Pop, nicht Porno

WORAN MAN SICH so erinnert, wenn man an die großen Schulferien der Jugend denkt: ein Parkplatz in der Dämmerung, ein Frisiersalon mit dem angemessen bescheuerten Namen „Vor-hair Nach-hair“, ein Disco-Hit als Klingelton und der Abschied von der Liebsten, die ans Meer fährt, während man selbst sechs Wochen im westfälischen Kaff versauern muss. Davon handelt der Titelsong des neuen Erdmöbel-Albums „Kung Fu Fighting“.

Im August, mitten in der Ferienzeit, veröffentlichte die Band aus Köln ein Video dazu. Eine Kussszene vor rosafarbenem Hintergrund – zunächst sacht, zärtlich, dann innig, wild, hemmungslos. Nicht jeder, der den Clip anklickte, war damit einverstanden. „Soll das Kunst sein? Bitte erklären!“, schrieben die einen, andere fanden es gar eklig und abstoßend, sogar das Wort „Porno“ fiel. „Es waren vor allem Männer, die damit ein Problem hatten“, erklärt Ekki Maas, der Produzent, Arrangeur und musikalische Leiter der Band. „Aber es gab auch Leute, die geschrieben haben: ,Mehr Liebe! Mehr Sex!'“ Die Dreharbeiten seien regelrecht erhebend gewesen, sagt Songwriter und Sänger Markus Berges, „weil es echt schön war, ein Paar zu unserer Musik sich küssen zu sehen. Ich dachte mir, das ist genau der Zauber, den wir brauchen. Und dass das auch eine provozierende, abstoßende Seite hat, habe ich erst gemerkt, als ich die Filmaufnahmen gesehen habe.“

Die Reaktionen auf das Video sind ziemlich repräsentativ für die Wirkung, die Erdmöbel auf ihre Zuhörer haben. Die einen erliegen der Magie der Sprache, der Arrangements und der Melodien, die anderen kratzen sich am Kopf, ja, werden regelrecht ärgerlich, wenn man sie mit diesen Liedern konfrontiert – mit Beatles-Bass, Posaune und perlendem Klavier, mit scheinbar wilden Assoziationen und Refrains wie „Wort ist das falsche Wort, es ist mehr Akkord/ Ach, ist unglaublich schwer zu sagen“.“Ich kann mir schon vorstellen, dass man davon irritiert ist“, meint Berges, „da will irgendwie einer was von dir, und du weißt vielleicht erst mal nicht, was. Das provoziert manche Leute, weil sie sich für dumm verkauft fühlen, weil sie denken, da verkündet ein blöder Klugschwätzer Dinge, die ich nicht sofort verstehe. Der will sich doch nur wichtig machen! Wir wollen uns nicht als Schlaumeier verkaufen – aber das Missverständnis kann ich verstehen. Das stört mich auch, aber ich kann’s nicht ändern.“ Es gibt mittlerweile ja auch genügend Menschen, die ihm helfen, diesen Irrtum aufzuklären. Die Feuilletons widmeten den Erdmöbeln spätestens zum fantastischen letzten Album „Krokus“ von 2010 lange euphorische Artikel, und die TV-Kulturmagazine stiegen auch drauf ein. Fast könnte man meinen, diese Band sei wie gemacht fürs Bürgertum. Aber es ist schön zu sehen, dass auch hier die Irritationen nicht ausbleiben. Claus Kleber jedenfalls kündigte einen Bericht zu „Krokus“ im „heute-journal“ mit den Worten an: „Sie werden das, was jetzt kommt, möglicherweise nicht verstehen. Ich hab’s jedenfalls nicht verstanden.“

Mit Kunst, die ihr Geheimnis nicht sofort preisgibt, wissen viele in Zeiten, in denen man vermutlich jeder noch so mysteriösen Leinwandgöttin die Kleider vom Leib googeln kann, nicht mehr umzugehen. Aber war das nicht mal das Schöne an Popmusik, dass man nicht genau wusste, wovon „A Whiter Shade Of Pale“ oder „Just Like Tom Thumb’s Blues“ eigentlich handeln? „Am Ende zählt die Musik“, erklärt Berges. „Wenn der Song einen ergreift, hat man auch kein Problem mit der Bedeutung. Es muss textmusikalisch funktionieren.“

Auf den zehn bisher bekannten Liedern von „Kung Fu Fighting“ scheinen Worte und Akkorde jedenfalls wieder betörend eng und innig miteinander verschlungen. Der elfte, bisher geheim gehaltene Song, der erst am Tag der Albumveröffentlichung vorgestellt wird, ist ein Duett mit einem prominenten weiblichen Überraschungsgast. Vielleicht ja wieder ein Lied zum Knutschen. Dann und wann kann es schließlich auch mal Liebe sein.

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„Ein sich küssendes Paar -das ist genau der Zauber, den wir brauchen“

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