RareTrax

Zwischen Agitprop und Uschi-Glas-Filmen entstand Ende der 60er Jahre die erste genuin deutsche Spielart einer Rockmusik, die sich bewusst und demonstrativ von angelsächsischen Vorlagen abnabelte: der Krautrock

Hippie-Ära und 68er Revolte spielten sich in Deutschland vor einem ganz anderen gesellschaftlichen Hintergrund ab als in den USA oder Großbritannien. In jeder Institution stieß man auf die Vergangenheit. Das krebsartige Nazi-Geschwulst musste aus der Gesellschaft geschnitten werden, die alten Mauern mussten fällen, die alten Symbole zerstört werden. Der destruktive Trieb, der neue deutsche Bands wie Faust und Künstler wie Otto Mühl oder den sich selbst verstümmelnden Rudolf Schwarzkogler verband, nahm vieles von dem vorweg, was Punk später in Großbritannien ausmachte.

Vor dem Neuanfang mussten die Geister der Vergangenheit ausgetrieben werden. Das Suchen nach der eigenen Identität setzte auch die Emanzipation von den im Bereich der Jugendkultur omnipräsenten amerikanischen Einflüssen voraus. So finden sich in der deutschen Musik dieser Zeit Avantgarde und Nihilismus der eher europäisch geprägten Velvet Underground, die gewagteren Pop-Experimente der Beatles, die verschrobene Psychedelic von Syd Barrett, die minimale Elektronik von Stockhausen, die Improvisationen des Free Jazz und der Fusion-Gedanke von Miles Davis und Weather Report. Bluesanleihen a la Cream und Rolling Stones, die sich explizit auf amerikanische Wurzeln beriefen, wurden vermieden. Im Vergleich zu dem gleichzeitig zur Blüte gelangenden Progressive Rock wurde Virtuositätswahn und Bombast in der deutschen Variante allerdings klein geschrieben. Stattdessen bevorzugten viele Bands einen Minimalismus, der mit dem Leitsatz von Can-Bassist Holger Czukay einhergeht, nach dem Beschränkung die Mutter aller Innovation sei. Kein Wunder, dass sich viele Punks später auf Bands wie Can, Faust oder Neu! beriefen.

Richtig harmonisch scheint das Leben in der Münchner Kommune von Amon Düül nicht verlaufen zu sein. Zunächst verließen einige Bewohner die Band und machten mit Amon Düül II ihr eigenes Ding, dann nahmen Lothar Meid und Olaf Kubier von Amon Düül II mit dem All-Star-Projekt UTOPlA ein selbstbetiteltes Album auf, das wesentlich schlanker daherkommt als der recht bombastische Progrock der Mutterband. Der hier zu hörende Song „Deutsch Nepal“ findet sich in einer anderen Version auch auf dem Düül-Album „Wolf City“. Inzwischen treffen sich die Ex-Kommunarden nur noch vor Gericht, um über die Rechte an diesen Aufnahmen zu streiten.

Der Name der Mannheimer Band KIN PING MEH stammt von einem chinesischen Sittenroman aus dem 16. Jahrhundert Dass sich Schlagzeuger Kalle Weber nach

dem Ende der Band 1977 zu dem unsittlichen Statement „Wenn du kein Popstar bist, bleibst du ein Arschloch“ hinreißen ließ, zeigt, dass die Band mit der Zeit einige Ideale über Bord werfen musste. Auf ihrem ersten selbstbetitelten Album von 1971 mischten sie noch in völliger Freiheit Jam-Sessions, Studio-Experimente und Popsongs, später entwickelten sie sich zu einer weniger spannenden Hardrock-Formation.

Auch ELECTRIC SANDWICH bezogen ihre Magie aus langen, häufig stark mellotron- und saxofonlastigen Improvisationen zwischen Jazz und Psychedelia. Ab und zu schlich sich auch eine Spur Blues ein. Der beste Track des einzigen, selbstbetitelten Albums, das originelle, längliche Instrumentalstück „China“, ist Fusion im besten Sinne.

MY SOLID GROUND aus Rüsselsheim sind eine der obskureren Krautrockbands. Doch ihr einziges Album aus dem Jahr 1971 gehört, obwohl viele der Stücke eher konventioneller Hardrock sind, zu den Klassikern des Genres. Das liegt vor allem an dem 13-minütigen Eröffnungsstück „Dirty Yellow Mist“ und dem zwischen Gitarrenkaskaden und dem hallenden Sprechgesang changierenden „The Executioner“.

„Wake Up“, das erste Album der Münchner Formation OUT OF FOCUS,klingt noch stark nach jazz- und bluesinspiriertem Prog Rock. Auf den Alben danach verabschiedeten sie sich von Rock-Riffs und Songformat. „See How A White Negro Flies“ ist das erste Stück des Debüts, das neben der Fusion von Jazz, Folk und Rock vor allem von Morgan Neumüllers sozial und politisch bewussten Texten geprägt wurde.

JANUS kommen zwar eigentlich aus England, waren aber lange Zeit in Krefeld beheimatet, und ihr Album „Gravedigger“ von 1972 ist von Kraut- und schwerem Progressive-Rock geprägt. Vor allem „Red Sun“ wurde zum Klassiker. Janus reformierten sich Ende der 80er Jahre – allerdings ohne nennbaren kommerziellen und kreativen Erfolg.

Mitglieder der neben Can wohl innovativsten und interessantesten Krautrockbands -Hans Joachim Roedelius und Dieter Moebius von Cluster und Michael Rother von Neu! – arbeiteten 1974 erstmals unter dem Namen HARMONIA zusammen. Eigentlich nur als Nebenprojekt gedacht, wurde Harmonia schon mit dem Debüt „Musik von Harmonia“ zu einer der wichtigsten Formationen des Genres. Brian Eno bezeichnete sie sogar einmal als „the world’s most important rock group“.

Diesen Titel mussten sie sich damals aber mindestens mit CAN teilen. Die Avantgardegeschulten Musiker hatten 1968 mit Velvet Underground und der Beatles-Nummer, „I’m The Walrus“ den Pop für sich entdeckt Während sie diese Quellen auf ihrem ersten Album „Monster Movie“ noch verstärkt anzapften, orientierten sie sich mit dem neuen Sänger Damo Suzuki an freieren Formen. Nach dem tastenden Übergangswerk „Soundtracks“ bildet das Doppelalbum „Tago Mago“ von 1971 mit seinem spröden Minimalismus den frühen Höhepunkt dieser Entwicklung.

Eine der prägendsten Krautrock-Bands waren AGITATION FREE aus Berlin. Schon 1967 gegründet, durchliefen viele das Genre prägende Musiker diese Formation. Durch diverse Umbesetzungen kam das erste Album von Agitation Free erst 1972. Das zweite Album, passenderweise „Second“ betitelt, klingt häufig ähnlich minimalistisch wie Can. Das vergleichsweise recht rockige „Haunted Island“ endet mit einer Rezitation von Edgar Allan Poes „Dreamland“.

Vieles auf dem beim legendären Brain-Label erschienenen ersten und einzigen SPERRMÜLL-Album von 1973 klingt noch wie konventioneller Hardrock, doch Stücke wie das hier ausgewählte „No Freak Out“ lassen die famosen Hawkwind, ja gar Jimi Hendrix anklingen. Bevor UDO LINDENBERG mit seinem Panikorchester auf der Andrea Doria durchbrannte, spielte er als Schlagzeuger mit Free Action, Passport und anderen allerhand Krautrockiges und Fusionlastiges. Auch sein erstes Soloalbum „Lindenberg“ klingt eher nach Kin Ping Meh als nach dem Panikpräsidenten.

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