45RPM von Wolfgang Doebeling

Xmas 1995, ein Fest für Nekrologen. Pietätlos fleddert die Pop-Industrie ihre Leichen. Die Exhumierungswelle rollt und die Charts riechen nach Verwesung. Was für ein Gruselkabinett: Freddie Mercury muß gewaltig aus dem Jenseits kitschen und Elvis vom Himmel hoch den Pelvis schwingen, während er sich live durch „The Twelfth Of Never“ labert und lallt. Great sales, poor souls. Am schlimmsten trifft der schamlose Verwertungwahn aber John Lennon, der im Grabe rotiert ob der Dreistigkeit der hinterbliebenen Pilzköpfe. „Free As A Bird“ (EMI) ist einfach lausig, ungeachtet der Moral und Yokos Sinn fürs Geschäftliche. Der Song ist mäßig, und Lennon war sich dessen wohl bewußt, weshalb er das Demo-Tape auch in einer Schublade verschwinden ließ. Es brauchte die Trüffelnase seiner Ex, um es aufzuspüren. McCartneys Sülze, Harrisons Lethargo und Starrs stupides Klopfen brachten den mageren Vogel vollends zur Strecke. „Es klingt wie die BEATLES“, freut sich Ringo. Ja, genau. 1,5

Einem möglichen Fiasko entgingen die Rolling Stones: Weil der neue James-Bond-Darsteller bekennender Stones-Fan ist, wurden sie ersucht, den Titelsong zum aktuellen Bond-Spektakel beizusteuern. Für lumpige vier Millionen Dollar. Nicht annähernd genug für Jagger, der vor versammelter Presse abfällig nölend „Live and let die, Goldeneye“ extemporierte und flachsend hinzufügte, es müßte schon ein bißchen mehr dabei herausspringen. Nachvollziehbar, wenn man von Bill Gates den dreifachen Betrag bekommen kann für einen dreiminütigen Auszug aus dem Back-Katalog. So kam TINA TURNER in den Genuß einer weit geringeren Summe, die sie sich obendrein noch teilen muß mit den Verfassern, dem allesfressenden Gespann Bono/Edge. Für eine Bond-Melodie ist ihr „Goldeneye“ (EMI) gut gelungen, routiniert zwar, aber passend plakativ intoniert. 2,0

Mit Brian Eno betreiben U2 die PASSENGERS, und für ihr Weihnachts-Rührstück „Miss Sarajevo“ (Mercury) gelang ihnen der Crossover-Coup, den omnipräsenten Knödel-Tenor Santa Pavarotti vor ihren Schlitten zu spannen. Ein Fest zwar für Kassen und Konten, aber leider keines für Augen und Ohren. 2,0

Genug der großen Namen mit schwachen Singles. Die hörenswerten 43s kommen in diesem Monat von Namenlosen auf obskuren Labels: „Cosmic Dick“ (Dragster) von CWEN MARS ist Westcoast-Punk, trashig, melodisch, direkt Produziert hat man staune – derselbe semi-legendäre Richard „Dick“ Podolor, der bereits vor 40 Jahren auf seinem Radio-Label nicht wenige Rock & Roll-Kleinode unter die Leute brachte. Fürwahr Generationen-übergreifend. 3,5

Aus dem reichen Fundus famoser Fifties-Rockabilly-Originale bedienen sich THE RI-CARDOS aus dem englischen Portsmouth für ihre EP „Don’t Mean Maybe Baby“ (Raucous). Der Titelsong stammt von Alvis Wayne, während sich „Hypnotised“ samt Steel-Guitar-Swing als eigene Nummer entpuppt. Good rockin‘ stuff. 3,5

Ebenfalls aus England, aber mehr der Neuzeit verpflichtet sind COTTONMOUTH. „Stand By Your Man“ (Fire) ist nicht der Tammy Wynette-Heuler, sondern ein von sehnigen und leicht dissonanten Gitarren getriebenes Stück musikalischer Gewißheit und seelischer Konfusion. Eine Band mit Potential. 3,0

Definitiv mehr britisch als amerikanisch klingen THE INTER-VIEWERS aus Vancouver. „Standing Proud“ (Tall Trees) könnte in London zur Zeit des Pub-Rock entstanden sein und ist zentriert um ein wunderbares Gitarren-Motiv, das von Richard Lloyd stammen könnte und viel zu fein zu sein scheint für die Rabauken-Rhydim-Section. Der Text ist früher Elvis Costello, zwar nicht auf „Alison“-Niveau, aber doch damned dose. 4,0

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