„Ich mag einfach keine Disco-Mucke!“

Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin legt als DJ Dosenpfand gerne etwas härter auf. Ein Gespräch über den richtigen Mix, illegale Downloads – und Politiker als Popstars.

Jürgen Trittin sitzt bestens gelaunt in seinem Fraktionsbüro in Berlin. Den Herzinfarkt, der ihn im Januar zur Zwangspause verdonnerte, hat er sichtlich gut überstanden, der Urlaub steht an, die Grünen sind im Aufwind, und spätestens seitdem er so unerwartet wie erfolgreich Joachim Gauck als Präsidentschaftskandidaten ins Spiel gebracht hat, gilt der 56-jährige Politiker als derzeitiger Star der Opposition.

Lange vorbei sind die Zeiten, in denen Trittin in manchen Medien selten ohne den immer etwas bieder wirkenden Beinamen „Bürgerschreck“ auftauchte, den er sich in wilden Jahren wegen seiner linken Aktivistenzeit verdient hatte. Geradezu euphorisch wirkt der Politiker heute, wenn er über seine andere große Leidenschaft spricht, die Musik. Immer wieder beugt er sich beim Gespräch lachend nach vorne, Namen wie Fehlfarben, White Stripes, Nouvelle Vague oder Scissor Sisters kommen ihm ganz selbstverständlich über die Lippen.

Sollten sie auch. Denn seit mehreren Jahren schon legt er immer wieder mal unter dem Künstlernamen DJ Dosenpfand auf. Als DJ? Und dann dieses Pseudonym? So viel kokette Selbstironie ist in der deutschen Politik immer noch ungewöhnlich, fast ein wenig suspekt. Und dann hat ihn der ROLLING STONE vor Kurzem auch noch beim Prince-Konzert in Berlin gesehen, wo er auf der Sitzbank stand und „Purple Rain“ mitsang. Das ist ja allerhand. Also los jetzt!

Herr Trittin, bei der Prince-Show in der Waldbühne wirkten Sie sehr begeistert …

Ich fand es schade, dass er alles, nur ausgerechnet „Cream“ nicht gespielt hat. Der Sound war schlecht, aber man darf in der Waldbühne ja nicht mehr richtig aufdrehen … (lacht) Schön fand ich, dass nach einiger Zeit die guten Plätze unten für alle aufgemacht wurden und wir mit vielen anderen von unseren billigen Plätzen runtergehen konnten. Da hat sich das feinere Charlottenburg, das da saß, tierisch aufgeregt.

Wieso sind Sie ausgerechnet zu Prince gegangen?

Ich habe ihn vor vier, fünf Jahren hier im Kongresszentrum gesehen – ein grauenvolles Konzert in einer noch grauenvolleren Halle. Rezzo Schlauch fand es super. Wir sind uns über diese Frage nie einig geworden. Als meine Lebensgefährtin vorschlug, wir sollten zu Prince in die Waldbühne gehen, habe ich das natürlich gerne gemacht.

Und?

Ach, es war okay. Er war diesmal viel souliger. Im Kongresszentrum war es sehr jazzig, insgesamt ambitionierter. Aber das wurde im CCH alles erschlagen von dieser Mischung aus Beton und Teppich. Diese Halle ist für Konzerte völlig ungeeignet. Man sollte sie endlich abreißen

Sie arbeiten – gewissermaßen nebenberuflich – als DJ Dosenpfand. Woher nehmen Sie Ihre musikalischen Anregungen? Oder haben Sie ein festes Repertoire?

Das hängt vom Publikum ab. Auf der schönen Party von Radio Eins in Berlin habe ich genau den Geschmack der Leute getroffen. Das Radio-Eins-Publikum – Sendermotto: „Nur für Erwachsene“ – ist an musikgeschichtliche Stücke gewöhnt, die auch mich geprägt haben, Fehlfarben zum Beispiel. In München ist das beim Oberbürgermeister-Wahlkampf mit einem ähnlichen Repertoire auch gut gegangen. Da haben sie mir nur übel genommen, dass ich von den Toten Hosen „Ich würde nie zum FC Bayern München gehen“ aufgelegt habe. In Köln hat diese Musik überhaupt nicht funktioniert. Da wollen sie einfach Disco-Musik. Bei den Scissor Sisters sprang der Kölner wie ein Derwisch über die Tanzfläche.

Wann springt die Berliner Grünen-Klientel?

Da funktionieren die White Stripes, oder – was ich gerne mache – wenn man Original und Coverversion von bekannten Songs hintereinander spielt, also etwa „Guns of Brixton“ von The Clash und die Version von Nouvelle Vague. Diese Brücke von älteren Stücken zu neueren Einflüssen zu schlagen, macht mir Spaß.

Ziehen Sie ihr musikalisches Programm gnadenlos durch oder nehmen Sie auch Anregungen aus dem Publikum auf?

Es ist ganz hilfreich, wenn ein zweiter DJ vor Ort ist, der ein Gefühl dafür hat, was gespielt werden kann. Manchmal ist man aber auch total überrascht. Ich habe mal in einer Disko in Duderstadt in der Nähe von Göttingen aufgelegt, das funktionierte zunächst gar nicht, aber als ich von den Ärzten dann „Arschloch“ („Schrei nach Liebe“, Anm. d. Red.) spielte, gröl-te die ganze Eichsfelder Disko begeistert mit.

Sie sind also kompromissbereit?

Es ist ein Kommunikationsprozess mit dem Publikum. Und manchmal kann ich es nicht allen recht machen. Im Berliner Café Einstein habe ich einmal unter dem Thema „Deutsch“ aufgelegt. Ich war Gegner der Deutschquote im Radio, im Gegensatz zu Claudia Roth, was bei mir ansonsten selten vorkommt. Am Abend machte ich eine musikalische Reise durch Deutschland mit vielen Stücken aus der ehemaligen DDR. Ich habe in den 70er-Jahren in Göttingen studiert, da haben wir hin und wieder DDR-Sender gehört. Wir kannten also Karat, City und Puhdys und auch Klaus Renft. Als ich das im Westberliner Einstein aufgelegte, konnte man richtig sehen, wer wo sozialisiert worden ist: Gelernte DDR-Bürger fanden das toll, der Rest floh von der Tanzfläche. Die DDR-Bürger aber waren aber schwer empört, als ich von Marius Müller-Westernhagen „Ich bin Gerti aus der DDR“ gespielt habe.

Mit Claudia Roth stimmen Sie auch musikalisch immer überein?

Das kann man nicht sagen, ich bin nicht so ein großer Schlager-Fan …

Claudia Roth hat kurze Zeit als Managerin von Ton Steine Scherben gearbeitet. Renate Künast sagte uns kürzlich, dass sie Ton Steine Scherben mag. Hören sie alle nach einem Parteitag immer noch einmal die alten Kampflieder?

Rio Reiser und die Scherben waren für die deutsche Rockmusik absolut stilbildend. Den Einfluss sieht man noch heute bei Bands wie Wir sind Helden. Mich haben aber Gruppen wie Fehlfarben mehr geprägt. Obwohl die erste Scheibe, die ich in Göttingen gekauft habe, eine LP von den Scherben war – noch in der alten David-Volksmund-Edition in Pappe eingepackt.

Was war die erste Platte überhaupt, die Sie gekauft haben?

Eine Single, Herman’s Hermits, „No Milk Today“.

Waren Sie mal bei einem Konzert von Ton Steine Scherben?

Nein. Ich habe ein wunderschönes Konzert mit Scherben-Liedern erlebt, das war die Trauerfeier für Rio Reiser im damaligen Tempodrom-Zelt, wo Herbert Grönemeyer mich sehr beeindruckt hat, auch wenn der sonst nicht so mein Fall ist. Es wurden nur Rio-Reiser-Lieder gespielt. Das war sehr schön. Diese Trauerfeier ist eines der beeindruckendsten musikalischen Erlebnisse, die ich je hatte.

Das Disco-Gefühl der 70er hatte Sie nie ergriffen?

Darüber habe ich damals schon mit meiner Schwester gestritten, die behauptete, bei mir auf Geburtstagspartys würde immer nur Punk gespielt und ich sollte mal „richtige Musik“ auflegen. Dann legte sie immer diese Disco-Mucke auf, schrecklich.

War das ein geschmackliches Problem, oder hat das auch etwas mit Politik zu tun?

Nein, das war rein geschmacklich. Ich mag einfach Disco nicht. Stücke wie „Stayin‘ Alive“ finde ich extrem artifiziell und verbinde sie mit sehr schlechten Erinnerungen. Ich wurde gegen meinen Willen am 1. April 1974 zur Bundeswehr eingezogen, weil ich in zwei Instanzen als Kriegsdienstverweigerer nicht anerkannt worden war. Dafür war ich übrigens im Kabinett Schröder der Einzige, der die Bundeswehr von innen gesehen hatte. Nur Manfred Stolpe hatte auch noch gedient, aber beim Feind. Damals gab es die „Nato-Pause“: Zwischen 9 und 9:30 Uhr saß die komplette Bundeswehr in der Kantine, da hätte der Russe kommen können. Und in der Kantine wurde immer dieser Mist gespielt. Jedesmal wenn ich „Stayin‘ Alive“ höre, muss ich sofort an diese Bundeswehrkantine denken – und an den merkwürdigen Geruch von Eierbrötchen.

In den vergangenen 20 Jahren hat man DJs meist mit elektronischer Musik in Verbindung gebracht. Haben Sie sich je für Techno erwärmen können?

Das ist mir zu fremdbestimmt, die Rhythmusmaschine, der dominierende Bass.

Waren Sie mal auf einer Loveparade?

Nein. Zu voll, zu viel Techno. Ich gehe ja auch nicht zum Hannoverschen Schützenaufmarsch.

Auf jedem Christopher Street Day meint man, die halbe Grünen-Spitze sehen zu können. Die Loveparade – vor allem in der Berliner Zeit – mit ihren nicht explizit schwulen oder lesbischen Massen wurde von den Grünen dagegen immer verbissen kritisiert oder bekämpft – und damit praktisch eine ganze Generation von jungen Leuten. Warum?

Die Grünen haben kritisiert, dass öffentlicher Raum kostenlos für ein gigantisches Geschäft zur Verfügung gestellt wurde. Und als die Veranstalter für die Kosten aufkommen sollten, sind sie abgezogen – in Städte wie Duisburg. Im Übrigen: Auf der Loveparade haben sich Karl Theodor zu Guttenberg und seine Stefanie kenngelernt. Die haben wir in der Tat verloren – aber hätten wir sie wollen sollen?

Claudia Roth hat einmal allen Ernstes empfohlen, man solle auf den Parade-Wagen vielleicht besser Rockmusik spielen. War der grüne Argwohn gegen die scheinbar unpolitischen, feiernden Massen vielleicht nichts anderes als ein Generationenkonflikt?

Es gibt diverse Paraden, in Hamburg beispielsweise jedes Jahr die Schlagerparade – ich glaube nicht, dass man Schlagerparade, Loveparade, CSDs oder Schützenumzüge mit Generationen identifizieren kann. Wir sind vielmehr eine typisch deutsche, multikulturelle Gesellschaft

Der Inhaber der Loveparade-Namensrechte – der Geschäftsmann Rainer Schaller – hat nach der Katastrophe in Duisburg das Aus der Parade verkündet. Einige Szenevertreter kritisieren diese Haltung. Wie stehen Sie dazu?

Nach Duisburg, nach 21 Toten, kann niemand mehr unter dem Motto „Friede, Freude, Eierkuchen“ zu einer solchen Veranstaltung aufrufen …

Sollte die Parade vielleicht zu ihren Wurzeln in Berlin zurückkehren?

… auch nicht in Berlin.

Zurück zu Ihrer eigenen Tätigkeit: Wenn Sie sich DJ Dosenpfand nennen, zeigt das ja ein Maß an Selbstironie, das in der Politik selten zu finden ist. Gleichzeitig stellen sie sich als DJ auf eine andere Bühne als die der Politik. Der Politiker als Popstar. Ist Ihnen das auch schon mal vorgeworfen worden?

Nein, weil jeder das Augenzwinkern merkt. Zwei Drittel der Bevölkerung finden das Dosenpfand übrigens richtig, weil die nicht wollen, dass die Dosen auf der Straße herumliegen. Dabei habe ich das Dosenpfand ja nicht mal erfunden, das war Klaus Töpfer. Ich habe es nur durchgesetzt. Ich trete auch nie in der heißen Phase eines Wahlkampfes auf, wenn man ernsthaft darum streitet, wie das Land zu regieren ist. Aber mit genügend zeitlichem Abstand zu Wahlkämpfen mache ich das gern mal. Man muss doch auch über sich selbst lachen dürfen. Bloß darf die Ernsthaftigkeit der eigenen politischen Botschaft nicht durch solche Aktivitäten konterkariert werden. Das ist eine Gratwanderung, bei der man auch abstürzen kann. Dafür gibt es ja genug Beispiele. Ich erinnere bloß an ein bestimmtes blau-gelbes Campingmobil …

Aber wo verläuft die Grenze? Oft wird ja Politikern vorgeworfen, sie seien nicht locker genug. Wenn aber Herr Westerwelle mit dem Mobil herumfährt oder Frau Simonis im Fernsehen tanzt oder Oscar Lafontaine auf dem SPD-Parteitag sich auf den Dancefloor wagt, finden das alle schnell lächerlich.

Das muss man von Fall zu Fall bewerten und auch auf sein Stilgefühl vertrauen können. Frau Simonis hat zehn Jahre lang als erste Ministerpräsidentin Deutschlands erfolgreich ein Bundesland geführt. Aber was in Erinnerung bleibt, ist, dass sie politisch gemeuchelt worden ist und hinterher bei RTL einen Tanzkurs gemacht hat. Das ist tragisch, ja bitter. Ich glaube, die Grundentscheidung heißt: Stelle ich mein Privatleben zur Disposition der Medien? Das tue ich nicht.

Es muss nicht immer das Privatleben sein. Gerhard Schröder hat einmal ein Modeshooting gemacht, schon wurde er als „Brioni-Kanzler“ verspottet.

Schröders Inszenierung war ja vergleichsweise bescheiden verglichen mit der Selbstinszenierung von Herrn zu Guttenberg. Daran sieht man: Was der alte Adel darf, darf der Aufsteiger noch lange nicht. Schröder wurde doch durch die Klassenbrille angeschaut, und dann hieß es, guckt mal, der Aufsteiger, wie der sich aufführt, bäh. Beim alten Adel finden wir das ganz normal, da schaut man eben auf und bewundert.

Sie haben auch einmal für „Life & Style“ gemodelt …

Ich habe mich da einmal im T-Shirt fotografieren lassen, nichts Großartiges. Gemodelt würde ich das nicht nennen.

Wie haben sich die Anforderungen an Politiker durch die Allgegenwart der Medien – vom TV über Blogger bis zum Leserreporter – verändert? Was hat sich für Sie verändert?

Wenn Sie sich so verhalten wie ich, eigentlich überhaupt nichts. Es gibt keine Homestorys von mir, es gibt keine Fotostrecken über meine Familie und ähnliche Dinge. Ich mache meine Arbeit, und zu dieser Arbeit gehört, dass ich gelegentlich bei den Grünen Platten auflege, genauso wie ich mal eine Kundgebungsrede halte. Das macht mir Spaß, aber ich bin deswegen nicht geneigt, in die Gesellschaft der Roten Teppiche einzutreten.

Es gibt einen Politiker, der als der globale Popstar wahrgenommen wird: Obama. Anfangs wurde gesagt, so einen hätten wir auch gerne. Mittlerweile mehren sich – insbesondere wegen des Krisenmanagements im Golf von Mexiko – die kritischen Stimmen. Wie beurteilen Sie ihn?

Er verdient einen Riesenrespekt. Im Wahlkampf hat er Millionen von Amerikanern, gerade auch junge, dazu gebracht, sich erstmals als Wähler registrieren zu lassen, sich in Netzwerken politisch zu engagieren, einzugreifen, auch Geld zu sammeln. Er hat vielen Menschen ihre politische Stimme wiedergegeben. Allein das war eine ungeheure politische Leistung. Obama in die Kategorie Popstar zu stecken, entpolitisiert ihn und wird weder ihm noch seinen Verdiensten gerecht. Als Präsident hat er den ernsthaften Versuch gemacht, Mehrheiten für ein Klimaschutzgesetz zusammen zu bekommen. Dafür hat er Zugeständnisse gemacht an die Nuklear- und die Ölindustrie. Das war ein schwerer politischer Fehler. Plötzlich war er in einer Situation, in der er nichts machen konnte außer hoffen, dass BP das Loch so schnell wie möglich zu bekommt.

Der Unfall hat der ganzen Welt die Gefahren der Nutzung fossiler Energiequellen überdeutlich vor Augen geführt. Es ist gut, dass es dafür endlich eine solche Aufmerksamkeit gibt, denn das ist bei weitem nicht die einzige Ölkatastrophe dieser Art. Im Nigerdelta gibt es nicht nur ein leckes Bohrloch, sondern jede Menge. Nur schaut da keiner hin und drängt die Bohrfirma, das Ding zu schließen. Man kann fast froh sein, dass im Golf von Mexiko BP der Schuldige ist und keine kleine Klitsche. Die wäre jetzt schon bankrott, und die Steuerzahler würden auf den Kosten sitzen bleiben.

Wir werden Zeuge einer riesigen Umweltkatastrophe, aber die Reaktion hierzulande, in einer eigentlich empörungsfreudigen Öffentlichkeit, ist geradezu lächerlich schwach. Wie kommt das?

Erst einmal muss das konkrete Problem gelöst werden. Richtig ist, dass weitere Offshore-Bohrungen gestoppt wurden. Die nächste Konsequenz muss sein, die Abhängigkeit vom Öl drastisch zu reduzieren. Das hat Konsequenzen für unseren Lebensstil, die für viele weitaus unbequemer sind als das, was gerade passiert. Wir als Grüne verlangen zum Beispiel, das Dienstwagenprivileg für schwere Autos zu kippen. Um es plastisch zu machen: Kein Dienstwagen oberhalb vom Golf oder Audi A3 wird mehr subventioniert. Damit machen wir uns nicht nur beliebt in einem Land, wo der soziale Status eines Menschen noch immer daran gemessen wird, welches Auto er fährt. Nach dem Motto: Bist du noch Golf oder schon A6?

Die Konsequenzen aus der Katastrophe im Golf von Mexiko für die Umwelt sind noch gar nicht absehbar. Die Konsequenzen für die verantwortlichen Manager scheinen keine allzu großen zu werden. Müssten die Ihrer Ansicht nach persönlich dafür bestraft werden?

Der Vorstandschef von BP ist zurückgetreten. Vor seinem Rücktritt hatte ich ihn zufällig in Brüssel getroffen, und er sagte zu mir: „Wenn wir nicht aufpassen, kommen wir in eine Situation, wo wir von anderen übernommen werden.“ Das ist für ein Unternehmen die Höchststrafe.

Sollten in solchen Fällen die Manager persönlich zur Verantwortung gezogen und eventuell mit Gefängnis bestraft werden?

Gefängnis setzt eine Straftat mit Vorsatz voraus. Ob Straftatbestände erfüllt sind und ob man an die Verantwortlichen über das Strafrecht herankommt, bezweifle ich. Nicht, weil ich es ihnen nicht gönnen würde, sondern weil ich nicht glaube, dass das Strafrecht die richtige Antwort ist. Wir neigen dazu, gesellschaftliche Probleme zu individualisieren. Zur Lösung des Problems hilft nur ein schrittweises Verbot von Offshore-Bohrungen und Ölbohrungen in Naturschutzgebieten. Dann würden die Ölpreise steigen, das Verhalten jedes Einzelnen müsste und würde sich ändern. Das ist unbequemer, als irgendeinen Manager in den Knast zu wünschen – aber wirkungsvoller.

BP scheint vielen wie ein fieses Symbol für den Kapitalismus, der die eigenen Lebensgrundlagen zerstört. Antikapitalismus, auch so ein bisschen die Tendenz zum Kommunismus, scheint wieder schick zu werden. Ein entsprechender Kongress an der Berliner Volksbühne kürzlich war bestens besucht. Wie stehen Sie dazu?

Die entscheidende Kontroverse da war wohl: Kann man den Kapitalismus überwinden, oder ist es Aufgabe gerade für die Linken, permanent den Kapitalismus zu regulieren und zu bändigen? Diese Kontroverse begleitet die Linken seit dem Kommunistischen Manifest. Der Kapitalismus selbst hat sich als erstaunlich resistent erwiesen. Das hat möglicherweise etwas mit den zur Verfügung stehenden Alternativen zu tun. Er ist aber gleichzeitig immer wieder durch politische Maßnahmen begrenzt und gesteuert worden. Heute müssen wir uns von der Idee verabschieden, wir könnten den globalisierten Kapitalismus mit nationalen Maßnahmen regulieren. Das funktioniert ökologisch, sozial, finanzpolitisch und ökonomisch nicht. Das heißt, wir stehen vor der enormen Herausforderung, Instrumentarien jenseits nationaler Grenzen zu schaffen, mit denen wir den Rahmen bestimmen, in dem gehandelt wird. Denn Markt ohne Regulierung, das ist Räuberei.

Spüren Sie als Partei, dass Antikapitalismus als Idee oder als Life-Style plötzlichen einen neuen Schub erfährt?

Ein Freund von mir hat gerade seine Tochter in New York besucht, die während ihres Auslandsaufenthalts dort Sozialwissenschaften studiert. Ihre Studienkollegen waren ganz begeistert, weil er sich wirklich gut mit Karl Marx auskennt, den er als Deutscher natürlich im Original gelesen hat. Die amerikanischen Kommilitonen seiner Tochter wollen jetzt Deutsch lernen, damit sie Marx im Original lesen konnten.

Viel Spaß dabei.

Ich finde das okay. Das zeigt: Es entsteht ein neues Bewusstsein. Wir Grüne haben schon früh Fragen gestellt wie: Wie soll man eigentlich leben? Müssen wir nicht, um den Klimawandel zu verhindern, alle Vegetarier werden? Dieses Problembewusstsein für ökologische Fragen, das die Grünen und viele der jüngeren Generation haben, hatte eine etwas altbackene Linke und auch die Retrophilosophen, die in der Volksbühne aufgetreten sind, nie im Blick.

Haben Sie den Eindruck, dass die älter gewordenen Grünen die jüngere Generation überhaupt noch erreichen?

Unsere Wahlergebnisse zeigen, dass wir bei den Über-65-Jährigen, wenn wir gut sind, über die 5-Prozent-Hürde kommen. Bei den Unter-30-Jährigen sind wir zweistellig, mindestens mit einer 2 vorne – durch alle Wah-len hindurch. Offensichtlich sprechen wir deren Sprache, das zeigt sich auch daran, welche Jugendlichen zu uns kommen als Volunteers, die sich an Kampagnen, zum Beispiel im Internet, beteiligen. Und was mir vor Überraschung sozusagen fast den Boden weggehauen hat, war die Reaktion – gerade von sehr jungen Leuten – auf unseren Präsidentschaftskandidaten Joachim Gauck. Ein alter Herr! Ein evangelischer Pastor! Der redet davon, dass Freiheit Verantwortung bedeutet. Offensichtlich gibt es nicht, wie Sie das beschrieben haben, einfach eine Retro-Welle, zurück zu marxistischen oder sonst welchen Ideen, sondern es gibt eine Sehnsucht nach Ernsthaftigkeit und ernsten Auseinandersetzungen. Da sind wir nicht so schlecht aufgestellt.

Haben Sie Sympathisanten an die Piratenpartei verloren? Haben Sie in dem Themenbereich Fehler gemacht?

Fast in jeder Frage fordern die Piraten das, was wir schon lange fordern. Wir sind aber insgesamt thematisch viel breiter aufgestellt. Und wir stellen uns den Problemen zum Beispiel des akademischen Prekariats, das die Inhalte für das Netz liefert. Wir sind der Auffassung, dass sie dafür eine angemessene Entlohnung bekommen müssen. Also müssen wir zu Bezahlmodellen kommen, die auf der einen Seite die Freiheit der Information sicherstellen, auf der anderen Seite geistige Arbeit angemessen vergüten. Wir wollen, dass diejenigen, die Inhalte zuliefern, nicht von Hartz IV abhängig sind, sondern von ihrer Arbeit leben können. Wir sind gegen eine Zensur-Infrastruktur und gegen die Kriminalisierung derjenigen, die sich nicht von Apple in einem goldenen Käfig per iPad einsperren lassen wollen.

Gut, dass wir das Interview auch mit einem iPhone aufnehmen …

Apple schafft einen bequemen Rahmen, in dem die Nutzer sich um nichts mehr kümmern müssen – sie müssen auch selber nicht mehr kreativ sein, dürfen’s auch gar nicht mehr – und dafür bekommen sie nur Zugang zu Inhalten, die Apple vorher geprüft hat. Das mussten sogar deutsche Zeitungsverleger feststellen. Apple hatte ja zeitweilig die „Bild“-Anwendung rausgeschmissen, richtig rauszensiert.

Frank Schirrmacher hatte im ROLLING STONE zur Einführung des iPads vor einem „iPad-Staat“ gewarnt. Er meint, dass Apple durch Kontrolle der Inhalte teilweise autoritäres Verhalten an den Tag legt.

… da kommt so ein alter Linker wie ich daher und trifft auf einen konservativen Schirrmacher, und in dieser Frage sind sie beide einer Meinung. (lacht)

Das heißt, Ihnen kommt kein iPad ins Haus?

Gegen Steve Jobs von Apple ist Steve Ballmer von Microsoft eher der Vorreiter von Open Source. (lacht)

Wie stehen Sie zum illegalen Downloading von Musik?

Musiker, die in stundenlanger anstrengender, manchmal sogar quälender kreativer Arbeit etwas schaffen, müssen auch davon leben können. Deswegen fordern wir eine Kulturflatrate.

Ist die logische Konsequenz aus dem Bewusstsein, dass Musiker für ihre Arbeit entlohnt werden sollten, die Strafverfolgung derer, die sich daran nicht halten?

Nein. Strafverfolgung ist doch das Hilfloseste, was es gibt. Damit wird suggeriert, ein Problem zu lösen, bei dem einfach eine Regulierung und ein vernünftiger ziviler Interessenausgleich nicht hinzukriegen sind. Dieser ganze Kopierschutzquatsch war doch auch immer nur eine symbolische Aktion. Am Ende wird er immer wieder geknackt. Wir brauchen Lösungen, die den freien Zugang zu Informationen für jedermann und eine angemessene Entlohnung für die Urheber zu einem Ausgleich bringen.

Wie kaufen Sie Ihre Musik? Downloaden Sie, kaufen Sie Vinyl, kaufen Sie CDs?

Ich downloade sehr selten.

Auch illegal?

Natürlich nicht. Außerdem gehöre ich zu den Leuten, die CD-Hüllen mögen. Ich mag schön gestaltete Booklets, und dass ich die in die Hand nehmen kann. Ich bin technisch nicht ganz unbegabt. Meinen ersten Computer hatte ich übrigens in den frühen 80er-Jahren, ein Sinclair QL. Der konnte schon Multitasking, was Microsoft erst Jahre später konnte. Trotzdem erwerbe ich meine Musik lieber auf CD, habe dann aber das blöde Problem: Wer digitalisiert das alles auf unseren Homeserver? Dazu komme ich nie.

Verwalten Sie Ihren Facebook-Account selbst?

Ich gestehe ganz offen, und da haben wir auf Facebook auch kein Geheimnis draus gemacht, dass der von meinem Büro verwaltet wird. Ich komme nicht dazu. Facebook ist heute ein wichtiges Medium, aber bei meiner zeitlichen Belastung kann ich das nicht selbst machen.

Das Medium hat Obama zu einer sehr großen Breitenwirkung im Wahlkampf verholfen.

Ja, klar. Das Gleiche haben wir bei der Gauck-Kandidatur erlebt. Der Anstoß für die Bewegung für Gauck im Internet kam von den Leuten selbst. Als Fraktion haben wir Nachholbedarf, unser Internetangebot ist noch sehr Web 1.0, deswegen werden wir es bald ändern. Wir haben im Wahlkampf bereits mit Kanal Grün auf YouTube und mit Facebook gearbeitet.

Kann man Sie eigentlich als DJ buchen?

Nein. Wenn ich Lust habe, mache ich es, und wenn ich keine Lust habe, mache ich es nicht.

Wann steht der nächste Auftritt an?

Ich habe erst mal Sommerpause.

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