
Presley statt Parodontose
Unsere neue Kolumnistin Ina Simone Mautz über ihr eigenes Vinyl-Geschäft mit Klassikern und Indie-Rock.

Der erste Plattenladen, den ich jemals betrat, hieß 5 vor 12. Das Geschäft lag auf der Kölner Einkaufsmeile Hohe Straße, befand sich allerdings nicht in ebenerdiger Bestlage. Um in den zweiten Stock zu gelangen, musste man durch ein schmales Treppenhaus, dessen Erscheinungsbild irgendwo zwischen Parkhauspinkelwand und schlecht ausgeleuchtetem „Aktenzeichen XY“-Tatortvideo lag.
Der Laden war so indie und alternativ, dass mir dort noch weniger bekannt vorkam als in der letzten Physikarbeit. Es lief Musik, von der ich, 13 Jahre alt und auf Klassenausfug, eine halluzinogene Wirkung befürchtete. Aber natürlich war es keine Option, den Laden ohne Vinylbeute zu verlassen – also kaufte ich „Music For The Jilted Generation“ von The Prodigy, die kannte ich von MTV.
Ich hörte die Verlegenheitstrophäe genau ein Mal. Man kann die Doppel-LP, Erstpressung aus dem Jahr 1994 in Top Zustand, jetzt in meinem eigenen kleinen Plattenladen, Villa Hansa Schallplatten, erwerben. Der befindet sich im hessischen Bad Nauheim, nur eine Fahrradminute entfernt vom Anwesen Goethestraße 14, wo Elvis Presley vom 3. Februar 1959 bis zum 2. März 1960 mitsamt Entourage logierte, während er in den Ray Barracks im Nachbarstädtchen Friedberg seinen Wehrdienst hinter sich brachte.
Viele Kunden erzählen von ihrem Presley-Moment
Die Lokalpresse konnte die Aufregung um Elvis nicht nachvollziehen und titelte: „So viel Lärm um diesen heulenden Derwisch!“ In meinen Elvis-Indie-Klassiker-Laden kommen immer wieder Zeitzeugen. Einer von ihnen zeigte mir neulich sein schönstes Foto mit Elvis, mittlerweile auf dem Smartphone. Die Oma eines anderen Kunden bügelte Elvis’ Hemden, während das Mädchen, das später seine Mutter werden sollte, mit weichen Knien die frisch gestärkten Wäschestücke auslieferte. Einmal öffnete Elvis ihr sogar persönlich die Tür!

Fans mit Elvis-Tattoos sehe ich genauso oft im Laden wie Senioren, die darauf hoffen, dass ich ihnen ihre angestaubten James-Last-Platten abkaufe. Aber eine Kundin ließ sich, als es aus medizinischen Gründen an der Zeit für Zahnimplantate war, tatsächlich exakt Elvis’ Gebiss anfertigen – Presley statt Parodontose!
Nicht zu vergessen der Mann, dessen Sammlungs-Highlight Elvis’ Hämoglobinwerte sind. Eine Krankenschwester hatte, it’s now or never, die Blutwerte des Kings stibitzt, als der wegen einer Mandelentzündung im Hospital behandelt wurde. Und auch ich habe eine Elvis-Story parat: Ein Freund meines Onkels hat Elvis mal in den Solarplexus getreten. Er war sein Karate-Trainingspartner.
Man kann in Bad Nauheim einen lebensgroßen Bronze-Elvis antreffen, im Café Bienenkorb die 10.000 Kalorien-Schokotorte verputzen, die schon zum 24. Geburtstag des Kings serviert wurde, und in der Villa Grunewald im selben Zimmer übernachten, in dem Elvis vor seinem Umzug in die Goethestraße wohnte (für Fans besonders attraktiv: Sanitärobjekte noch im Originalzustand).
Eine Pilgerreise nach Graceland ersetzt das selbstverständlich nicht. Kürzlich erzählte mir ein Kunde, dass auch er Graceland Too besucht hatte! „Graceland Too“ kannte ich bislang nur als Songtitel von Phoebe Bridgers’ Album „Punisher“ von (2020). Es war der Name von Paul MacLeods Haus in Holly Springs/Mississippi. Dort gab es von 1989 bis 2014 exzessives Elvis-Memorabilia-Hoarding zu bestaunen – für fünf Dollar konnte man den irren Elvis-Schrein besichtigen, 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr.
Hierzu sei die kurze, aber adäquat verstörende Dokumentation von Ryan Beebe und Erin Stamos empfohlen, die vom bösen Ende von Graceland Too zehn Jahre später (bitte googeln Sie selbst) noch gar nichts wusste. Noch gruseliger als das 5-vor-12- Treppenhaus.