkarte sexuellen Begehrens vermessen als Roth, der mit „Portnoys Beschwerden“, dem Roman über den gegen die Konventionen seiner Zeit und seiner jüdischen Familie anstürmenden Alexander Portnoy, seinen ersten und im Grunde einzigen richtigen Bestseller in den USA landete. Aber das war 1969, und um einen bloßen Verstoß gegen den guten Geschmack, das Entlarven einer verlogenen Moral ist es Roth nie gegangen.

„Außer bei einigen heuchlerischen Journalisten können Sie heute niemand mehr mit Sex schockieren. Die wahren Tabubrecher hießen James Joyce, Henry Miller und Vladimir Nabokov. Ich habe keine Tabus gebrochen, sondern bestenfalls einige Konventionen. Nein, die Zeiten, wo Literatur solche Reaktionen auslöste, sind lange vorbei. Lesen und Schreiben sind im Amerika von heute einfach nicht mehr so wichtig. Ich lebe allein hier. Ab und zu fahre ich einige Meilen zum Friseur, wo eine nette Frau namens Laura mir die Haare schneidet und manchmal ein paar Artikel über mich aus den bunten Illustrierten aufhebt. Das ist so ungefähr das Niveau, auf dem ich mich hinsichtlich literarischer Gesellschaft seit Langem bewege. Und das ist mir auch ganz recht so.“

Ob dieser letzte Satz wirklich so gemeint ist, bleibt offen. Später wird Philip Roth erzählen, er habe sich sein Leben im Alter anders vorgestellt. „In jedem Fall habe ich nicht geglaubt, dass ich ohne eine Gefährtin mutterseelenallein in diesem Haus sitze. Das überrascht mich, offen gestanden, ein bisschen.“

Jetzt, während er die Post durchsieht und über die harten Winter Connecticuts schimpft, sieht sich Roth immer wieder kurz um, als rechne er mit einem Eindringling, der ihn hier in seinem Garten zur Rede stellen will. „Ich wirke wohl etwas paranoid“, entschuldigt er sich. „Vor einigen Tagen habe ich in der Nähe einen kleinen Bären gesehen, und seither gebe ich lieber etwas acht, wenn ich mich draußen aufhalte. Wir wollen doch nicht zwischen eine wütende Bärenmutter und ihr Junges geraten. Gut, es sind zwar nur Braunbären und keine Grizzlies, aber auch so ein Braunbär kann ganz schön eklig werden.“

Dass auch mit Philip Roth nicht immer gut Kirschen essen ist, diese Erfahrung haben sehr viele Menschen machen müssen. Seit 1994 seine Ehe mit der Schauspielerin Claire Bloom auseinanderbrach und sie ihre Autobiografie „Abschied aus dem Puppenheim“ veröffentlichte, in der sie ihn als zynischen Narziss und herzlosen Geizhals schilderte, klammert er sein Privatleben bei Gesprächen aus. Andererseits wissen Roth-Leser ohnehin so gut wie alles darüber, denn das autobiografische Element nahm in seinem Schreiben immer schon extrem breiten Raum ein. Roths Retourkutsche auf Blooms Schmähschrift ließ denn auch nicht lange auf sich warten. Sein Gegenschlag erfolgte 1998 in Form einer Binnenhandlung in dem Roman „Mein Mann, der Kommunist“, in der eine Bloom ähnelnde Figur als berechnendes, stets auf den eigenen Vorteil bedachtes Miststück auftaucht. Am Ende stand es zwei zu eins für Roth in der Schlammschlacht nach der Scheidung, und seine Leser durften nun die schönste, weil sicherlich kunstvollste Rache in der zeitgenössischen Literatur genießen.

Mit „Der menschliche Makel“ liegt nun der abschließende Band von Philip Roths amerikanischer Trilogie auf Deutsch vor. Erst jetzt wird die ganze Kühnheit erkennbar, mit der Roth in einem Alter, wo andere Autoren sich mit bloßen Nachschriften, Ergänzungen und Variationen ihrer Lebensthemen begnügen, einen radikalen Neuanfang riskierte. Bis in die 80er-Jahre hinein drohte er sich mit Romanen wie „Gegenleben“ und „Operation Shylock“ in einem selbstgeschaffenen Spiegellabyrinth der Postmoderne zu verlaufen. Jetzt hat er die letzten 50 Jahre amerikanischer Zeitgeschichte zu seinem Stoff gemacht und damit die Bilanz jener Epoche geschrieben, die als amerikanisches Jahrhundert zu bezeichnen angesichts der weltweiten totalen Kapitulation vor dem american way of life eine Untertreibung wäre. Nichts weniger als die Frage, was die amerikanische Identität denn ausmacht, „wie wir wurden, was wir sind“, wie Roth es ausdrückt, steht im Zentrum der Romantrilogie.

Dass Roth ausgerechnet mit seiner bekanntesten Figur, dem Schriftsteller Nathan Zuckerman, diese Erkundung neuen Terrains gelingt, kommt Münchhausens Kunststück nahe, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Zuckerman ist Roths Alter Ego seit dem 1979 erschienenen „Der Ghostwriter“ und taucht auch in einer Reihe anderer Bücher vor der Trilogie auf. Von allen seinen Figuren ist Nathan Zuckerman jene, die am meisten Züge ihres Schöpfers Philip Roth trägt: Er teilt mit Zuckerman nicht nur die Stationen seiner Biografie, den Geburtsort Newark, später dann Chicago, New York und nun Connecticut, sondern auch die Höhen und Tiefen einer einzigartigen Schriftstellerlaufbahn.

Gerade hat Roth in den USA „Das sterbende Tier“ veröffentlicht, eine Novelle um die Liebesaffäre einer 24-jährigen Amerikanerin kubanischer Abstammung namens Consuela Castillo mit dem 62-jährigen Erotomanen David Kepesh, Roth-Lesern aus Büchern wie „Die Brust“ und „Der Professor der Begierde“ bekannt.

„Das sterbende Tier“ ist ein Satyrspiel, eine brillante Meditation über männliche Sexualität. Und wie immer gelingt es Roth, auch noch dem vorausahnendsten Lesern souverän den Teppich unter den Füßen wegzuziehen. „Nach der politischen Geschichte der Vereinigten Staaten wollte ich etwas über die sexuelle Geschichte dieses Landes schreiben. Außerdem hatte ich nach drei Zuckerman-Romanen diesen inkontinenten und impotenten Erzähler einfach satt. Es ist kein Spaß, aus der Perspektive eines Mannes zu schreiben, der ständig Windeln tragen muss. Und so kam ich auf Kepesh zurück, den ich zur Zeit des Erzählens 70 Jahre alt sein lasse und der sehr offen aus seiner Sicht über Sex, Altern und Sterben, Freiheit und Ehe redet. Consuela dagegen ist eine dieser jungen Frauen, die einerseits ganz und gar konventionell sind und sich anderseits der sexuellen Freizügigkeit einer Kleopatra erfreuen. Das hat mich brennend interessiert.“

Mit sichtlichem Besitzerstolz üuhrt mich Roth durch den uralten Bestand an knorrigen Apfelbäumen, Eschen und Ahorn, zeigt den Swimmingpool, in dem er seit einer Bypass-Operation vor einigen Jahren regelmäßig seine Bahnen zieht, und erläutert eine grabenähnliche Vertiefung in dem weitläufigen Garten, wo die alte Landstraße verlief, die im 19. Jahrhundert einige hundert Meter verlegt wurde.

Schrundig wie Gramfalten sehen die von den Rädern der Kutschen und Karren vergangener Zeiten tief ins Erdreich gegrabenen Furchen aus. Philip Roths Gesicht dagegen ist glatt und sonnengegerbt. In blauem Polohemd und beigen Chinos wirkt er erstaunlich athletisch für sein Alter, eher wie ein in die Jahre gekommener Baseballcoach denn wie ein Mensch, der sein Leben allein an einem Schreibtisch verbracht hat. Nach der obligaten Schlossführung sitzen wir im Garten in einem von mehreren eigenartigen Gebilden aus Holz und Gazegitter, die wie große Mario-Merz-Iglus aussehen und den Zweck haben, Insekten abzuhalten. Roth hält sich gern im Freien auf. Nach seiner Herzerkrankung absolviert er diszipliniert ein beachtliches Fitnessprogramm, zu dem ausgedehnte Spaziergänge durch die hügelige Landschaft rund um sein Haus in der Nähe von Warren in Connecticut gehören. Auch in dem kleinen Nebengebäude, das einst als Kutschenremise diente und wo Roth heute arbeitet, steht direkt neben dem Schreibtisch ein täglich benutzter, moderner Heimtrainer.

Früher wohnte in dieser Gegend Washington Irving, der mit „Rip Van Winkle“ für die Erfahrung der amerikanischen Revolution die bis heute gültige literarische Form fand. Wenn Roth über solche literarischen Vorläufer spricht, ist das mehr als bloße Ahnenverehrung. „Für mich ist Literatur eine Religion, aber keine Ersatzreligion – die andere, das, was man gemeinhin als Religion bezeichnet, das ist für mich der Ersatz.“ Was nach dem solipsistischen Glaubensbekenntnis eines selbsternannten Schöpfer-Gottes klingt, ist ganz handwerklich gemeint. In seinem Essayband „Reading Myself and Others“ hat Roth einmal geschrieben, der Unterschied zwischen Realität und Fiktion laufe für ihn auf den Unterschied zwischen der Welt des Geschriebenen und der Welt des Unbeschriebenen hinaus.

Im Gespräch erläutert er: „Ich für meine Person kann mir nicht vorstellen, nur in der Welt des Unbeschriebenen, der sogenannten Wirklichkeit zu leben. Die meisten Menschen tun das zwar, und vielen reicht das auch vollauf, aber als Leser und als Autor brauche ich die Welt des Geschriebenen, um überhaupt eine Perspektive auf die unbeschriebene Welt entwickeln zu können. Die unbeschriebene Welt ist entweder Chaos, das niemand versteht, oder man stülpt ihr eine Ordnung über, die dem eigenen Wahrnehmungsmuster entspricht. Die allerbesten Autoren organisieren die geschriebene hingegen nach einem anderen Wahrnehmungsmuster, das viel spannender ist als das eigene. Das eigene Wahrnehmungsmuster ist dazu da, einen den Tag überstehen zu lassen. Wer aber das Glück hat, nicht nur an den aktuellen Tag denken zu müssen, und noch überschüssige Energie für andere Dinge aufbringt, der wendet sich an die geschriebene Welt, um so die Welt oder zumindest die eigene Wahrnehmung davon irgendwie anders zu organisieren.“

Auf Roth selbst angewandt, heißt das: Wer heute erfahren möchte, wo der Puls Amerikas schlägt, was dieses Land, das keine durch tribalistische Blutsbande – wie fiktiv diese in der Realtität auch sein mögen – definierte Identität besitzt, sondern in einem kontinuierlichen Prozess der Selbstvergewisserung eine solche Identität immer erst neu schaffen muss, kann keine bessere Auskunftsquelle finden als die drei jüngsten Romane Roths. Binnen vier Jahren legte er mit „Amerikanisches Idyll“, „Mein Mann, der Kommunist“ und „Der menschliche Makel“ ein Werk vor, wie es in der Gegenwartsliteratur diesseits und jenseits des Atlantiks kein zweites gibt. Sein Thema sind die Triumphe und Niederlagen der amerikanischen Selbstfindungsprozesse der letzten 50 Jahre, oder wie es in „Der menschliche Makel“ einmal heißt: „Das Drama hinter der amerikanischen Geschichte, das große Drama, das der Aufbruch und das Fortgehen ist – und die Energie und die Grausamkeit, die dieser verzückte Drang erfordert.“

So wurde ausgerechnet Philip Roth, der seit seinem gefeierten Debüt „Goodbye, Columbus“ von 1964 in immer neuen Anläufen die Brüche und Widersprüche im eigenen Ich als Jude und Amerikaner ins Zentrum seiner Bücher stellte und bis zur Selbstentblößung preisgab, zum Chronisten und Kommentator der amerikanischen Zeitgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg. „Der Plan für das erste Buch der Trilogie geht bis in die 70er-Jahre zurück“, so Roth im Rückblick. „Aber damals fehlte mir die Distanz zu meinem Stoff – die 60er-Jahre, der Vietnamkrieg, die Demonstrationen, Nixon, das alles hatte ich noch nicht wirklich so weit verarbeitet, um darüber schreiben zu können. Aber als ich diesen Stoff in den 90er-Jahren dann für „Amerikanisches Idyll“ wieder ausgrub, geschah für mich etwas ganz Verblüffendes. Ich hatte den Eindruck, Neuland zu betreten, etwas zu versuchen, an das ich mich bislang nie herangetraut hatte. Noch nie hatte ich historische Abläufe so stark in eine Romanhandlung einbezogen, ein Buch so offen für Geschichte gehalten. Und weil mir das Schreiben großen Spaß machte und ich mit dem Ergebnis zufrieden war, überlegte ich mir: Was waren denn die anderen historischen Umwälzungen, die du aus eigener Anschauung kennst?“

Roth wählte als historischen Hintergrund für die beiden folgenden Bücher der Trilogie die Kommunistenhatz der McCarthy-Ära in den 50er-Jahren und den von Republikanern inszenierten Tugendterror der Clinton-Lewinsky-Affäre 1998. Und wie schon in „Amerikanisches Idyll“ versteht er es, aus dem politischen Moment zwingende Romanhandlungen zu entwickeln. Anders etwa als sein Schriftstellerkollege Gore Vidal gibt er sich dabei nicht mit dem Malen dröger Genrebilder aus dem politischen Washington zufrieden.

„Mir kam es darauf an, dass sich diese historischen Ereignisse im Leben einfacher Menschen spiegeln, sie wirken wie ein Filter für das größere Geschehen der nationalen Geschichte. Wenn etwa Suede Levov, meine Hauptfigur in „Amerikanisches Idyll“, die Erfahrung macht, dass die Geschichte keinen Sinn ergibt, dass sein Idyll dem Chaos nicht standhält, dann hängt ja alles davon ab, ob ich als Romancier Sie als Leser davon überzeugen kann, dass dieser Levov wirklich so denkt. Darum geht es bei der Konstruktion von Figuren. Deshalb sind es Romane und eben keine Geschichtsbücher – weil sie die Politik in Romanform bringen. Und das bedeutet für mich, dass die Politik durch das Privatleben der Menschen im Buch erfahrbar werden muss. Also nicht durch die Klischees einer bestimmten Epoche, nicht durch Bilder von Bob Dylan, wie er auf seiner Gitarre herumzupft, oder von diesen schwarzen Sportlern auf der Olympiade, die ihre Fäuste zum Black-Power-Gruß ballen – dieser ganze Mist der Bilder, welche das Fernsehen transportiert, all dieser faule Zauber, mit dem die Medien einen bestimmten historischen Moment heraufbeschwören, genau das darf im Roman unter keinen Umständen auftauchen.“

Screens, TV- und Computermonitore sowie Kinoleinwände sind die großen Feinde des Philip Roth. Er sieht sich als amerikanisches Auslaufmodell, Vertreter einer Gattung, die in den nächsten 20Jahren zum Aussterben verdammt ist. „Die Ära der Literatur ist an ihr Ende gekommen – ich sage das ganz neutral. In Europa mag das anders sein, hier in den USA erfüllen Bücher für die meisten Menschen heute keinen sinnvollen Zweck mehr, deshalb haben sie aufgehört, den nutzlosen Plunder zu lesen. Die Ironie liegt nur darin, dass dies ausgerechnet in dem Moment passiert, wo die amerikanische Gegenwartsliteratur eine Blüte sondergleichen erlebt.“

Aus Roth spricht nicht der blinde Vorbehalt des Elfenbeinturm-Intellektuellen gegen die Medien nach Gutenberg. Er hat nichts dagegen, seine Romane verfilmen zu lassen – „Der menschliche Makel“ soll mit Nicole Kidman und Anthony Hopkins in den Hauptrollen noch 2002 in die US-Kinos kommen. „Was ich meine, ist die absolute Tyrannei der Medien. Wer früher Kinder großzuziehen hatte, wollte sie vor Typhus, Diphterie und solchen Dingen beschützen. Aber wie soll man ein Kind vor der Seuche der Medien beschützen? Wenn man heute Menschen in New York so viel über Schulen reden hört und wie viel Geld die Ausbildung ihrer Kinder verschlingt, dann steht dahinter eigentlich die Frage: Wie schaffe ich es bloß, mein Kind vor dem Feuer speienden Drachen der Medien zu beschützen? Wenn ich heute Kinder hätte, wäre das meine Hauptsorge: Wie kann ich mein Kind vor dieser heimtückischen Idiotisierung durch die Medien bewahren, die aus Fünfjährigen Verbraucher machen wollen? Es genügt ja nicht, den Fernseher in den Müll zu werfen – dann werden die Kinder eben durch das Internet in Trottel verwandelt. Ich glaube, die einzigen sicheren Orte sind die Bordelle.“

Roth formuliert im Gespräch ungewöhnlich konzis. Auch in seiner mündlichen Rede blitzt etwas von jenem rhethorischen Furor auf, der in seinen Büchern selbst seitenlange Monologe der Figuren, brillante Analytiker allesamt, zumindest unterhaltsam, meist aber zu geistsprühenden Achterbahnfahrten des Intellekts werden lässt. Einmal fängt er spontan an zu singen, intoniert mit schönem und überraschend klarem Bariton „God Bless America“ und „Land That I Love“ von Irving Berlin und einige Songs von Ira Gershwin, um den Beitrag jüdischer Komponisten zur amerikanischen Populärkultur deutlich zu machen.

Musik ist für Roth wichtig – dafür spricht nicht nur die umfangreiche Vinyl- und CD-Sammlung im Wohnzimmer des Haupthauses, hauptsächlich Klassik und Jazz. „Unlängst lief hier im Fernsehen eine Reihe mit Dokumentarfilmen von Ken Burns über die Geschichte des Jazz. Ich hielt diese Reihe für gar nicht so gelungen, aber man bekam trotzdem eine Menge zu sehen und zu hören, was man so noch nicht kannte. Von einigen der schwarzen Jazzmusiker hieß es, sie seien süchtig nach diesen oder jenen Drogen gewesen, an einer Überdosis gestorben, dass ihre Mütter Prostituierte gewesen seien und so weiter, und als ich das sah, ging mir durch den Kopf, dass dies doch ein ungeheures Indiz für das Selbstbewusstsein des schwarzen Mittelstands darstellt. Vor gar nicht so langer Zeit hätte man noch Zeter und Mordio geschrieen, wenn von Schwarzen im Zusammenhang mit Drogen und Prostitution die Rede gewesen wäre. Man wäre sofort wegen dieser für Schwarze beleidigenden Klischees als Rassist gebrandmarkt worden. Aber heute kann man das zeigen, und zwar, weil der schwarze Mittelstand den Jazz als seine ureigene Kunstform entdeckt hat und stolz darauf ist.“

Wie souverän Roth sowohl mit Musik als auch mit rassistischen Stereotypen in seinem Schreiben umzugehen weiß, illustriert die vielleicht anrührendste Szene in „Der menschliche Makel“ – ein Tanz zwischen der Hauptfigur, dem über 70-jährigen Professor für klassische Literatur Coleman Silk, und dem Erzähler des Buchs, Nathan Zuckermann, zu „Bewitched, Bothered and Bewildered“ von Frank Sinatra: „Was soll’s, dachte ich, wir werden bald genug tot sein. Ich stand auf, und dort, auf der Veranda, begannen Coleman Silk und ich Foxtrott zu tanzen. Er führte, und ich ließ mich führen, so gut ich konnte. Wir tanzten. Es war darin nichts offen Fleischliches, aber da Coleman noch immer nur Jeans-Shorts trug und meine Hand leicht auf seinem Rücken lag, als wäre es der eines Hundes oder eines Pferdes, war es auch nicht bloß eine Parodie. In der Art, wie er mich über den Steinboden führte, lag eine halb ernsthafte Lauterkeit, ganz zu schweigen von dem gedankenlosen Entzücken darüber, einfach nur lebendig zu sein, zufällig und verspielt und grundlos lebendig zu sein – dem Entzücken eines Kindes, das soeben gelernt hat, auf einem Kamm und einem Stück Klopapier eine Melodie zu spielen.“

Wenn Roth über die Veränderung im Zusammenleben von Juden und Schwarzen in den USA spricht, geht er rhetorisch wie auf Zehenspitzen, wägt jedes Wort sorgfältig ab. Er weiß, wie vermint dieses Gelände ist. Auf die Frage, was er von den nach den Entschädigungszahlungen an die Zwangsarbeiter laut gewordenen Reparationsforderungen der Schwarzen für die Jahrzehnte Sklaverei hält, schüttelt er den Kopf. „Ich will darüber nicht reden.“ Weil die Forderungen über ein Jahrhundert nach Abschaffung der Sklaverei albern sind? „Nein, weil es zu kompliziert ist.“ Also lässt sich außerhalb der Literatur, in der Sprache der Medien darüber nicht reden? „Die Materie ist zu fremd für mich.“

Als hätte gerade das ihn herausgefordert, hat Philip Roth mit „Der menschliche Makel“ einen Roman über Schwarz und Weiß in Amerika geschrieben, ausgehend von der „starren Grenze zwischen den Klassen und Rassen“ in den 40er- und 50er-Jahren. Der Schwarze Coleman Silk ist so hellhäutig, dass er als junger Mann die Chance ergreift, seine Rassenzugehörigkeit wie eine mittlerweile zu eng gewordene Haut abzustreifen, um „auf unkonventionelle Weise konventionell“ als jüdischer Weißer zu leben. So wird aus Coleman einer der „größten der großen Pioniere des Ichs“. Wenn es der amerikanische Traum ist, sich selbst neu zu erfinden, lebt Coleman den amerikanischen Traum bis zum Extrem. Er schafft sich neu, entwirft sich eine ihm genehme Vergangenheit. „Was ich bin?“, fragt Coleman einmal eine Freundin, die Verdacht schöpft. „Ich bin, was du willst.“

Es gehört zu den großen Stärken dieses Romanes, dass sich Roth jedes moralischen Urteils über seinen Helden streng enthält. So wird „Der menschliche Makel“ weniger zum Menetekel mit einer gefälligen Schuster-bleib-bei-deinem-Leisten-Botschaft, als vielmehr zu einer chorischen Feier des Lebens selbst. Philip Roth selbst strahlt viel von dieser Vitalität aus. Gleichzeitig blitzt unter seiner Lebenslust immer wieder ein Korsett harter Disziplin auf. Ein wenig erinnert die Regelmäßigkeit seines von den Ritualen des Schreibens bestimmten Tagesablaufs an die Willensstärke eines entwöhnten Alkoholikers oder den Glaubenseifer eines Konvertiten.

Philip Roth hat einer Menge Dinge in seinem Leben abgeschworen – im Grunde allem, was ihn bei der Arbeit an seinen Romanen hindern oder ablenken könnte. Eine Aura besessener Konzentration und strenger Fokussierung auf das Wesentliche geht von ihm aus, die an das Sendungsbewusstseins eines Jesuiten denken lässt. Mönchisch – ein verblüffendes Adjektiv zur Beschreibung eines Schriftstellers, der immer wieder als einer der großen Pornografen der amerikanischen Literatur verunglimpft wurde. Am Ende von „Der menschliche Makel“ schreibt Roth: „Der Mann, der beschließt, ein bestimmtes historisches Schicksal zu fälschen, der sich daranmacht, das historische Schloss zu knacken, und dem dies auch gelingt, dem es auf brillante Weise gelingt, sein persönliches Schicksal zu verändern, dieser Mann muss feststellen, dass er in einer Geschichte gefangen ist, mit der er nicht gerechnet hat: in der Geschichte, die noch nicht Geschichte ist und gerade erst entsteht, in der Geschichte, die sich, während ich dies schreibe, noch entwickelt, die Minute um Minute anhäuft und von der Zukunft besser verstanden werden wird als von uns selbst. Das unentrinnbare Wir: das Jetzt, das gemeinsame Schicksal, die vorherrschende Gemütsverfassung, die Stimmung des Landes, in dem man lebt, der Würgegriff der Geschichte, die das eigene Leben ist. Vollkommen überrascht vom erschreckend provisorischen Wesen aller Dinge.“

„Der menschliche Makel“ endet an einem Sonntag, „nachdem der Senat beschlossen hatte, Bill Clinton nicht seines Amtes zu entheben“. Mehr noch als während des Watergate-Skandals sieht Roth in der Debatte um die an sich triviale Sex-Eskapade des Präsidenten einen jener raren Momente in der Geschichte des Landes, wo sich die USA durch ein gemeinsames Thema überhaupt als Nation konstituieren.

„Erinnern Sie sich noch an Bob Dole?“, fragt mich Roth nach unserem Interview. „Bei den Präsidentschaftswahlen ist er Clinton unterlegen. Heute macht er Werbung für Viagra. In TV-Spots erzählt er von seiner Prostataoperation, dass man dadurch impotent werden kann und wie schön es ist, dass es dagegen heute Viagra gibt Ein Präsidentschaftskandidat redet im TV über seinen Schwanz! Clinton wurde durch seinen Schwanz fast gestürzt, und Dole verdient heute mit seinem Schwanz ein Vermögen. Aber der Schwanz steht immer im Mittelpunkt. Kann man sich einen besseren Beweis für den totalen Sieg der sexuellen Revolution wünschen?“

Wenn er heute wieder 18 wäre, frage ich ihn, würde er sich erneut für den Beruf des Schriftstellers entscheiden? Philip Roth lächelt: „Ich wäre dann wohl ein Mann meiner Zeit und würde mich entsprechend dieser Zeit verhalten. Ich bin ganz und gar nicht sonderlich beglückt, ein literarisches Leben geführt zu haben. Ich würde es niemandem empfehlen.

Jedenfalls wäre ich heute nicht mehr sonderlich scharf darauf, das Leben eines Schriftstellers zu führen.“

Der Autor Denis Scheck arbeitete damals vor allem für den Rundfunk. Heute kennt man ihn als scharfsinnigen Interviewer und Moderator in den skurrilen Kulissen der Literatursendung „Druckfrisch“ in der ARD.

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